Anatomie der Wolken -  Lea Singer

Anatomie der Wolken (eBook)

Als Caspar David Friedrich auf Johann Wolfgang von Goethe traf

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70541-3 (ISBN)
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Keine Ahnung von Mythologie und klassischen Regeln, doch Wolken malen kann dieser Friedrich«, ereifert sich Geheimrat von Goethe über den jungen, wilden Romantiker. Im Jahr 1810 begegnen sie sich erstmals: Goethe, berühmter Dichter und alterndes Universalgenie, und Friedrich, der Maler, der sich weder aufs Reden noch aufs Schreiben richtig versteht. Der eine ist diplomatischer Minister, der andere Habenichts ohne Manieren. Ein betuchter Frankfurter Großbürgersohn und ein Seifensiedersprössling aus Greifswald. Goethe ist auf dem Zenith seines Ruhms, während Friedrich mit allen Konventionen seiner Zeit bricht. Doch eines verbindet sie: Beide sind gebannt von den Wolken. Lea Singer erzählt von der Begegnung zweier großer Künstler, die einander fremd bleiben, obwohl sie die Größe des anderen erkennen.

Lea Singer, 1960 in München geboren, studierte Kunstgeschichte, Gesang, Musik- und Literaturwissenschaft. Mit ihren Romanen über historische Persönlichkeiten ist die promovierte Kunsthistorikerin ebenso erfolgreich wie mit ihren Sachbüchern, die sie als Eva Gesine Baur schreibt. Sie lebt in München und wurde mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Schwabinger Kunstpreis und dem Bodensee-Literaturpreis ausgezeichnet. 

I


Er hatte ihn immer gehasst. Weil er ihn an eine Leicheerinnerte, eine riesige, Raum und Zeit füllende Leiche. Ihr Verwesungsgeruch stieg mit dem Rauch aus den Kaminen, ihr Leichentuch aus Schnee verdreckte durch den Ruß. Er konnte sich aber nicht erinnern, jemals einen Winter so sehr gehasst zu haben wie diesen, den sechzigsten in seinem Leben.

Im Dezember 1809 hatte der berühmteste Schriftsteller des Landes, nein: des Kontinents das Gefühl, wie das Jahr an einem Ende angelangt zu sein. Also so gut wie tot. Einsam in einer Stadt, wo ihn jeder kannte. Freundelos und freudlos. Vor allem aber fühlte er sich unverstanden. Gab es eine größere Einsamkeit als das Unverstandensein?

Überall in den Salons von Weimar bis Karlsbad dasselbe. Unmoralisch sei der neue Roman von Geheimrat Goethe. Der erste, den er nach zwölf Jahren Abstinenz geschrieben hatte. Abgesang auf die Ehe, Hohelied des Betrugs, Hymne auf den Ehebruch, schimpften sie. Nichts hatten sie verstanden. Gestern hatte er zum soundsovielten Mal einer Verehrerin erklärt, der Roman sei keineswegs unmoralisch, sondern sein bestes Buch. Aber sie war wohl schon eine Verehrerin außer Dienst und zu dumm dafür. Wusste nicht, was Wahlverwandtschaft hieß, was es in der Chemie bezeichnete: Die Triebkraft einer chemischen Reaktion, eine Bindung einzugehen. Die neun, zehn Seiten von dreihundert, in denen es um das Eigentliche ging, das Experiment, die Versuchsanordnung von vier Personen, hatten die Verurteiler überblättert oder einfach nicht begriffen.

Chemie? Wahlanziehungen? Hörte sich für die in Weimar nach einer Perversion an; keiner kannte hier den Schweden Bergman. Es kannte auch keiner den großen Lavoisier. Darin waren sich der Geheimrat Goethe und Napoleon bei ihrem Treffen in Erfurt sofort einig gewesen: Dass die Jakobiner diesem Mann, dem Entdecker des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, 1794 den Kopf abgehackt hatten, war eine Schande für die Revolution. Der Naturwissenschaft gehörte die Zukunft, den Erkundern der Wahlanziehungen und der wahren Verbindungen.

Sechzig war Lavoisier gewesen, als sie ihn unters Fallbeil geschnallt hatten. Sechzig wie er. Ein Zufall?

In diesem Dezember 1809 hungerte Goethe weder nach Leberpastete noch nach gefüllter Gans, nur nach Zukunft, nach Verstandenwerden und Liebe. Nein, nicht die Suppentopfliebe, die ihm seine Christiane servierte, eine frische, prickelnde Champagnerliebe. Sein Uraltfreund Knebel, der seit Jahrzehnten Bewunderung frei Haus lieferte, hatte ihm nach dem ersten Band der Wahlverwandtschaften erklärt: Nimm’s mir nicht übel, ich kann das nicht verdauen. Goethe hatte ihm geantwortet: Ich hab das nicht für dich geschrieben, sondern für die jungen Mädchen!

Kein zweiter Band für Knebel. Basta.

*

Und nun kam mitten im Dezember dieser Brief. Aus Dresden, von Caroline Bardua. Natürlich kannte er sie, erinnerte sich an sie. Schwarze Locken, schwarze Augen, schwarze Wimpern, Wespentaille, sie hatte jahrelang hier in Weimar bei Heinrich Meyer zeichnen gelernt. Goethe hatte Meyer damals mit gutem Grund aus der Schweiz nach Weimar gelotst. Der sollte hier einmal Balken im Kunstweltsumpf verlegen. Für Struktur, Statik, Ordnung sorgen. Für Beurteilungsgrundlagen. Viele Ungenauigkeiten hatte Meyer bei der Bardua bemängelt, sehr viele. Erfolg könne sie trotzdem haben, hatte Goethe ihm erklärt: Wer schaute schon so genau hin, bei diesen Locken, Augen, Wimpern, dieser Taille. Trotzdem, ein Brief von zwölf Seiten? Eine Zumutung eigentlich. Aber –

Erstens war die Absenderin eben sehr jung und sehr schön, italienisches Erbe wohl. Zweitens legte diese sehr junge und sehr schöne Frau ihm dar, warum die Wahlverwandtschaften sein bestes Buch seien und ein zukunftsweisendes außerdem. Sie lechze nach Band zwei. Drittens schrieb sie etwas von Verliebtsein.

Dieser Landschaftsmaler Friedrich in Dresden hatte ein Gedicht des Geheimrats gemalt, Schäfers Klagelied. Alle seien begeistert, schrieb Caroline Bardua weiter. Und dann: Dieser Friedrich ist auch ganz verliebt in Sie und wünscht sich sehnlich, Sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

Ja, wie denn sonst?

Die Liebe von Friedrich war ihm ziemlich egal, außerdem war sie durchschaubar. Er, der Geheimrat, hatte diesem Hungerleider vor vier Jahren zu seinem ersten und bisher einzigen Preis verholfen. Gegen die Statuten des Weimarer Kunstwettbewerbs, in dem die Illustration eines antiken Themas verlangt worden war: Herakles beim Ausmisten der Ställe des Augias. Friedrich hatte weder den Helden noch Ställe gezeichnet, sondern Mönche im Sonnenaufgang, sehr unheldisch. Dazu eine abgestorbene Eiche in öder Landschaft. Aber wie er mit Sepiatinte zeichnen konnte, das hatte Goethe beeindruckt. Das halbe Preisgeld hatte er ihm zugeschustert, für diesen Friedrich offenbar damals die Rettung.

Bilder zu verkaufen gelang ihm wohl nach wie vor nur selten. Waren die meisten seiner Bewunderer selbst Habenichtse? Vermutlich.

Schäfers Klage, schrieb die Bardua, habe Koethe gekauft, neuerdings Kirchengeschichtsprofessor in Jena. Das wunderte Goethe nicht; Koethe war halt einer dieser deutschpatriotisch glühenden Redner, keine Dreißig, von denen derzeit viele unterwegs waren. Einer, der bei Studenten gut ankam und bei Künstlern wie diesem Friedrich. Der sollte bloß nicht meinen, sich zu erhitzen sei Sache der Jungen. Sache der Jugend, das schon. Innere Jugend war aber keine Frage des Alters, sondern der Aufbruchsbereitschaft, der Neugier.

Goethe spürte: Er wollte wissen, was dieser Friedrich aus seinem Gedicht gemacht hatte. Die Neugier wuchs noch mit dem neuen Jahr.

Als der Schnee schmolz, machte er sich auf den Weg nach Jena, zu Koethe. Zu Schäfers Klagelied auf Leinwand.

*

Bei Koethe roch es schon vor der Haustür nach Entsagung. Graupensuppe, angebrannte Milch, Kohl. Ja, Goethe hatte sich nicht getäuscht. Auf Fleisch und vergorene Getränke verzichte er, eröffnete ihm Koethe beim Kamillentee. Noch keine Dreißig! Wie sollte so einer eine Frau erobern, eine begehrenswerte?

Das Bild hing in Koethes sogenanntem Salon, über dem Esstisch, auf dem nichts zu essen stand. Stühle, so bequem wie Kirchenbänke.

Es war acht Jahre her, dass er Schäfers Klagelied gedichtet hatte. Trotzdem stand noch jedes Wort in Goethes Kopf. In den Details hatte Friedrich sich an die Vorlage gehalten. Schäfer oben, Blick ins Tal. Die weidende Herde war vorhanden, auch das Haus der Geliebten, nach unbekannt verzogen. Vielleicht gar über die See. Die See war auch da. Regenbogen über dem Haus ebenfalls. Dass Friedrich die schönen Blumen aus Strophe drei vergessen hatte, sagte schon einiges. An diesem Bild stimmte fast alles und doch nichts, gar nichts. Weltschmerz statt Liebesschmerz. Und dann dieser Regenbogen! Fahl vor grauen Wolken. Überhaupt: das Bild bestand zu zwei Dritteln aus Wolken, dräuenden Wolken. Schäfers Klagelied hieß sein Gedicht, nicht Wolkenklagelied.

Die Figur rechts sei der Künstler, wusste Koethe. Friedrich als Wanderer. Versunken in Gottes großartiges Schauspiel.

Mit den Göttern hatte es dieser Friedrich nicht. Vermutlich hatte er keine Ahnung von Mythologie, deshalb auch kein Herakles damals beim Wettbewerb. Mit olympischer Heiterkeit hatte er es auch nicht. Dafür versank er, laut Koethe, in den Anblick irgendwelcher Naturschauspiele. Aber bitte! Einen Regenbogen, der eine Viertelstunde dastand, schaute doch keiner mehr an. Was sollte das.

Von düsterem Gewölk sei bei ihm nicht die Rede, meinte Goethe.

Kein Regenbogen ohne Regen, kein Regen ohne Regenwolken, sagte Koethe und trank seinen Tee. Kamillentee mit neunundzwanzig.

Koethe. Schon sein Name klang wie ein angestrengtes Echo von Goethe.

Für seinen Kreislauf, sagte der Geheimrat, sei jetzt ein Glas Port oder Rotwein von Vorteil. Die Reise –

Koethe brachte den Port, ein Bodendeckelrest in einer verstaubten Flasche, immerhin. Aber dann zeigte er auf den Abgrund vor dem Wanderer.

Das symbolisiert den Tod, sagte er.

Der Winter war vorbei, das Leichentuch weggezogen. Und nun faselte der junge Denker schon wieder vom Ende. Vielleicht eine Folge der Entsagung. Man müsste diesen Verzichtern eine Italienreise spendieren, würde Ärger sparen. Ihnen und allen, mit denen sie zu tun hatten.

*

Goethe schwante, was hier zum Abendessen aufgetischt werden würde. Er war froh, abends im nahen Drackendorf bei den Ziegesars eingeladen zu sein, im Südosten der Stadt. Ein Landgut im besten Sinn. Dass dort der Hungerbach floss, war ein Irrtum der Natur, Gott … nein, den Göttern sei Dank. Der alte Ziegesar verfügte über eine begnadete Köchin und einen Keller, in dem Goethe gerne übernachtet hätte, um seine Französischkenntnisse aufzufrischen.

Der alte Ziegesar? Auch Jurist, auch geheimer Rat und vieles mehr, wichtig, mächtig, drei Jahre älter als er selbst. Aber irgendwie doch deutlich älter. Wie besessen pflanzte er Bäume auf seinem Gut in Drackendorf, Naturpflege statt Naturwissenschaft. Das war ja ehrenwert, aber wie vieles Ehrenwerte einschläfernd. Bäumepflanzen war eine Sache von Männern, die mit dem Akt der Fortpflanzung nichts mehr im Sinn hatten. Männer mit Experimentierfreude setzten nicht, die pfropften wie der Hauptmann in den Wahlverwandtschaften. Setzen war doch nur ein Zeichen banaler Hoffnung; wird schon wieder etwas wachsen. Junges Reis auf junge Stämme zu pfropfen war viel mehr, ein Versuch, ganz neues Leben zu erschaffen, etwas noch nicht Dagewesenes. Wer aus der Natur ein Laboratorium machte, der besaß Zukunft.

Letztes Jahr war die Frau...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-311-70541-6 / 3311705416
ISBN-13 978-3-311-70541-3 / 9783311705413
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