James Baldwin -  René Aguigah

James Baldwin (eBook)

Der Zeuge
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
235 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81370-2 (ISBN)
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James Baldwin (1924 - 1987) gehört zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Schon zu Lebzeiten machten ihn seine Bücher 'Giovannis Room' und 'The Fire Next Time' berühmt und brachten ihn auf die Coverseite des 'Time Magazine'. Aber Baldwin war schwarz und schwul, die Gesellschaft, in der er lebte, rassistisch und schwulenfeindlich. Aus dieser Spannung ist ein einzigartiges Werk entstanden, das die Tore weit aufgestoßen hat, durch die Generationen von Aktivisten nach ihm gegangen sind. Am 2. August 2024 wäre der große Autor, den manche einen Propheten nannten, 100 Jahre alt geworden. In seinem elegant geschriebenen Porträt skizziert Baldwin-Kenner René Aguigah das Leben Baldwins von der Herkunft in ärmlichen Verhältnissen in Harlem bis zur Flucht vor dem alltäglichen Rassismus nach Paris, seinen rasanten Aufstieg zu einem gefragten Redner und seine Beziehungen mit Martin Luther King und Malcolm X. Vor allem aber begibt sich Aguigahs essayistisches Buch auf die Suche nach dem, was Baldwin uns heute noch mitzuteilen hat. Es fragt nach dem Verhältnis zwischen seinem Künstlertum und Aktivismus, der Spannung zwischen Literatur und Politik, seinem Eintreten für Minderheiten und seinen universalistischen Überzeugungen. Baldwin, der Hass so gut kannte, hielt in seinen Romanen und Essays an der Liebe als Hoffnung fest. Aguigah porträtiert ihn als Zeugen - einer Zeit der Gewalt und des Unrechts, die bis heute fortexistieren.

René Aguigah ist Kulturjournalist und leitet das Ressort Literatur bei Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur.

1

EINLEITUNG:
EIN ZEITGENOSSE?


James Baldwin führt, fast vier Jahrzehnte nach seinem Tod, ein so reiches Nachleben, wie es nur wenigen Hundertjährigen vergönnt ist. Das Kino hat dabei geholfen: Raoul Pecks Dokumentarfilm I Am Not Your Negro von 2017. Da tritt ein telegener Baldwin auf, etwa in Bildern von seinen Talkshow-Auftritten, und im Off-Kommentar liest der Schauspieler Samuel L. Jackson aus dem letzten, nicht abgeschlossenen Manuskript, Remember This House, einer melancholischen Erinnerung an die ermordeten Schwarzen Aktivisten Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King.[1] Dazu Bilder von massiven Polizeieinsätzen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, aus Birmingham und Los Angeles – und aus der Gegenwart des Films 2014: Demonstrationen, brennende Häuser, knüppelnde Polizisten, nachdem ein Beamter einen 18-jährigen Schwarzen erschossen hatte, Michael Brown in Ferguson in Missouri. Baldwins Reden und Texte über den Rassismus in den USA klingen, als seien sie von heute, sagt Pecks Film. James Baldwin ist unser Zeitgenosse.

The Fire Next Time, Baldwins wohl berühmtestes Buch, wurde veröffentlicht, als die Bürgerrechtsbewegung das ganze Land ergriffen zu haben schien, 1963. Was die Geschichtsbücher das zentrale Dokument der Sklavenbefreiung nennen, Abraham Lincolns Emancipation Proclamation, lag da 100 Jahre zurück. Und weil die Afroamerikaner, nicht nur in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten im Süden, offenkundig weder frei noch gleich waren, führte Martin Luther King eine Viertelmillion Menschen zum Marsch auf Washington. Baldwin verknüpft in seinem Essay sein eigenes Leben – und das seines jugendlichen Neffen James – mit dem rassistischen «Alptraum» in den Vereinigten Staaten. Sein Appell an die «einigermaßen bewussten» Schwarzen und die «einigermaßen bewussten» Weißen hallt bis heute nach.[2] Heute sind gleich zwei unterschiedliche Bücher mit dem Titel The Fire This Time lieferbar.[3] Sie nutzen Baldwins Manifest als Sprungbrett, um mit schriftstellerischen Mitteln die Arbeit von Diagnose und Kritik ihrer eigenen Gegenwart aufzunehmen. «Eine neue Generation spricht über Race»: Es schreiben gewissermaßen James Baldwins Großnichten und Großneffen. 2019 wurde The Fire Next Time neu ins Deutsche übersetzt; verdienstvollerweise sind inzwischen die wichtigsten von Baldwins Romanen und Essays neu übertragen – und die deutsche Kritik begrüßt einen Autor, der klingt, als sei er unser Zeitgenosse.

«James Baldwin ist überall», erklärte der Kulturwissenschaftler Eddie Glaude schon vor einigen Jahren im Time-Magazin[4] – und konnte nicht ahnen, dass der britische Sänger Morrissey bei dessen Tournee 2023 James Baldwins Porträt doppelt und überlebensgroß auf die Bühnenleinwand projizieren würde. Im selben Jahr bekennt Madonna bei einem Konzert, Baldwin sei «eine großartige Inspiration für ihr ganzes Leben» gewesen. Auf ihrem Instagram-Kanal postet sie im Oktober 2023 ein Baldwin-Zitat: «Die Kinder gehören immer uns, jedes einzelne von ihnen, überall auf dem Erdball» – und ihre mehr als 19 Millionen Follower müssen sich selbst zusammenreimen, was genau Madonna oder der zitierte Autor damit gemeint haben könnten.[5] Überhaupt, das Netz: Wer auf den handelsüblichen Plattformen nach James Baldwin sucht, findet ihn tatsächlich überall, sein markantes Gesicht ebenso wie eine Reihe von Sentenzen: «Love is a battle, love is a war; love is a growing up»[6] oder «Die Liebe nimmt uns Masken ab, von denen wir fürchten, dass wir ohne sie nicht leben können, und von denen wir wissen, dass wir hinter ihnen nicht leben können».[7] Kompakte Zitate spielen eine Schlüsselrolle in Baldwins Nachleben als Social-Media-Star.

Das ist alles nicht abwegig – aber doch erstaunlich. Zum Beispiel umfasst die Länge eines durchschnittlichen Satzes in Baldwins Büchern (gefühlte Statistik) fünf- bis zehnmal mehr Zeichen, als ein Posting auf der inzwischen selbst schon historischen Plattform Twitter erlaubte. Erstaunlich auch, weil ab Ende der 60er Jahre, nach dem allmählichen Erlahmen der Protestbewegung, die US-amerikanische Öffentlichkeit, aber auch jüngere Schwarze Engagierte, Baldwin aus ihrem Horizont verloren. Der einstige Star galt als «passé».[8]

Tatsächlich ist James Baldwin tief im 20. Jahrhundert verwurzelt, und diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf die schieren Daten von Geburt und Tod, 1924 und 1987. Die Welt seiner Romane ist eine Welt von Wählscheibentelefonen, Schreibmaschinen und Schallplattenspielern. Da werden so viele Zigaretten und Whiskeys konsumiert wie im 21. Jahrhundert nur noch in historisierenden Filmen wie der Fernsehserie Mad Men. Gelegentliche Prügel gehören da zum Umgang mit den Kindern wie zum eigenen Aufwachsen. Als seine enge Freundin, die Autorin Maya Angelou, einmal fürchtete, dass Baldwin einem der Gründer der Black Panther Partei zu nah kommen würde, dem verurteilten Gewalttäter Eldridge Cleaver, antwortete Baldwin, er werde sich im Notfall zu wehren wissen: «Auf den Straßen von Harlem wird selbst ein Chorknabe zum Raufbold, wenn er Schwarz ist und so klein wie ich.»[9] Und Fritz J. Raddatz, Baldwins damaliger deutscher Lektor, dessen Tagebücher ohnehin die verschiedensten Exzesse überliefern, erinnert sich 1984: Uwe Johnson «verprügelte zum Beispiel in meiner Wohnung einmal James Baldwin und Ledig gleich mit».[10]

Lenkt man den Blick weg von Alltagsdrogen und Alltagsgewalt und richtet ihn auf die großen Entwicklungen in Baldwins Welt, sieht man etwa die Flucht von Millionen Afroamerikanern aus den Südstaaten in den Norden und den Westen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die Ghettobildung in den Städten, die Repression innerhalb der Trennung zwischen Schwarzen und Weißen, den Aufbruch für Bürgerrechte in den 50ern und 60ern, die andauernde Gewalt – mit der Ermordung von Martin Luther King als blutigem Höhepunkt. Diese Epoche hat mehr als nur Spuren in Baldwins Werk hinterlassen. Baldwin hat aus diesem Stoff, aus diesen Erlebnissen sein Werk geformt. Er war Zeuge. Dieses Buch liest James Baldwin in seiner Zeit – und stellt ihm Fragen aus der Gegenwart.

Drei Gegensatzpaare strukturieren drei Kapitel. Zunächst wird die Spannung zwischen dem Verfassen von Literatur und politischem Engagement betrachtet (im zweiten Kapitel). Baldwin versteht den Schriftstellerberuf emphatisch als künstlerisch – schon bevor er seinen ersten Roman, Von dieser Welt, 1953 veröffentlicht. Er polemisiert gegen Bücher, die in seinen Augen zu direkt als Protestliteratur Verwendung suchen. Auf der anderen Seite gerät er Ende der 50er Jahre beinahe von selbst in die Dynamik der Proteste im Süden der USA. Damit steht er vor der Aufgabe, zwei unterschiedliche Rollen miteinander zu balancieren: Wie verhält sich der Autor zum Aktivisten?

James Baldwins große Themen, Rassismus und Sexualität, Liebe und Hass, finden sich in all seinen Texten – die wiederum in verschiedenen Gattungen verfasst sind, vor allem als Romane und Essays. Während sein Selbstbild das eines Romanschriftstellers ist, während etwa Ein anderes Land zum Bestseller avanciert, erzielt er auch mit seinen Artikeln und Essays Erfolge, überwältigend im Fall von The Fire Next Time. Wie, so fragt das dritte Kapitel, verhält sich der Romancier zum Essayisten? Erhellen die unterschiedlichen Textsorten einander womöglich? Dass James Baldwin Partei für die Nachfahren der Versklavten ergreift, liegt auf der Hand. Dass er als Zeuge für die Erfahrung der Homosexuellen schreibt, ebenso. Dass er sich zugleich «allen Menschen» verbunden weiß, er einfach von «Leuten» gelesen werden will, überliest sich hingegen leicht. Das vierte Kapitel verfolgt Baldwins Orientierung an bestimmten Gruppen einerseits und andererseits seine Orientierung an der «Menschheit». Ein fünftes Kapitel ist dem Thema Erinnerung gewidmet. In seinen späten Texten, vor allem im Roman Just Above My Head, blickt Baldwin auf die Bürgerrechtsbewegung zurück. Dabei reflektiert er, wie brüchig das Gedächtnis ist und unter welchen Bedingungen es in den Kämpfen seiner Gegenwart zum Einsatz kommen könnte. Mit all dem ist...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Reisen
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
ISBN-10 3-406-81370-4 / 3406813704
ISBN-13 978-3-406-81370-2 / 9783406813702
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