Schlaglicht (eBook)
256 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3646-3 (ISBN)
Runde um Runde beleuchtet Bullwinkel das Leben der Mädchen, die gegeneinander antreten: Eine wird von einem unheimlichen Erlebnis als Rettungsschwimmerin verfolgt; eine beruhigt sich selbst, indem sie die Nachkommastellen von Pi aufsagt. Eine hat ein lilafarbenes Muttermal auf der Lippe, das ihre Erfahrungen seit der Kindheit prägt.
In starker, muskulöser Sprache entsteht das Porträt von acht jungen Frauen, die in direkter Körperlichkeit alles geben, um gesehen zu werden und den Kampf ihres Lebens für sich zu entscheiden.
Rita Bullwinkel gilt als eine der interessantesten Stimmen der jungen amerikanischen Gegenwartsliteratur. Sie lebt in San Francisco, ist die Herausgeberin des Literaturmagazins Mc-Sweeney's und unterrichtet am California College of the Arts. 2022 wurde sie für ihr Schreiben mit einem Whiting Award ausgezeichnet. Im Sommer 2024 hat sie die Picador-Professur in Leipzig inne. »Schlaglicht« ist ihr erster Roman.
Christiane Neudecker lebt als freie Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin. Seit 2009 trainiert sie Kickboxen und moderiert als Ringsprecherin Kampfsport-Veranstaltungen. Sie hat »Schlaglicht« ins Deutsche übersetzt.
»Literarisch ein Glücksfall.« Christiane Neudecker, Deutschlandfunk 20240717
»Ein so fulminanter Roman, wie ich ihn seit Langem nicht gelesen habe.« Jonathan Lethem
»So frisch und stark. Mach Platz, amerikanische Gegenwartsliteratur, für eine tolle neue Stimme.« The New York Times
»Mit einer Sprache, die wie ein Schmetterling schwebt, und Enthüllungen, die wie eine Biene stechen, zieht Bullwinkel die Handschuhe der boxenden Mädchen und der Zeit ihres Aufwachsens aus und breitet sie in all ihrem Wunder, ihrem Humor, ihrer Gewalt und ihrer Herrlichkeit vor uns aus.« Oprah Daily
Andi Taylor ballt ihre Hände, schlägt auf ihren flachen Bauch und denkt dabei nicht an ihre Mutter, die mit ihrem kleinen Bruder zu Hause hockt, nicht an ihr Auto, das sie gerade mal so hierhergebracht hat, nicht an ihren Sommerjob als Bademeisterin im überfüllten Stadtbad, nicht an den Vierjährigen, den sie hat sterben sehen, den Vierjährigen, den sie quasi umgebracht hat, nicht an seine blau angelaufenen Wangen. Man sollte Teenager keine Kinder retten lassen. Es ist völlig egal, wie viele Erste-Hilfe-Kurse man belegt hat. Sie hat den Jungen mit ihrem abschweifenden Blick getötet. Auf seiner Badehose waren kleine rote Lastwagen. Er sah aus, als wäre er aus Plastik. Sie denkt nicht darüber nach, wie sich sein Oberschenkel anfühlte, als sie ihn, schon tot, vom Grund des Pools nach oben zog. Und wie leicht er sich greifen ließ, weil er so klein war. Sie sieht zur Dachluke hinauf, zu dem Licht, das von dort oben in dieses beschissene Gym fällt und sie denkt an die Fehler, die sie beim Kämpfen immer macht: ihre nachlässige Deckung, die faule Linke, die ihr wegsackt, wenn sie nicht daran denkt und ihr Gesicht nicht richtig schützt. Sie denkt darüber nach, wie Artemis Victor sie kriegen wird. Wenn Andi Taylor darüber nicht nachdenkt, ist der Kampf blitzschnell vorbei. Andi Taylor muss auf ihre Distanz achten und auf ihr Zentrum. Andi Taylor muss auf ihre Haltung achten.
Noch sitzen sie hier herum und beäugen sich. Sie kennen sich, sind aber nie gegeneinander angetreten. Sobald man der Jugendliga fürs Frauenboxen beitritt, zwingt einen dieser Pseudo-Sportverband 200 Dollar zu zahlen, für die man dann ein »kostenloses« Abo seines Magazins bekommt. Darin werden die Mitgliederinnen porträtiert, junge Boxerinnen, eine nach der anderen. Da sieht man dann, wer alles so herumschwirrt, selbst wenn sie aus dem hintersten Winkel des Landes stammen, und man kann sich ausrechnen, gegen wen man als Nächstes antritt und gegen wen diejenigen vorher angetreten sind und gegen wen die dann als Nächstes kämpfen und was ihre Hobbies sind, weil der Möchtegern-Journalist, der diese Artikel schreibt, der Meinung ist, dass das wichtige Infos sind, die man in einem athletischen Steckbrief dringend braucht. Weswegen in jeder Ausgabe Zeug aufgelistet wird wie: Name, Wohnsitz, Lieblingsfarbe, Hobbies, Siege und Niederlagen, und ein Foto des Mädchens in Boxhandschuhen. Diese Fotos sind so eine Art Wildcard, denn manche der Kämpferinnen lassen sich in Trainingsklamotten ablichten, während sich andere in Träger-Hemdchen in Szene setzen, mit offenen Haaren, schief gelegtem Kopf und auf die Hüfte gestemmten Handschuhen.
Andi Taylor würde Artemis Victor im Schlaf erkennen, denn Artemis Victor ist die jüngste der drei Victor-Schwestern, einer Familie von Boxerinnen. Ihre Eltern kommen zu jedem Turnier von Artemis in T‑Shirts, auf denen »Victor« steht. Lächerlich, wie sie da die Siegesbilanzen ihrer Töchter auf der Brust herumtragen.
Jeder kennt die Victor-Schwestern und weiß, wo sie gewonnen und wo sie verloren haben. Die Punktrichter behandeln Artemis’ Familie wie gute alte Kumpel, was im Boxen besonders ärgerlich ist, weil die Grauzonen bei Schiedssprüchen oft so offensichtlich sind. Und wenn du weißt, dass der Judge eine besondere Beziehung zu den Teilnehmern hat, kommst du nicht umhin zu denken: Ich werde übergangen, ich bin am Ende, hätte ich doch Eltern, die bereit wären, sich mit meinen Trainern anzufreunden, hätte ich doch Eltern, die sich von der Arbeit freinähmen oder gar nicht erst arbeiteten, die herkämen, um mich siegen zu sehen.
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Mr. und Mrs. Victor sitzen auf Klappstühlen neben dem Ring. Es gibt kaum mehr als zwei Dutzend andere Zuschauer: die Judges, andere Kämpferinnen, einen Redakteur der Lokalzeitung, einen Redakteur des Magazins der Women’s Youth Boxing Association, Eltern, eine Großmutter, die Trainer und Bob, den Besitzer dieses Gyms.
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Bob ist auch Trainer, aber er coacht grundsätzlich keine Frauen. Ihm ist egal, wer hier gewinnt. Sein Studio hatte für dieses Turnier einfach die perfekte Lage. Alle Trainer sind Männer und alle haben eigene Gyms und streichen Geld von den Mädchen ein, um es der Jugendliga fürs Frauenboxen rüberzuschieben, die es dann wieder zurückschiebt, damit die Trainer Regionalturniere in ihren Gyms ausrichten. Manche der Trainer waren Amateurboxer, aber kaum einer von ihnen schaffte es auf das Niveau, auf dem diese Mädchen hier antreten. Die Trainer reisen mit den Mädchen zu den Turnieren, um ihre Schecks einzustreichen. Zwischen den Runden reden die Trainer auf Artemis und Andi ein, aber sie geben nur Klischees von sich. Alles, was diese Trainer ihnen beigebracht haben, ist längst Geschichte. Ihr Gefasel klingt wie das Rauschen des Ventilators in Bobs Boxpalast. Artemis und Andi wünschten, sie könnten mit weniger Lärmbelästigung kämpfen. Jedes Geräusch, das nicht der satte Aufprall eines Treffers ist, ist pure Ablenkung.
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Artemis Victor lässt ihre Schultern kreisen. Sie sieht zu Andi Taylor hinüber und denkt: Du bist hässlich. Ich bin hübscher als du und schlagen werde ich dich auch.
Artemis bewertet immer die Körper anderer Frauen, egal wo. Ich bin die Hübscheste im ganzen Raum, denkt sie. Da drüben ist eine, die vielleicht noch hübscher ist – wenn man auf Drogensüchtige steht. Es gibt Männer, die das mögen. Wenn Artemis Victor sich ihre Zukunft ausmalt, dann sieht sie sich selbst in einem großen Haus, vielleicht in Miami, irre erfolgreich und nicht drogenabhängig. Artemis Victor hat einen Teddy, der ein Puppen‑T-Shirt mit der Aufschrift »Victor« trägt.
»Das ist mein Mädchen!«, schreit Mrs. Victor.
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Artemis Victor glaubt immer daran, dass sie gewinnen wird. Das ist keine schlechte Angewohnheit. Wenn man Selbstzweifel aus dem Fenster werfen kann, ist das, als hätte man eine Waffe im Anschlag. Artemis Victor hasst ihre älteste Schwester. Ihre älteste Schwester hat vor vier Jahren den Daughters of America Cup gewonnen. Ihre mittlere Schwester erreichte Silber. Selbst wenn Artemis Victor das Ding gewinnt, im Turnier siegt und die Beste des Landes wird, die beste U‑19 Boxerin in den gesamten Vereinigten Staaten, selbst dann wird sie nur Zweite nach ihrer älteren Schwester Star Victor sein. Weil Star vor ihr die Landesbeste war und jetzt verheiratet ist und Mann und Kind hat und gerade knapp davor steht, ein eigenes Haus zu besitzen, wenn nicht sogar reich zu werden.
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Artemis Victor hat keine Ahnung, was es braucht, um ein Haus zu besitzen, aber sie weiß, was es braucht, um andere Leute zu schlagen. Denn genau das scheint Grundbesitz zu sein: dass du andere Leute darin schlägst, ein Stück Land zu besitzen, sodass du es nicht mit ihnen teilen musst. Weil Besitz ein Ergebnis deines Siegs über andere Menschen ist. Du hast mehr Geld gewonnen als sie – also gehört dieses Fleckchen Erde jetzt für immer dir.
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Artemis Victor ist nicht dumm. Sie wäre eine glänzende Bankangestellte, auch wenn sie später Weinhändlerin werden wird. Es ist nur so, dass ihr Wertesystem ziemlich eng gestrickt ist. Sie hat eine wahnsinnig gute Menschenkenntnis, sie weiß, was Leute wirklich denken und nicht sagen, sie kann an der Körperhaltung von Gesprächspartnern ablesen, ob sie an ihr interessiert sind oder nicht. Sie weiß, welche ihrer Lehrer in der Schule sie bemitleiden muss: die, die verzweifelt auf jemanden hoffen, der ihnen zuhört. Sie weiß, was sie sagen muss, damit Leute denken, sie hörte ihnen zu.
Veganerin ist Artemis Victor auch. Die Tiere tun ihr leid. Das stand sogar in ihrem Porträt im Magazin der Women’s Youth Boxing Association, kurz: WYBA. Artemis Victor liebt Tiere. Sie hat eine Doku über Wale gesehen, die in Freizeitparks gequält werden, und findet, man sollte sie alle freilassen.
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Der Referee steht in der Ringmitte und erzählt den Kämpferinnen Dinge über die Regeln, die sie schon hundert Mal gehört haben. Sie nicken, stehen von ihren Hockern auf und beginnen, auf- und abzufedern. Andi hüpft hektischer als Artemis. Artemis bewegt sich ruhig. Sie tragen beide Shorts aus Ballonseide und Sport-BHs und Tanktops. Der Gummizug schneidet so sehr ein, dass der Abdruck noch Stunden nach dem Umziehen zu sehen sein wird.
Vor einer Woche kam Andi heim, zog ihre Shorts aus und betrachtete den roten Ring aus Rillen,...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2024 |
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Übersetzer | Christiane Neudecker |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Headshot |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
ISBN-10 | 3-8412-3646-4 / 3841236464 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3646-3 / 9783841236463 |
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