Fenster ohne Aussicht (eBook)
224 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61533-3 (ISBN)
Dror Mishani, geboren 1975 in Cholon bei Tel Aviv, ist ein israelischer Schriftsteller und daneben Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt, seine ?Avi Avraham?-Krimi-Serie wurde mehrfach verfilmt, und von dem Bestseller ?Drei? ist eine internationale Serienverfilmung in Vorbereitung. Dror Mishani lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.
(7.10.–14.10.2023)
La grande guerre a commencé. Samstag, sechs Uhr morgens. Ich wache im Hotel in Toulouse auf und sehe, es ist eine Nachricht von Martha gekommen: »Guten Morgen. Hier geht’s drunter und drüber, aber so richtig.« In diesem Moment, ehe wir telefonieren, bin ich sicher, bei uns zu Hause ist irgendetwas passiert. Etwas, das nur uns betrifft. Vielleicht ist die Waschmaschine schon wieder kaputt und hat die Wohnung unter Wasser gesetzt. Vielleicht ist eines der Kinder krank. Als ich Martha anrufe, erzählt sie mir, sie seien vom Luftalarm geweckt worden und säßen jetzt im Schutzraum. Aus Gaza kämen sehr viele Raketen.
In Toulouse ist es noch dunkel. Ich stehe langsam auf, putze die Zähne. Noch habe ich den Plan nicht abgeschrieben, zu einer morgendlichen Joggingrunde am Ufer der Garonne aufzubrechen, vor einem langen Tag und unzähligen Lesungen und Veranstaltungen auf dem Krimifestival, das der Grund meiner Reise ist. Aus Gaza werden immer mal wieder Raketen auf Tel Aviv abgefeuert, bestimmt alle paar Monate. Und meine Frau Martha ist es, obwohl nicht Israelin, schon gewohnt, mit den Kindern in den Luftschutzraum zu gehen. Außerdem gibt es noch den Iron Dome, der Tel Aviv schützt und die Raketen in aller Regel am Himmel abfängt.
Erst als ich den Computer anschalte und auf israelische Nachrichtenseiten gehe, fange ich an zu verstehen, dass diesmal etwas anderes los ist. Ein Video wird wieder und wieder ausgestrahlt, weil Fernsehsender und Nachrichtenportale noch kaum Informationen haben über das, was sich im Süden des Landes abspielt. In dem Video sieht man einen weißen Pick-up mit Hamas-Kämpfern, die Uniformen tragen, denen der israelischen Armee nicht unähnlich. Der Pick-up hält mitten in der Stadt Sderot, vor der Polizeistation, die Bewaffneten springen herunter und schießen in alle Richtungen. Niemand erwidert das Feuer. Ein Privatwagen gerät in die Straße und kommt neben dem Pick-up zum Stehen. Einer der Bewaffneten tritt zu dem Wagen und richtet den Fahrer hinter dem Steuer hin.
Nach und nach kursieren weitere Videos. Einige sind von Israelis aufgenommen, von Balkonen aus oder durch die Sonnenblenden vor den Fenstern ihrer Wohnungen, andere von den Terroristen selbst. Man sieht Männer in Uniform – teilweise auf weißen Pick-ups, teilweise auf Motorrädern oder zu Fuß –, die den Grenzzaun des Gazastreifens durchbrechen und ungehindert nach Israel eindringen. Sie tragen Maschinengewehre, Granatwerfer und Munitionsgurte. Laufen durch die Straßen israelischer Ortschaften – und schießen wahllos um sich.
Reporterinnen und Moderatoren in den Studios verstehen nicht, was gerade geschieht. Hunderte von Raketen gehen weiterhin überall im Land nieder. Wo ist die Armee? Gerüchte machen die Runde, Terroristen seien in Kibbuzim eingedrungen und hätten Armeestützpunkte unter ihre Kontrolle gebracht. Einwohner aus dem Süden rufen bei Fernsehsendern an, werden live zugeschaltet und berichten flüsternd, sie seien in Schutzräumen gefangen, hörten vor dem geschlossenen Fenster Stimmen auf Arabisch – und Schüsse. Erst im Nachhinein werden wir begreifen, dass wir Zeugen eines Massenmords an Zivilisten werden, live übertragen. »Kommt und holt uns hier raus«, ruft eine Frau weinend. »Warum kommen keine Soldaten, um uns zu retten?« Aus dem Schutzraum, in dem sie sich mit ihren Kindern versteckt hält, hört sie, wie Terroristen in ihr Haus eindringen, es durchsuchen, sich der Schutztür nähern, die Klinke niederdrücken und versuchen, die Tür aufzuschießen. Niemand kommt ihr zu Hilfe. Ich schicke eine kurze Nachricht an Marie-Caroline Aubert, meine Freundin und Lektorin beim französischen Verlag Gallimard, um sie zu warnen, dass ich meine Reise womöglich abkürzen muss. Schreibe: MERDE. LA GRANDE GUERRE A COMMENCÉ.
Zurück nach Hause? Um zehn, als ich beim Veranstaltungszelt des Literaturfestivals eintreffe, ist mir bereits klar, dass ich meinen Rückflug nach Tel Aviv, der übermorgen von Paris gehen soll, vorverlegen muss. Immer mehr Raketen fliegen in Richtung Tel Aviv, und Martha und die Kinder sind nach wie vor im Schutzraum. Ich habe ein schlechtes Gewissen – die Organisatoren des Festivals haben mein Flugticket und Hotel bezahlt, und jetzt bitte ich noch vor der ersten Lesung darum, früher abzureisen. Deshalb wohl bausche ich das Ausmaß der Attacke auf, als ich ihnen die Lage schildere. (Auf den französischen Nachrichtenseiten fangen sie gerade erst an, darüber zu berichten.)
Es habe Dutzende von Toten gegeben, man spreche bereits von unserem 9/11, und die Antwort der Armee werde nicht auf sich warten lassen und massiv ausfallen. Ein Krieg stehe unmittelbar bevor. Innerlich aber glaube ich noch gar nicht recht, was ich da erzähle. Auch wenn ich Marie-Caroline etwas vom »GROSSEN KRIEG« geschrieben habe. Ich habe das Gefühl, zu flunkern oder zu übertreiben, vielleicht, weil ich in jenen Stunden die Dimension des Mordens und den Abgrund der Katastrophe, in die es uns stürzen wird, nicht wahrhaben will. Vielleicht ist es trotz allem nur ein Anschlag mehr, auf den unsere Luftwaffe mit Bomben auf Ziele im Gazastreifen reagieren wird – und das war’s? Aber jedes Mal, wenn ich auf eine der israelischen Nachrichtenseiten gehe, stelle ich fest: Ich habe den Festival-Leuten nicht nur nichts vorgemacht, die Lage ist viel schlimmer, als ich sie ihnen – und mir selbst – geschildert habe. Die Raketen waren nur ein Ablenkungsmanöver, unterdessen dringen Terroristen weiter in Ortschaften und Städte im Süden des Landes ein und bringen wahllos Zivilisten um. Unweit der Grenze zum Gazastreifen hat ein großes Open-Air-Musikfestival stattgefunden, die Terroristen richten ein Massaker unter den Scharen von Feiernden an, die versuchen, um ihr Leben zu fliehen. Die Armee ist noch immer nicht auf der Bildfläche erschienen, es sind vor allem Polizisten oder Privatpersonen, die gegen die Hamas-Männer kämpfen, mit Pistolen oder Messern oder auch nur mit bloßen Händen.
Ich sitze derweil noch immer am Stadtrand von Toulouse in einem Veranstaltungszelt, hinter einem Tisch, auf dem meine Bücher in Stapeln liegen. Signiere sie für Leserinnen und Leser, die eines davon kaufen, antworte freimütig jedem, der mit mir über Kriminalliteratur sprechen möchte. Alle paar Minuten verdrücke ich mich in die Raucherecke, um die Nachrichten zu checken und zu erfahren, ob die Organisatoren des Festivals einen früheren Flug nach Tel Aviv für mich gefunden haben. Sie buchen Flüge bei jeder nur möglichen Airline. Und alle werden innerhalb kürzester Zeit annulliert.
Als ich S. anrufe, eine gute Freundin, um zu hören, wie es ihr geht, erzählt sie mir, sie sei verzweifelt auf der Suche nach Flugtickets, um mit ihrer Familie das Land zu verlassen, egal wohin, und dass es keine Tickets mehr gebe, alle seien innerhalb von Minuten ausverkauft gewesen. Zum ersten Mal denke ich, dass es vielleicht ein Fehler ist zurückzufliegen. Ich könnte ebenso gut in Frankreich bleiben, und Martha und die Kinder fliegen her. Oder sie könnten versuchen, Flugtickets nach London zu kriegen, und zu Marthas Eltern fahren, und ich würde dann den Zug nehmen und sie dort treffen. Wenn der Abgrund der Katastrophe, in den wir stürzen, so bodenlos ist, muss ich sie und die Kinder dann nicht dort herausholen?
Ich rufe Martha an und bitte sie, im Schlafzimmer mit mir zu reden, damit die Kinder unser Gespräch nicht mithören. Ich frage, wie es ihr geht. Sie und unsere Tochter Sarah kleben seit dem Morgen im Schutzraum vor dem Fernseher, und die Bilder seien grauenerregend. Sarah ist auch in den sozialen Netzwerken unterwegs und sieht dort offenbar veritable Horrorvideos. Sie halte vor Martha verborgen, was sie dort sieht: Menschen, die live und vor laufender Kamera hingerichtet werden. Leichen, die in Brand gesteckt werden. Es heißt, es gäbe auch Videoaufnahmen von brutalsten Vergewaltigungen.
»Willst du mit den Kindern hierherkommen?«, frage ich und hoffe, sie nicht zu sehr in Panik zu versetzen.
»Meinst du, wir sollten?«
»Ich weiß nicht.«
Ich weiß es nicht. Was ich befürchte, will ich nicht aussprechen. Danach rufe ich meinen Bruder Ariel an. Er war in einer Kampfeinheit, hat im Libanon gedient, danach seinen Reservedienst unter anderem beim Inlandsgeheimdienst SHABAK geleistet. Er ist der Mensch, mit dem ich mich beraten kann. Er hat zwei kleine Töchter und schwankt vielleicht auch, ob sie bleiben oder fliehen sollen.
»Wann kommst du zurück?«, fragt er.
»Übermorgen. Ich versuche, früher zu fliegen, aber im Moment wird ein Flug nach dem nächsten annulliert.«
»Und hast du dort einen Ort, wo du bleiben kannst?«
»Ich denke schon.«
»Dann komm erst mal nicht zurück«, bestimmt er.
Als ich gegen Abend wieder im Hotel bin, gibt es bereits Videos von Entführungsopfern. Eine junge Frau (später erfahre ich, sie heißt Noa) wird auf einem Motorrad nach Gaza verschleppt und streckt die Hand nach ihrem Freund aus, der auf einem anderen Motorrad entführt wird. Im Fernsehen wird geraunt, die Zahl der Todesopfer könnte in die Hunderte gehen, aber es herrscht allgemein große Ungewissheit. Jetzt, da das Ausmaß der Katastrophe sich allmählich abzeichnet, kommt es einem vor, als sollte es nicht an die Öffentlichkeit. In einem Teil der Kibbuzim und der Armeestützpunkte dauern die Kämpfe noch immer an, nach...
Erscheint lt. Verlag | 24.7.2024 |
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Übersetzer | Markus Lemke |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | 7. Oktober • Drei • Frieden • Gaza • HAMAS • Israel • Jüdisch • Krieg • Krise • Nahostkonflikt • Netanyahu • Palästina • Terror |
ISBN-10 | 3-257-61533-7 / 3257615337 |
ISBN-13 | 978-3-257-61533-3 / 9783257615333 |
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