Der stumme Schrei des Albatros -  Leonard Haberkorn

Der stumme Schrei des Albatros (eBook)

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2024 | 1. Auflage
319 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-8367-6 (ISBN)
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Sommer 1966: Seit vor fünf Jahren die Grenzen der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR geschlossen wurden, verfolgt Rolf ein großes Ziel: Das Ende der sozialistischen Herrschaft. Der Untergrund, dem er inzwischen angehört, bietet ihm den dafür notwendigen Nährboden. Hier ist er unter Gleichgesinnten, die bereits landesweit über ein gut funktionierendes Kommunikationsnetz verfügen. Mittels geheimdienstlicher Unterstützung aus dem Westen scheint das Unterfangen in realer Greifweite zu sein. Bis Maria in sein Leben tritt. Trotz ihrer gegensätzlichen Weltanschauungen schließen sie den Bund der Ehe. Obgleich ihr erstes Kind unterwegs ist, lässt sich Rolf von seinem ehrgeizigen Vorhaben nicht abbringen. Cecilia, Marias Mutter, die sich mit Leib und Seele der Partei verschrieben hat, ahnt nichts von seinen Machenschaften. Eines Tages jedoch macht sie eine Entdeckung, die das Leben der Familie radikal verändern wird.

Im Jahr 2021 beschloss Haberkorn, sich endlich hinter die Tastatur zu setzen, um seine recht ungewöhnliche Lebensgeschichte niederzuschreiben. Dazu bedient er sich der Romanform. Mit spannungsgeladenem und zugleich auch anspruchsvollem Inhalt katapultiert er seine Leser zurück in die 'Deutsche Demokratische Republik' (kurz: DDR).

Der Idealist


Rolf blieben dreißig Minuten.

Er durfte den O-Bus keinesfalls verpassen.

Vor etlichen Jahren hatte es ihn in die Nähe des nordöstlichen Außenrings von Rotstadt, nach Ströttern, verschlagen.

Sein bester Freund Peter wohnte nebenan in Mandern. Deshalb musste er bei ihren gemeinsamen Ausflügen stets eine Haltestelle mehr in Kauf nehmen.

An diesem Abend wollten die beiden Gefährten unbedingt eine Eintrittskarte für den hiesigen, allmonatlichen Tanzabend in Brohmern ergattern. Um aber dorthin zu gelangen, mussten sie vorerst mit der Straßenbahn den Linienbus „F 211“ erreichen, der sie vom gegenüberliegenden Ende des Rotstädter Zentrums zu ihrem fünfundzwanzig Kilometer entfernten Ziel bringen würde.

Das Lokal war wegen seiner guten Bands auch in der Rotstädter Szene in aller Munde. Jeder wollte dahin.

Aufgrund der schwierigen Verkehrsanbindungen hatten die beiden zwei geschlagene Stunden Anfahrtszeit vor sich. Im Vergleich zu den Leuten, die sogar aus dem siebzig Kilometer entfernten Tranntal angereist kamen, um dieser Veranstaltung beiwohnen zu können, war das jedoch nur ein „Katzensprung“.

Rolf stand - vergnügt vor sich hin pfeifend - im Badezimmer, sah in den mit Zahnpasta bespritzten Spiegel und überprüfte seine Frisur mit kritischem Blick. Er wandte den Kopf einmal nach rechts und einmal nach links.

Vor fast einem halben Jahr war er das letzte Mal mit Peter unterwegs gewesen. So lange war das her.

Er freute sich sehr auf diesen Abend.

Vielleicht fühlte er sich gerade deshalb so lebendig wie seit Monaten nicht mehr? Würde ihm heute eine schöne Frau über den Weg laufen, würde er diese Chance nutzen.

Da war er sich so sicher „wie der Zirkel vor dem Hammer steht“. Diese Metapher hatte er irgendwann einmal von seinem Kollegen aus dem Büro aufgeschnappt. Er nahm stark an, dass damit das Wahrzeichen der DDR gemeint war.

Der Hammer steht für die Arbeiterklasse, der Zirkel symbolisiert die Wissenschaft und der Ährenkranz, der sich klauenartig um diese beiden übereinandergestellten Objekte legt, ist der Bauernschaft des Landes gewidmet. Welch Ironie, dass genau dieses „dem Volk geweihte“ Wappen auf dem schwarz-rot-gelben Hintergrund der Nationalflagge gleichzeitig für Tyrannei und Unterdrückung steht.

Rolf dachte an seine Mutter und an seinen Bruder Jens. Für einen Moment konnte er das traurige Lächeln in seinem Spiegelbild erkennen, das jedoch gleich wieder einem breiten Grinsen gewichen war.

Nein, heute wird er nicht weiter über derlei Dinge nachdenken und sich dadurch die Laune verderben lassen. Heute wird er es so richtig „krachen lassen“.

Mit einer koketten Bewegung rückte er sich seine Krawatte zurecht. Plötzlich sah er etwas.

Was ist das? Bekommst du jetzt Pickel?“

Er wischte sich mit der Hand über das Kinn.

Zum Glück waren es nur Brotreste vom Abendessen.

Im Grunde genommen hasste er es, seine Wohnung hungrig zu verlassen.

Besonders um diese Uhrzeit hatten nur noch die wenigsten Lokale etwas für den schnellen Hunger zu bieten.

Rolf stützte sich vorsichtig an den seitlichen Rändern des Waschbeckens ab und bewegte seinen Kopf so weit nach vorne, bis seine Nasenspitze beinahe den Spiegel berührte. Für einen Moment starrte er in seine leuchtend grünen Augen.

Dann spitzte er die Lippen: „Koomuuniismuus, Sooziaalismus, Voolkssveerraat, Aatteentaat.“ Während er die Worte übertrieben in die Länge zog, formte sich sein Gesicht zu einer schrillen Grimasse, die er in der Öffentlichkeit niemals darbieten würde.

Schließlich wollte er ja nicht nach Plösau eingewiesen werden.

Plösau assoziierten die meisten Rotstädter mit einem Ort, der angeblich nur für „Verrückte“ oder „Bekloppte“ bestimmt war. Das kam daher, dass die Stadtverwaltung vor etlichen Jahren den größten Teil des Gebietes zu einer riesigen Nervenheilanstalt hatte ausbauen lassen. Zwei Drittel vom Gelände waren völlig von der Außenwelt abgeschnitten.

Der Großteil der Bürger fürchtete sich regelrecht davor, auch nur annähernd mit Plösau in Verbindung gebracht zu werden, denn Menschen mit Behinderungen waren auf Gedeih und Verderb dem Gespött der allgemeinen Bevölkerung ausgeliefert.

Logisch, dass um diesen Stadtteil schreckliche Gerüchte kursierten.

Einmal hatte er jemanden sogar sagen gehört, dass eine Person, die es dorthin verschlagen hat, ohne Zweifel früher oder später den Verstand verlieren würde. Doch über derartige Übertreibungen konnte er nur schmunzeln:

Sollen sie reden, was sie wollen.“

Schuld daran gab er der mangelnden medialen Aufklärung.

Woher sollen die Leute auch wissen, dass diese - ihrer Meinung nach - bescheuerten Schwachköpfe nicht weniger als ,normale‘ Menschen empfinden?“

Bisher war er wenigen begegnet, die bereitwillig das ihnen präsentierte Weltbild verlassen hatten und die allgegenwärtige Gewaltbereitschaft in diesem Land in Frage stellten.

Sie glauben ja alles, was in der Zeitung steht, was das Radio erzählt oder was der Fernseher zeigt. Einerseits ertönen auf allen Kanälen kommunistische Lobreden und Lobgesänge. Andererseits hält man das Volk gegen seinen Willen hinter meterdicken Mauern, hinter Tretminen und tödlichem Stacheldraht gefangen. So sieht nämlich die verdammte Wahrheit aus!“

Nachdem er sich vor seinem Spiegelbild ausgetobt hatte, wandte er sich vom Waschbecken ab und verließ das Badezimmer. Auf dem Flur stolperte er tollpatschig, weil sich die Jacke, die er im Vorbeigehen lässig vom Haken nehmen wollte, irgendwie mit dem Regenschirm verhedderte.

Die zwei Etagen bis zur Straße waren schnell überwunden.

Er verließ das Haus.

Es regnete in Strömen.

Verdammter Mist!“, fauchte er während er die wenigen Meter bis zur Haltestelle schlenderte. „Hoffentlich kommt dieser Scheiß-Bus wenigstens heute mal ausnahmsweise pünktlich.“ Er klappte den Kragen seines Mantels über die Ohren und hielt ungeduldig nach dem O-Bus Ausschau.

Hier und da quoll schmutzig-gelbes Licht aus den ansonsten schwarzen Fenstern in die Dunkelheit der Nacht hinaus.

Im Jahr 1948 erblickte Rolf in Rotstadt das Licht der Welt. Während seiner Kindheit hatte sich sein zwei Jahre älterer Bruder Jens hingebungsvoll um ihn gekümmert.

Die folgenden zehn Jahre wuchsen die Kinder unter traditionellen, strengen Erziehungsmethoden heran.

1958 bekam ihr Vater ein lukratives Stellenangebot von der NASA. Er nutzte die Gelegenheit und beschloss allein in die USA auszuwandern.

Für die beiden Söhne wurde es Zeit, ihm „Lebewohl“ zu sagen.

Seiner Frau versprach er, dass er sie nachholen würde, sobald in Amerika alles geregelt sei.

Dieses leere Versprechen war das Einzige, was er ihr hinterlassen hatte. Sie sollte nie wieder von ihm hören.

Stattdessen gründete er in Washington eine neue Familie. Dort genoss er seinen Ruf als angesehener Ingenieur. Es sollten noch einige Jahrzehnte vergehen, bis Rolf letztlich von seinen vielen Auszeichnungen erfahren würde.

Angeblich soll sein Name unter den NASA-Ingenieuren bis heute ein Begriff sein.

Helene - Rolfs Mutter - konnte den „Verrat“ ihres Mannes, so wie sie es nannte, nie überwinden. Dank ihrer selbstlosen Aufopferung lebten die Kinder auch ohne männlichem Familienoberhaupt in einem wohl behüteten Umfeld.

Außerdem hatten sie zwei Tanten sowie einen Großvater, von denen sie des Öfteren Besuch erhielten oder bei denen sie hin und wieder einige Tage verbrachten. Für die zwei war es völlig normal, wenn sie einmal unerwartet bei ihren Gastgebern übernachten mussten. Weihnachten und Neujahr zum Beispiel, war die Zeit der alljährlich geplanten Familientreffen. Dann sahen sie einander und feierten ausgiebig.

Helene hingegen sollte bis zu ihrem Lebensende nie wieder den Bund der Ehe eingehen. Sie wollte nur noch für ihre Kinder da sein.

Vor fünf Jahren, genauer gesagt im achten Monat des Jahres 1961, wurden die Geschwister aufgrund der Grenzschließungen von ihrer Mutter getrennt. Zu dieser Zeit war Rolf erst dreizehn. Wie gewöhnlich hatte die kleine Familie auch im besagten Jahr eine Einladung zu Tante Friedes Geburtstagsfeier in Passau erhalten.

Dieses Mal würden die Gratulanten auf deren fünfzigsten Ehrentag anstoßen.

Keiner konnte es daher Helene verübeln, dass sie ihrem „Schwesterchen“ zu diesem Anlass höchstpersönlich Glückwünsche aussprechen wollte. Außer Franz - Tante Friedes Bruder - würden sie alle da sein. Anlässlich ihres Runden wartete auf die gesamte Familie ein zehntägiger Aufenthalt in einem vornehmen Hotel im Schwarzwald. Sogar Tante Berta, die nur ungern aus ihren vier Wänden hervorkam, hatte sich, nach vielem Zureden ihrer Geschwister, extra Urlaub genommen. Auch Jens und Rolf freuten sich sehr darauf.

Endlich wieder mal ein...

Erscheint lt. Verlag 8.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-7565-8367-8 / 3756583678
ISBN-13 978-3-7565-8367-6 / 9783756583676
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