Ein kalter Fall -  Anne Holt

Ein kalter Fall (eBook)

Ein Fall für Hanne Wilhelmsen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
432 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-218-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Extremistische Bombenanschläge in Oslo und ein verlorener Sohn Seit ihrem letzten Einsatz sitzt die ehemalige Kommissarin Hanne Wilhelmsen im Rollstuhl und hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Auch Billy T. hat den Polizeidienst mittlerweile verlassen - doch dann bittet er Hanne aus dem Nichts inständig um Hilfe: Er fürchtet, dass sein Sohn in terroristische Kreise geraten sein könnte. Noch während ihres Gesprächs detoniert plötzlich ganz in der Nähe eine Bombe, die 29 Menschen in den Tod reißt ...

Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.

Kapitel 2


Die Zeit bewegte sich in einer Schleife.

Er hatte sich so verändert. Vielleicht lag es an den zusätzlichen Kilos, die ihn seltsamerweise kleiner wirken ließen als seine zweihundertzwei Zentimeter. Die breiten Schultern hingen schlaff herunter. Der Gürtel spannte unter dem Hängebauch. Gesicht und Schädel waren glatt rasiert.

»Hanne«, sagte er.

»Billy T.«, antwortete sie nach einigen Sekunden. Ohne Anstalten zu machen, mit dem Rollstuhl die Türöffnung freizugeben und ihn einzulassen. »Lange nicht mehr gesehen.«

Billy T. legte den Arm an den Türrahmen, lehnte sich dagegen und verbarg sein Gesicht hinter seiner riesigen Pranke.

»Elf Jahre«, murmelte er.

Draußen im Treppenhaus fiel eine Tür ins Schloss. Von der Nachbarwohnung bewegten sich energische Schritte in Richtung Fahrstuhl. Sie wurden langsamer, als sie sich Hanne Wilhelmsens Wohnungstür und dem riesigen Mann näherten, dessen Haltung leicht als drohend gedeutet werden konnte.

»Alles in Ordnung hier?«, rief eine tiefe Männerstimme.

»Wie bist du da unten reingekommen?«, fragte Hanne, ohne dem Nachbarn zu antworten. »Die Gegensprechanlage, wir haben …«

»Großer Gott«, stöhnte Billy T. und ließ die Hand vor seinem Gesicht sinken. »Ich war länger bei der Polizei als du. Ein verdammtes Scheißhaustürschloss! Du hättest mich ja nicht reingelassen, wenn ich geklingelt hätte, so, wie du mich jedes verfluchte Mal abgewiesen hast, wenn ich Kontakt zu dir aufnehmen wollte.«

»He«, sagte der Nachbar mit schroffer Stimme und versuchte, sich zwischen Billy T. und den Rollstuhl zu drängen, er war fast genauso groß wie Hannes alter Kollege. »Frau Wilhelmsen scheint nicht gerade begeistert von diesem Wiedersehen mit Ihnen zu sein.«

Billy T. sah sie fragend an. Sie gab keine Antwort.

Elf Jahre.

Und drei Monate.

Plus einige Tage.

»Oder was?«, fragte der Nachbar irritiert und legte eine Hand auf Billy T.s Brustkasten, um ihn weiter auf den Gang hinauszudrücken.

»Stimmt«, entgegnete Hanne endlich. »Ich habe kein Interesse. Wäre nett, wenn du ihn rausbringen könntest.«

»Hanne …«

Billy T. schob die Hand des Mannes fort und fiel auf die Knie. Der Nachbar trat einen Schritt zurück. Vor Erstaunen darüber, den riesigen Mann knien und mit gefalteten Händen flehen zu sehen, konnte er nur noch glotzen.

»Hanne. Bitte. Ich brauche Hilfe.«

Sie gab keine Antwort. Versuchte wegzuschauen, aber sein Blick hielt ihren jetzt fest. Er hatte Husky-Augen, genau wie in ihrer Erinnerung, ein braunes und ein blaues. Es waren seine Augen, vor denen sie sich am meisten fürchtete. So wenig sonst an dieser Gestalt erinnerte an den Mann, der Billy T. einmal gewesen war. Die Jeansjacke mit dem Teddyfutter war zu klein, und ein großer Fleck, vermutlich Ketchup, verunzierte die eine Brusttasche. In beiden Mundwinkeln klebten schwarze Tabakränder, das Gesicht war aufgedunsen und winterbleich.

Sein blau-brauner Blick aber war unverändert. Nur wenige Zentimeter von ihren unbrauchbaren Beinen entfernt starrten die vielen vergessenen Jahre sie an. Drängten sich auf. Sie wehrte sich dagegen und merkte, dass sie aufgehört hatte zu atmen.

»Kommen Sie schon«, sagte jetzt der Nachbar, so laut, dass Hanne zusammenzuckte. »Sie sind hier unerwünscht, das hören Sie doch. Wenn Sie jetzt nicht mitkommen, muss ich die Polizei anrufen.«

Billy T. reagierte nicht. Er hatte die Hände noch immer gefaltet. Das Gesicht noch immer zu ihr erhoben. Hanne schwieg. Ein Krankenwagen näherte sich draußen in der Kruses gate, und durch das Fenster am Ende des Ganges fegte ein blaues blinkendes Licht über die eine Wand, dann verblasste es, und der Lärm verklang.

Wieder wurde es still.

Endlich erhob sich Billy T. Steif, mit einem leisen Stöhnen. Er wischte sich die Knie seiner Hose ab und versuchte, die enge Jacke gerade zu ziehen. Dann ging er wortlos in Richtung Fahrstuhl. Der Nachbar lächelte Hanne selbstsicher zu und folgte ihm.

Sie blieb sitzen und blickte den beiden nach. Billy T. Sie sah nur ihn. Lautlos ließ sie die Räder ihres Rollstuhls ins Treppenhaus hinausrollen.

»Billy T.«, sagte sie, als er gerade auf den Fahrstuhlknopf drückte.

Er drehte sich um.

»Ja?«

»Du kennst Ida noch gar nicht.«

»Nein.«

Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel und lächelte zaghaft. »Aber ich habe gehört, dass du … dass ihr ein Kind bekommen habt. Wie alt ist sie jetzt?«

»Zehn. Wird im Sommer elf.«

Die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem Pling. Billy T. blieb stehen, obwohl ihm der Nachbar auffordernd zuwinkte.

»Sie ist jetzt sicher in der Schule«, sagte er.

»Ja.«

»Wollen wir?«, fragte der Nachbar auffordernd und stellte einen Fuß in den Fahrstuhl, damit sich die Tür nicht schloss.

»Ich brauche Hilfe, Hanne. Ich brauche Hilfe bei etwas, das …« Billy T. schnappte nach Luft und schien mit den Tränen zu ringen. »Es geht um Linus. Erinnerst du dich an Linus, Hanne? Meinen Jungen? Weißt du noch …«

Er riss sich zusammen und schüttelte den Kopf. Zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt in den Fahrstuhl.

»Komm«, hörte er hinter sich und blieb stehen.

»Was?«

Er wandte sich um. Hanne war nicht mehr zu sehen. Aber ihre Tür stand offen, die Wohnungstür lud ihn ein, und er war sicher, dass er sich nicht verhört hatte.

»Schönen Tag noch«, murmelte er dem Nachbarn zu und ging zögernd, fast ängstlich, zu Hannes Wohnung zurück.

 

Symbolischerweise lagen die Räumlichkeiten des ISAN, des Islamischen Zentralrates in Norwegen, gleich neben der amerikanisch-lutherischen Kirche in Frogner. In einer von Oslos besten Wohngegenden hatte die stetig wachsende und immer einflussreichere Organisation zwei Wohnungen in der Gimle terrasse aufgekauft und zu einem beeindruckenden Büro zusammengelegt. Anwohnerproteste und politisches Hin und Her hatten das Vorhaben verkompliziert, aber inzwischen lag die Einweihung schon eine Weile zurück, und die meisten Nachbarn waren zufrieden. Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums des ISAN war eine Dame, die zwei Stock höher wohnte, vom Norwegischen Rundfunk interviewt worden. Sie hatte erklärt, sie freue sich, weil im Büro nicht gekocht werde, wie sie vorher befürchtet hatte. Die Organisation hatte zudem auf eigene Kosten die gemeinschaftlich genutzten Flächen renovieren lassen, was dringend nötig gewesen war. Und die achtzig Jahre alte Dame betonte auch, dass ihre Muslime sich anständig anzogen. Keiner von ihnen sah aus wie dieser Mullah Krekar, weder Turban noch Kaftane hatten in dem respektablen Wohnhaus ihren Einzug gehalten.

Diagonal gegenüber, auf der anderen Seite der Kreuzung, lag die amerikanische Kirche, die aus der Vogelperspektive aussah wie eine ziemlich rundliche Topfblume. Sie war vor allem aus Beton. Die heftige Explosion richtete deshalb nur begrenzten Schaden an.

Das Haus, in dem der ISAN sein Büro hatte, kam nicht so glimpflich davon.

Als man danach an diesem eiskalten und verregneten Morgen die gesamte Umgebung absuchte und mehrere Hundert Zeugen befragt wurden, berichteten mehrere von einer für diese elegante Gegend ungewöhnlichen Beobachtung.

Ein junger Mann, gekleidet in »traditioneller islamischer Kleidung«, hatte sich dem Büro des ISAN genähert. Er trug eine Tasche. Die Tasche wurde immer größer, je mehr Tage nach der Explosion vergingen, die Kleidung immer ausgefallener. Einige Zeugen meinten, er habe einen Turban getragen, andere wollten unter den lockeren Gewändern etwas wie ein Maschinengewehr gesehen haben. Wieder andere glaubten, zwei Gestalten beobachtet zu haben, und drei Zeugen schilderten eine ganze Bande fremdartiger Vögel in den Minuten vor dem großen Knall.

Es war schwer zu sagen. Die Bombenexplosion war so gewaltig gewesen, dass die Identifizierung der Toten alles andere als einfach war.

Aber auf Grundlage der vielen Informationen von den Angehörigen der Hausbewohner und den zahlreichen Mitgliedern des ISAN konnte die Polizei noch am selben Abend die ungefähre Anzahl der Toten bekannt geben. Oder der Vermissten, wie die meisten korrekterweise genannt wurden.

In den Räumlichkeiten des ISAN hatten sich sechzehn Menschen aufgehalten. Außerdem war ein unglückseliger Postbote ebenfalls verschwunden. Von den Nachbarn aus den Wohnungen über den ISAN-Büros war nur die alte Dame zu Hause gewesen. Als sie gefunden wurde, hingen noch alle Körperteile am Rumpf, ihre Brust jedoch war von zahllosen Glassplittern durchbohrt worden, und eine Türklinke steckte vier Zentimeter tief in ihrer Schläfe. Drei Fußgänger auf der Gimle terrasse und zwei in der Fritzners gate waren ebenfalls ums Leben gekommen, konnten aber identifiziert werden und erhielten wenige Tage später eine anständige Beerdigung. Eine Frau aus der tschechischen Botschaft ein Stück weiter die Straße hinunter hatte sich auf dem Weg zu einem frühen Mittagessen befunden. Auch sie hatte nicht überlebt.

Zusätzlich zu den vermutlich dreiundzwanzig Todesopfern gab es acht mehr oder minder schwer Verletzte. Unter ihnen der amerikanische Pastor der Kirche schräg gegenüber, der mit dem kleinen Jack Russel seiner Frau unterwegs gewesen war. Der Hund war sofort tot, der Pastor erlitt Gesichtsverletzungen, die ihm mehrere plastische Operationen einbringen würden. Die wenigsten interessierten sich in den kommenden Tagen...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2024
Übersetzer Gabriele Haefs
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-03792-218-4 / 3037922184
ISBN-13 978-3-03792-218-7 / 9783037922187
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 988 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Anne Freytag

eBook Download (2023)
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
14,99
Roman. Aus den Memoiren der Herbjörg María Björnsson

von Hallgrímur Helgason

eBook Download (2011)
Tropen (Verlag)
9,99
Band 1: Lebe den Moment

von Elenay Christine van Lind

eBook Download (2023)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
9,49