Schuldner der Zeit (eBook)
196 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-0114-5 (ISBN)
Klaus Neff, zweimaliger Preisträger des Marburg-Awards, hat Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Außerdem sind folgende Erzählbände von Klaus Neff erhältlich: * Eindringlinge * An derselben Stelle des Flusses * Der Auserwählte Leseprobe Reise-Reportage: >> Das überrealistische Stifterbild eines Kanonikus, der, in seiner ganzen hinfälligen Siebzigjährigkeit, in schlichtem Weiß gewandet, neben der Madonna kniet, in den gefalteten Händen die Bibel und eine Brille. Die Madonna hält das Jesuskind in den Armen, welches ihm, dem Stifter, wie als freundlichen Gruß, ein Blumensträußchen reicht. Er kann es nicht annehmen, er hat ja die Hände voll mit Bibel und Brille und würde auch niemals aus seiner knieenden Haltung herausfinden, die Adern an den Schläfen schwellen ihm ja jetzt schon, beim Nichtstun. Die Wange legt sich in dreifache Falten, das Gesicht ist halb streng, halb altersmilde, er scheint nicht mehr zu wollen als zu knien, und das Jesuskind wird bis in alle Ewigkeit sein Sträußchen nicht loswerden, auch die Maria wird nichts tun, was die Szene beschleunigt oder verändert, sie scheint eher abfällig und spitz aus den Augenwinkeln heraus an dem irdischen Störenfried vorbeizublicken.<< Leseprobe Feuilletons: >> Am häufigsten sind die Zeitungsverkäufer. Oft liegt ihre Ware auf Tapeziertischen oder gar noch kleineren Ständen aus. Die Boulevardpresse dominiert. Offensichtlich hat der typische Bahnfahrer eine Neigung zu leichter, großbuchstabiger Kost. Oder ist das Abonnententum bei Lesern seriöser Blätter weiter verbreitet? Ein Schälchen mit Rückgeld steht entweder offen mit auf dem Tisch oder der Verkäufer häuft in langweiligen Momenten (und derer gibt es viele, wenn nicht ausschließlich) die Münzen zu Türmchen, deren Höhe fortwährend schwankt, manchmal in wolkenkratzerische Regionen reicht und deshalb geteilt werden muss, die aber auch rasch zusammenschrumpfen kann, besonders wenn mit Papiergeld gezahlt wird. Jedenfalls ist die lebhafte Änderung der Türmchen ein fortwährender Anlass zur Zerstreuung und Ergötzung der Verkäufer. Andere, misstrauischere Charaktere haben das Rückgeld in einem Gürtelbeutel deponiert, tragen es vor dem Bauch herum wie Kängurumütter ihr Junges und betasten in dauerschwangerischer Freude die Prallheit des Stoffes. <<
Biotop S-Bahn
Wer den menschlichen Inhalt eines morgendlichen S-Bahnwagens als repräsentativ für die Bevölkerung ansieht, kann sich leicht täuschen. Frühaufsteher begegnen vor allem Vertretern handwerklicher Berufe. Selten allein, sitzen sie in Gruppen zu zweien oder dreien zusammen, haben die weißfleckige Malerhose oder den zerschabten Maurerlatz an. Die Unterhaltung ist wortreich, dialektlastig und stockt selten. In der Tasche ragt neben Zollstock oder Schraubenzieher nicht selten eine der hiesigen Boulevardzeitungen heraus und fügt mit ihren roten, großformatigen Lettern der eher tristen Tracht einen auffallenden Farbklecks hinzu. Die Bierdose (selten Flasche) ist ein häufiger Begleiter dieses Menschenschlags und wird nach Entleerung ordentlich unter den Sitz gestellt. Überflüssig zu erwähnen, dass man sie bereits in den ersten Nachmittagszügen auf dem Rückweg antrifft, wieder mit Bierdose, wieder mit Zollstock oder Schraubenzieher, selten jedoch mit Zeitung, die ihrer Tagesaktualität gemäß unbrauchbar geworden ist.
Frauen sieht man etwas häufiger als Männer in der S-Bahn. Sei es, dass das weibliche Geschlecht intelligenterweise eine Abneigung gegen Staus hat, sei es, dass die Frau im morgendlichen Disput um das Auto stets dem Mann unterliegt - man trifft sie in allen Altersklassen an. Ihre eigene Stoßzeit haben die Schüler, die pulkartig in die Wagen strömen, jeden freien Platz in Beschlag nehmen und in lärmende Wortgefechte ausbrechen, welche auch nach dem Aussteigen noch in den Ohren der Mitreisenden nachhallen. Selten, aber von ergreifender Rührung sind jene Schüler (singuläre Erscheinungen), die über Heften oder Schulbüchern brüten und so darin vertieft sind, dass sie fast die Haltestation verpassen. Meist fahren sie einen oder gar zwei Züge vor den Lärmbengeln.
Ein unrühmliches Bild für die Stadt und ihre soziale Verantwortung geben die Obdachlosen ab. Sie halten sich natürlich nicht an feste Fahrzeiten. Man sieht sie morgens seltener als abends. In beiden Fällen werden sie von König Alkohol begleitet, und zwar in seiner hochprozentigsten Form. Dem Klischee merkwürdig entsprechend bewahren sie ihren Trinkvorrat in einem Plastikbeutel auf. Darin klirren Wodkaflaschen, Liköre und die unvermeidliche Bierdose um die Wette und gemahnen ihren Besitzer, sich des ständigen Durstes durch einen kräftigen Schluck zu entledigen. Gelegentlich neigen sie zu Gesprächigkeit und reden mit sich selbst oder mit den Mitreisenden - wenn es denn jemand gewagt hatte, sich in ihre Nähe zu setzen. Trotz ihrer Erregtheit bleiben sie friedlich. Manche schlafen weitausgestreckt in verdreckten Hosen. Andere steigen scheinbar zielgerichtet an einer bestimmten Haltestelle aus. Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sofort in den Zug in Gegenrichtung einsteigen. So wie ihr Leben zirkulär verläuft, so erwartet man auch von ihrer Fahrt, dass diese sie nicht ans Ziel bringt, sondern sie nur in sinnloser Bewegung hält.
Am meisten Verlass ist auf eine besondere Bevölkerungsschicht. Sie ist oft mit dem Fahrrad unterwegs (wie der Verfasser), sie tritt selten in Gruppen auf (wie der Verfasser). Ein Buch ist meist zur Zerstreuung parat (wie beim Verfasser), und ihr Erscheinungsbild reicht von legerer Stilkenntnis bis zum Geschniegeltsein. Sie gieren beim Einsteigen nach fahrradkompatiblen Sitzplätzen und scheuen sich kaum, ihr Fahrrad auf intime Weise an Zweiräder anderer Leute anzulehnen. Ihre Gesichter sind nachdenklich. Sie haben den Glanz der Jugend eingebüßt. Obwohl sie noch als jung gelten, liegt Ernst und hoffnungsarme Abgespanntheit in ihren Augen. An ihrer Haltestelle teilt sich die Gruppe auf: in die Gemächlichen, die ihr Fahrrad den Bahnsteig entlangschieben, und in die Eiligen, die sich sofort aufschwingen und an den Fußgängern vorbeirauschen. Auf der Strecke zum Campus trennen sie sich weiter auf, zerdehnt sich die Population der Doktoranden. Wie Perlen auf einer auseinandergezogenen Gummischnur sieht man sie, nunmehr vereinzelt, ihrem Arbeitsplatz entgegenstreben. Sie treffen meist erst nach neun Uhr, tendenziell zehn Uhr, dort ein. Genie braucht eben Schlaf.
Eine S-Bahnhaltestelle ist nicht nur im verkehrstechnischen Sinne ein Umschlagplatz. Zwar ist ihre Hauptaufgabe, Menschen in die Waggons einzusaugen und an gegebenem Ort wieder auszuspucken. Aber so wie große Tiere immer auch kleine Tiere anziehen, Schmarotzer, Mitesser, Begleiter aus Hunger oder Schutz, so hat sich auch an S-Bahnhöfen ein ganz eigenes Biotop herausgebildet.
Am häufigsten sind die Zeitungsverkäufer. Oft liegt ihre Ware auf Tapeziertischen oder gar noch kleineren Ständen aus. Die Boulevardpresse dominiert. Offensichtlich hat der typische Bahnfahrer eine Neigung zu leichter, großbuchstabiger Kost. Oder ist das Abonnententum bei Lesern seriöser Blätter weiter verbreitet? Ein Schälchen mit Rückgeld steht entweder offen mit auf dem Tisch oder der Verkäufer häuft in langweiligen Momenten (und derer gibt es viele, wenn nicht ausschließlich) die Münzen zu Türmchen, deren Höhe fortwährend schwankt, manchmal in wolkenkratzerische Regionen reicht und deshalb geteilt werden muss, die aber auch rasch zusammenschrumpfen kann, besonders wenn mit Papiergeld gezahlt wird. Jedenfalls ist die lebhafte Änderung der Türmchen ein fortwährender Anlass zur Zerstreuung und Ergötzung der Verkäufer. Andere, misstrauischere Charaktere haben das Rückgeld in einem Gürtelbeutel deponiert, tragen es vor dem Bauch herum wie Kängurumütter ihr Junges und betasten in dauerschwangerischer Freude die Prallheit des Stoffes. Die Zeitungen bleiben Tag für die Tag die gleichen, wenn auch die Schlagzeilen wechseln, und so sind auch die Verkäufer eine Konstante im oder vor dem S-Bahnhof. Man kann sich diese Leute gar nicht in anderer Tätigkeit vorstellen. Obwohl es wahrscheinlich ist, dass sie, wenn ihr Geschäft am frühen Vormittag erlahmt, in einen Zweitjob überwechseln, so haftet ihnen doch etwas Außenseiterisches an. Es gibt den mürrischen Rentnertyp, dessen Zeitungen preußisch-geometrisch ausgerichtet sind. Da sind die Forty-somethings, Gestalten, die am Zeitungsstand zuerst unwillkürlich gestrandet sind und sich daran klammerten und schließlich darin ihre Erfüllung gefunden haben. Gelegentlich sieht man sie ihre Kinder zur neuen Verkäufergeneration heranziehen. Es ist ein Familiengeschäft, und möglicherweise hat es eine dem normalen Arbeitnehmer entsprechende Tradition.
Geistige Nahrung ist nicht alles, was der S-Bahnfahrer benötigt. Auch für das leibliche Wohl ist gesorgt in Form von Obst- und Gemüseständen. In staunenswerter Eile bauen sich diese Stände frühmorgens gewissermaßen von selbst auf. Zahlreiche Hände tragen die Kisten und Beutel umher, holen Nachschub vom Großmarkt, entledigen sich des Kartonagenmülls. Der Obsthandel ist fest in türkischer, selten asiatischer Hand. Kaum sieht man Eingeborene als Besitzer dieser Stände. Meist sind es Familienunternehmen, und es scheint, dass es echte Familien eher bei ausländischen Mitbürgern als bei den Deutschen gibt. Ohne Scheu vor ihren mangelnden Sprachkenntnissen (obwohl sie bestimmt schon jahrezehntelang in dieser Stadt leben) preisen sie Bananen, „Knupperkirschen”, Obstüten zum Festpreis und „zuckersüße Erdbeeren” an. Sie sind so routiniert in ihrer Geschwätzigkeit, dass sie sich gleichzeitig marktschreierisch austoben können, den Wünschen eines Kunden Genüge tun und das Obst zusammensuchen und auswiegen, bei einem zweiten Kunden abkassieren und gleichzeitig die Orangenkiste von neuem auffüllen. Die Fingerfertigkeit beim Eintippen des Kilopreises auf der Waage ist bewundernswert. Es geht so rasch vonstatten, dass man als misstrauischer Kunde sich fragt, ob die Auberginen nun fünf neunundneunzig oder sechs neunundneunzig gekostet haben. Die ausgewogenen Preise werden im Kopf aufaddiert, nicht selten drängeln sich vier oder fünf Posten im Rechenzentrum des Verkäuferhirns und werden scheinbar zu einem fehlerfreien Ergebnis summiert.
Ein Verkauf illegaler Art findet sich auf fast allen Bahnhöfen. Es ist ein ethnisch gesäubertes Milieu, rasserein, geschlechterrein, denn es wird ausschließlich von männlichen Asiaten betrieben, zwischen zwanzig und vierzig Jahren, dürr, in viel zu weiten Lederblousons (in die die Ware gut reinpasst und das reichliche Wechselgeld). Ihre Ware sind Zigaretten, unversteuerte Zigaretten, aus Polen oder sonst irgendwoher. Sie schmecken gleich, haben den gleichen Aufdruck, der Prärie suggeriert oder Höckertierisches, sie haben nur nicht diesen kleinen Zoll- oder Steueraufkleber, jene briefmarkige Versicherung, dass man mit steuertechnisch reinem Gewissen die Zigaretten genießen kann. Und so wechseln für wenig Geld die Packungen den Besitzer, oft auch ganze Stangen. So abgemagert die Asiaten sind, so weit ihr Blouson auch ist, sie haben einen unerschöpflichen Vorrat. Ihre Deponien sind nahegelegene Mülleimer, Kartonagenhaufen (zum Beispiel von den Obstlern) oder nahes Gestrüpp. Nie sind sie allein, sondern positionieren sich mindestens zu zweit vor...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7597-0114-0 / 3759701140 |
ISBN-13 | 978-3-7597-0114-5 / 9783759701145 |
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