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Ein menschlicher Fehler (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-28197-4 (ISBN)
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Erst wenn sich abends die Straßen Seouls allmählich leeren, verlässt die Psychotherapeutin Hae-Su den Schutz ihres Hauses. Niemand soll sie sehen, eine Frau, die alles verloren hat: ihre Arbeit und Reputation, ihren Partner, ihre Freunde. Eine unbedachte Äußerung bei einem Fernsehauftritt hat sie zur Ausgestoßenen gemacht. Doch dann trifft sie bei einem ihrer nächtlichen Spaziergänge ein junges Mädchen, das sich um eine Straßenkatze kümmert und genau wie Hae-Su ihren Platz in einer Gesellschaft sucht, die keine Fehltritte akzeptiert. Aus scheuer Neugier wird eine tiefe Freundschaft, von der sie beide nicht wussten, wie sehr sie ihnen fehlte. Kim Hye-jin erzählt voller Empathie von den Ausgeschlossenen und Strauchelnden, von der Bedeutung sanftmütiger Gesten - und von unvermuteten Neuanfängen.

Kim Hye-jin, geboren 1983 in Daegu, ist eine koreanische Schriftstellerin. Für ihre Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2020 mit dem Daesan Literaturpreis, dem wichtigsten seiner Art in Südkorea. Mit 'Die Tochter' erschien 2022 erstmals ein Roman von Kim Hye-jin auf Deutsch.

Die Vorhersage, dass die Regenzeit bevorstehe, erfüllt sich seit mehreren Wochen nicht.

Am Montagvormittag sucht sich Hae-Su im Restaurant einen Platz mit Blick auf den Eingang. Der Himmel ist wolkenfrei. Durch das Glas kann man die helle Straße sehen.

Montagmorgen. Wochenbeginn. Zeit, sich ein Herz zu fassen und voller Entschlossenheit und Tatendrang einen neuen Anlauf zu unternehmen. Ein guter Moment, um die Misserfolge und Fehler der vergangenen Wochen abzustreifen und von vorne anzufangen. Zeit, ein Feuer der Hoffnung und Erwartung zu entfachen.

Sie hat nichts dagegen, Tae-Dsu Montag in der Früh zu treffen. Jetzt brauchen sie sich nicht mehr an den Wochenenden zu begegnen, an denen ihre Selbstkontrolle nachlässt und alles emotional aufgeladen ist. Ihre Beziehung ist nicht mehr von der Art, dass sie sich gegenseitig den Trost spenden oder die Ermunterung zuraunen, die man so dringend bräuchte. Vorne am Eingang sieht sie Tae-Dsu, wie er die Tür öffnet und eintritt.

»Wann bist du gekommen? Du bist ja früh dran.«

»Gerade eben.«

Die beiden überspielen die Befangenheit, die zwischen ihnen herrscht, und begrüßen sich betont beiläufig. Ein Kellner kommt mit der Speisekarte. Hae-Su gibt ihre Bestellung auf. Die Getränke werden zuerst serviert und Tae-Dsu schenkt ihr ein. Die Bewegungen der beiden folgen einer eingespielten, perfekten Choreographie, die jeden unangenehmen oder peinlichen Moment vermeidet.

Sie reden eine Weile über das Haus. Die meiste Zeit geht es um die Aufteilung. Ihre Meinungsverschiedenheiten zu dieser Angelegenheit haben sie schon lange beigelegt. Die offene Frage ist das Timing. Sie wissen, dass ihnen nichts übrigbleibt, als abzuwarten. Übertriebene Rücksichtnahme, irrationales Misstrauen, unbezwingbarer Egoismus, gegen den jeder Anflug von Selbstlosigkeit chancenlos ist. Beide sind darauf bedacht, nichts davon nach außen dringen zu lassen.

Nachdem das Essen serviert ist, wechselt das Gesprächsthema.

»Wie hast du dich in Hinblick auf den Job entschieden? Was hast du vor?«, fragt Tae-Dsu.

»Noch gar nichts«, antwortet sie.

Tae-Dsu rührt sein Getränk mit dem Strohhalm um. Die Eiswürfel schlagen klappernd ans Glas.

»Hast du nicht gesagt, du wollest mit Lee, dem Geschäftsführer, darüber sprechen? Ich dachte, du seist bereits wieder im Dienst.«

»Über die Kündigung hat das Therapiezentrum entschieden, ich wurde lediglich in Kenntnis gesetzt. Ich habe Informationen über den Entscheidungsprozess angefordert. Ich hätte gerne eine Erklärung für das, was diese … Cho Min-Young gesagt hat.« Beinahe hätte Hae-Su ein Schimpfwort gebraucht. Sie fühlt sich von Min-Young hintergangen. Mit einem Messer schneidet sie das dicke Sandwich in zwei Hälften. Die Klinge zerteilt das belegte Brot und kratzt dabei nervös über die Oberfläche des Tellers. Tae-Dsu sieht sie missbilligend an. Ihr ist das egal.

»Kein Grund, sich so aufzuregen. Versetz dich doch mal in die Lage des Geschäftsführers, der ist auch enormem Druck ausgesetzt. Es ist ja nicht so, dass es dort nur ein Therapiezentrum gibt. Du manövrierst dich immer in eine Sackgasse. Das ist nicht gut für dich.«

»Gibt es denn überhaupt noch irgendeine gute Option für mich?«

»Wenn du derzeit keine Option hast, kannst du dir eine schaffen. Das kann gelingen.«

Welche denn, wie denn? Sie schluckt diese Fragen hinunter, denn sie sitzt nicht hier, um sich mit billigen Ratschlägen trösten zu lassen. Zumal wenn sie sich vergegenwärtigt, dass der Mann, der ihr gerade mit der Distanz einer unbeteiligten Person diese Ratschläge erteilt, einmal ihr Lebensgefährte war.

»Sei realistisch. Akzeptiere, was du hinnehmen musst, und vergiss, was du vergessen musst. Das ist der Weg zu einem Neuanfang, ganz gleich, wie er aussieht.«

Sie verkneift sich ihre Kommentare: Was hast du selbst akzeptiert? Was hast du denn vergessen? Womit hast du neu begonnen? Sie kann Tae-Dsus Worte nicht ernst nehmen. Am liebsten möchte Hae-Su ihm seine Plattitüden im Mund umdrehen, ihn mit sarkastischen Bemerkungen sticheln und sich mit ihm anlegen.

»Jeder durchlebt schwere Zeiten im Leben. Sag dir einfach, dass du gerade in so einer Phase steckst. Es wird gewiss nicht leicht, aber du wirst gestärkt daraus hervorgehen. Hast du das nicht selbst oft in deinen Therapiegesprächen gesagt?«

Warum redet dieser Mann heute so viel?

Irgendwann reißt ihr doch der Geduldsfaden. Hae-Su will wissen, warum er sich gerade in einer für sie so schwierigen Zeit dazu entschieden hat, sie zu verlassen. Sie fragt das nicht ganz direkt, dennoch begreift Tae-Dsu schnell, worauf sie hinauswill.

»Wechsle nicht unnötig das Thema. Das ist eine ganz andere Angelegenheit.« Tae-Dsus Stimme versucht sanft, einen Schlussstrich unter die Debatte zu ziehen. Hae-Su wird dagegen immer lauter.

»Nein. In dem Augenblick, als du von den schweren Zeiten angefangen hast, war es kein unabhängiges Thema mehr. Wenn du auch nur ein Fünkchen an mich gedacht hättest, hättest du unsere Beziehung nicht ausgerechnet jetzt beendet. Du wolltest einfach nicht. Du konntest es nicht mehr ertragen, wie die Leute hinter unseren Rücken schlecht über mich und dich redeten. Es war dir lästig, den lächerlichen Fehler deiner Frau zu rechtfertigen, wo sie doch regelmäßig über Moral und Anstand schwadroniert hat. Muss ich noch mehr sagen?«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Die Dinge liegen anders, als du denkst.«

»Tatsächlich? Dann erklär es mir! Aber sag bloß nicht, dass es für dich schwierig oder belastend ist, sondern nenne mir einfach den wahren Grund.«

»Hör bitte auf! Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir zu streiten.«

»Kannst du nicht bitte einmal ehrlich sein?«

»Ehrlich sein? Inwiefern denn?«

»Sag doch offen die Wahrheit, wenigstens dieses eine Mal. Oder gib zumindest zu, dass ich recht habe mit dem, was ich gesagt habe. Hast du Angst, mir recht zu geben? Wovor solltest du dich in dieser Situation fürchten?«

»Ich weiß nicht, was du von mir hören willst, aber es ist vorbei. Es hat doch keinen Sinn, weiter darauf herumzureiten.«

Das Gespräch wird hitziger. Sie macht einen Schritt vor, Tae-Dsu weicht einen zurück. Der Abstand zwischen ihnen bleibt gleich. Wenn eine Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreicht, brechen alle Dämme und menschliche Abgründe tun sich auf. Hae-Su hat das schon so oft erlebt: impulsive Wut auf den jeweils anderen, scharfe Anschuldigungen und ein endloses Hin und Her. Ist davon noch etwas übrig? Noch ein winziger Rest?

Sie lässt nicht locker. Groll und Schuldzuweisungen sind nicht die einzigen Dinge, die in ihr wüten. Da ist auch eindeutig ein gewisses Flehen und Bitten.

»Glaubst du nicht, wir sollten wenigstens einmal offen darüber reden? Findest du es nicht komisch, dass wir hier an einem Montagmorgen wie Geschäftsleute gekleidet dasitzen und auf Sandwiches herumkauen, die wir nicht einmal mögen?«

»Was meinst du mit nicht mögen? Ich mag Sandwiches durchaus.« Tae-Dsu sieht sie mit ausdrucksloser Miene an und fügt hinzu: »Es ist nur so, dass du nicht weißt, was ich mag.«

Seine Worte nehmen ihr den Wind aus den Segeln. Der Kellner kommt und füllt die Wassergläser nach. Die beiden konzentrieren sich schweigend auf ihr Essen. Salat, Salami und Oliven. Hae-Su schiebt alles einzeln in den Mund und schweigt.

Tae-Dsus Worte ergeben durchaus Sinn. Von seinem Standpunkt aus betrachtet. Tae-Dsus Entscheidung ist allein seine Sache. Sie darf sich letztendlich nicht einmischen. Es ist ja nicht so, dass sie das nicht wüsste.

Nach einer Weile wechselt sie das Thema.

»Wie geht es dir zurzeit? Ist alles so weit in Ordnung?« Sie nimmt sich zusammen und versucht, das Gespräch so fortzusetzen, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Tae-Dsu kommt ihr gerne entgegen. Die beiden erkundigen sich nach der Familie des jeweils anderen, die nun nichts mehr miteinander verbindet, und nach alltäglichen Vorkommnissen, während Hae-Su hilflos mitansieht, wie das Gespräch seicht dahinplätschert.

Möglicherweise hat der Verlauf ihrer Beziehung gar nichts mit den Ereignissen zu tun, die sie durchgemacht hat....

Erscheint lt. Verlag 22.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-446-28197-5 / 3446281975
ISBN-13 978-3-446-28197-4 / 9783446281974
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