Maddalena geht -  Margit Weiß

Maddalena geht (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Edition Raetia (Verlag)
978-88-7283-883-9 (ISBN)
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'Maddalena betrachtet die Bewegung des Pferderückens und erinnert sich, wie sie hinaus bis Innsbruck wanderte und annahm, sie würde nie zurückkehren. Wie würde es diesmal sein?' Maddalena lebt um 1900 als Hebamme in Buchenstein, einem abgelegenen ladinischen Bergtal. Arbeit hat sie genug: In den armen, streng gottesgläubigen Bauernfamilien sind zehn und mehr Kinder keine Seltenheit. Nach einer Geburt beschließt Maddalena, aus der Enge ihres Lebens auszubrechen. Sie macht sich zu Fuß über die Dolomiten auf den Weg in den Norden und stellt sich Wahrheiten, denen sie bisher ausgewichen ist. Unterwegs blickt Maddalena immer wieder auf ihr erstes Weggehen zurück, das sie als 19-Jährige nach Innsbruck in die Hebammenlehranstalt und in eine heimliche Liebesgeschichte führte. Nach der Lebensgeschichte der Hebamme Maddalena Decassian

Margit Weiss 1963 in Kufstein geboren. Studium in Wien, lebt in Kufstein, tätig als Psychotherapeutin und Autorin. Ihre Familie mütterlicherseits stammt aus dem ladinischen Buchenstein.

2


Die Sonne steht tief. Gegenüber wächst der Schatten den Bergrücken hinauf, deckt ihr Dorf zu und versenkt die Farbtöne.

Sie bleibt stehen. Gebannt schaut sie dem Spiel zu. Im Schatten da unten lebt sie. Seit Jahren wieder, seit sie damals zurückgekommen ist. Die Häuser hocken beieinander. Am Eingang des Dorfes steht die Kirche wie ein steinerner Wächter. Die kraftvollen Wasser des Baches teilen die Siedlung. Am Ufer befindet sich die Schmiede ihres Mannes. Seit Jahrhunderten glühen in diesem Tal die Feuer der Schmiede. Viele Jahrhunderte lang wurde Eisenerz in Col aus den Tiefen des Monte Pore geholt, war, kaum ans Licht der Welt gehoben, im Besitz des Bischofs in Brixen. Das ist lange her. Heute gräbt niemand mehr in den Eingeweiden ihres Landes. Geblieben sind die Schmiede. Im ganzen Land schätzt man sie, mit ihrem uralten Wissen.

Die Schattengrenze ist höher gestiegen. Ihr scheint, als gäbe es auch in ihr selbst eine Zone, die im Schatten liegt. Als würde in dieser Zone all ihr ungelebtes, heimliches Leben ausharren und als würden dort die Sehnsüchte sitzen. Jene, die noch keinen Namen haben, und jene, die zu leben ihr nicht möglich erscheint. Es gab eine Zeit, in der diese Zone ihr Handeln leitete, ihre Bewegungen freier waren. Manchmal spürt sie diese fließende Lebendigkeit noch, besonders in den kurzen Momenten zwischen Tag und Nacht. Dazwischen liegt etwas wie ein eigener Raum, in dem der Tag nicht mehr und die Nacht noch nicht ist und der Zeitfluss angehalten scheint. Auch nach dem Wachwerden, noch bevor der Morgen in sie eindringt, die Arbeit von ihr Besitz ergreift, liegt sie eingesponnen in Schlafweichheit und die Sehnsüchte in ihrer Brust sind wie wehende Fahnen in ihr, bereit mit ihr wegzufliegen und doch angebunden an die Pflichten.

Sie erwartet diese Zwischenräume ungeduldig. Es wird still am Abend, das Licht sanft, die Vögel behalten ihr Zwitschern für sich. Es ist die einzige Zeit des Tages, in der sich ihre Ohren, ihre Hände, ihre Gedanken von der Besetztheit lösen, sie sich selbst gehört. Sie liebt diese Augenblicke.

Und dann schleicht manchmal dieses Ziehen aus den dunklen Ecken in ihr. Da gibt es etwas, sie spürt es auf der Zunge, als hätte sie Lust auf einen ungekosteten Geschmack, und sie spürt es in den Augen, die etwas zu suchen beginnen, die Hänge abtasten, den Weg vor dem Haus, als würde es auf sie zukommen, das, worauf sich dieses Drängen richtet.

Doch es trifft nie ein. Stattdessen mündet es stets in unentrinnbare Ernüchterung und die hohen Pässe an den Rändern des Tales kommen ihr nicht mehr wie Übergänge vor, die Wege darüber nicht wie Nabelschnüre zu der anderen Welt da draußen. Meist nimmt sie dann, wie jeden Tag um diese Zeit, den Reisigbesen und kehrt den Platz vor der Haustür. Die Aufgeräumtheit, die ihre Bewegungen hinterlassen, scheint ihr wie das Einfinden in die vorgesehene Ordnung, in der nichts sich niederlassen soll, was nicht hergehört. Und das gleichmäßige Hin und Zurück des Fegens über den Boden drängt dieses Namenlose, ziellos Begehrte zurück in die Heimlichkeit der Schattenwelt in ihr.

Doch heute steht sie hier an der Kante und es ist anders. Ihre Schattenwelt ist nicht mehr ihr ausgegrenztes Revier, sondern ihr ein wenig verschlüsselter Wegweiser. Der Gedanke, sie könne Herrin über ihr Leben sein, habe die Wahl, scheint ihr unwiderstehlich.

Nur eine Frau hatte sie gekannt, die ihr frei und als Herrin über ihr Leben erschienen war, die alte Hebamme. Damals war sie noch ein Mädchen, lebte auf dem Hof mit den Eltern, den Großeltern und Geschwistern. Sie war die älteste Tochter. Die Mutter erwartete ihr sechstes Kind. In der Nacht setzten die Wehen ein. Der Vater schickte Luigi, ihren älteren Bruder, los, die Hebamme zu holen. Sie stand an der Türe und wartete. Sie sah sie über den Hang kommen. Eine kleine, alte Frau. Ihre aufrechte Haltung ließ sie größer erscheinen. Die Füße unter den dicken Röcken verborgen. So machte es den Eindruck, als würde sie langsam herüberschweben über die Wiesen. Im Näherkommen sah die Hebamme, wie sie da am Türstock lehnte. Sie blieb bei ihr stehen, wandte sich ihr zu, sah sie an. Noch immer spürt sie die Ruhe, die sich in ihr unter dem grünen Blick der Hebamme auszubreiten begann. Sie hat diesen Blick in sich bewahrt und immer wieder hervorgeholt. Er hat sie wissen lassen, dass es mehr in ihr gibt als das bisher Gekannte, und seither sehnt sie sich danach, wieder so angesehen zu werden.

Komm, Maddalena, sagte die Comere damals und eilte ihr voraus in die Kammer neben der Stube. Die Mutter ging stöhnend auf und ab. Ich brauche dich hier, sagte die Alte zu ihr. Es war ungewöhnlich. Kinder müssen sich normalerweise vom Geburtsgeschehen fernhalten, sitzen häufig mit der Großmutter in der Stube und beten den Rosenkranz, damit alles gut geht.

Hol heißes Wasser, saubere Tücher. Dann wandte sie sich der Mutter zu und hieß sie, sich zur Untersuchung hinzulegen. Ihre Bewegungen waren von jahrelanger Erfahrung geführt und machten Maddalena ruhig.

Später, als die Hebamme ging, konnte Maddalena nicht mehr sagen, wer an der Tür wen begrüßt hatte, sie die Alte in ihrem Haus oder die Alte sie in ihrer Zukunft als Hebamme. Sie begleitete Alma seit diesem Tag zu den Geburten, sooft es ihr neben Arbeit und Schule möglich war.

Und nun ist sie selbst seit einigen Jahren die comere dieses Tales zwischen Sellastock und Falzaregopass. Vor ihr in der Wiese blühen die weißen Dolden der Schafgarbe. Sie benötigt sie das Jahr über gegen Unterleibsschmerzen und zur Entzündungshemmung. Ich muss sie morgen sammeln gehen, bevor sie verblühen, denkt sie und weiß zugleich, dass dieses Sammeln morgen nicht stattfinden wird. Sie sieht die knospenden Arnikablüten. Sie wird es nicht sein, die sie pflücken geht, wenn sie aufblühen.

Weiter wagt sie nicht, ihre Gedanken vorauszustrecken. Es scheint ihr, als ginge es nicht nur zu ihren Füßen in die Tiefe, sondern als gäbe es auch in ihr diese Kante, auf die sich ihr Leben zubewegt.

Von unten streicht ein feiner Windhauch herauf. Sie hält ihm ihr Gesicht entgegen, lässt sich das Neue hineinstreicheln in die Stirn. Und unter der Windzärtlichkeit erscheint ihr all das Unbekannte wohlgesonnen.

Sie setzt ihren Weg fort. Neben ihr halten sich in losem Abstand Lärchen am Hang fest. Ihr Holz und das der Zirben verwendete Carlo am liebsten zum Schnitzen, als er noch daheim war. In jeder freien Minute saß ihr Sohn und schnitzte kleine Figuren. Manchmal ein Tier, manchmal ein Wesen, entsprungen seiner Fantasie oder einer Sage. Eine Weile bereiteten ihm klumpige Croderes Vergnügen, die später von einer Unzahl an Murmeltieren abgelöst wurden. Wenn eine Figur fertiggestellt war, hatte er die Angewohnheit, mit suchendem Blick durchs Haus zu wandern. Sobald er in den alten Balken eine geeignete Ritze fand, klemmte er die Figur hinein. So wurde das Haus immer mehr von diesen Figuren besiedelt, die neben den Heiligenbildern der Familie beim Leben zusahen. Sie mochte diese Gewohnheit ihres Sohnes. Das Haus erschien ihr dadurch immer mehr wie eine Person, innen bewohnt von allerlei Wesen und Bildern.

Carlo ist das zwölfte Kind des Schmieds. Vor einem Jahr, er war gerade elf Jahre alt geworden, nahm ihn sein Onkel mit, hinaus ins Pustertal. Ein Bauer suchte einen Burschen, der ihm auf dem Hof zur Hand geht.

Schwer war ihr, als sie ihnen nachschaute. Die Gestalt ihres Sohnes schmächtig, sein Gang schwankend zwischen Trauer und Erleichterung, das Nie-genug hinter sich zu lassen. Sie sah seine Hoffnung, die Welt da draußen habe mehr zu bieten, auch für ihn. Sie weiß, wie es da ist hinter den Pässen, wie es klingt, wenn sie ihnen auf Deutsch „Krautwalsche“ nachrufen, mit der sie, die Ladiner, gemeint sind. Es prallte auf ihr auf, als wäre es ausgespuckt, nicht nur gesprochen. Vor Wut aufbäumen hätte sie sich wollen und gerne hätte sie die Schritte ihres Sohnes nun in eine andere Richtung gelenkt. Aber die Entscheidungen trifft der Hunger. Zumindest würde Carlo besser Deutsch lernen.

Schwerelos und zart lag der kleine Adler aus Lärchenholz, den er ihr im Gehen zugesteckt hatte, in ihrer Hand, fast als könnte er abheben, wenn sie nur die Faust öffnete und ihn emporhielte. So als könnten ihre Gedanken mit ihm über den Falzarego und den Heiligkreuzkofel fliegen und sie hinaustragen ins Pustertal.

Sie konnte die Faust nicht öffnen. Lieber hätte sie zugeschlagen mit ihr, aber da gab es kein Ziel. Viele Kinder sah sie zu früh gehen, entweder in den Tod oder zur Arbeit in die Fremde. Der Zorn darüber und ihre Ohnmacht brannten in ihr. Sie war immer seltener bereit, in das hier im Tal allgegenwärtige „Come Dio vol“, „Wie Gott will“ einzustimmen. Sie war in Innsbruck gewesen und sie wusste, dass das Elend nichts mit dem Willen Gottes zu tun hatte. Nie durfte sie dies laut aussprechen. Sie lebte vom...

Erscheint lt. Verlag 8.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 88-7283-883-5 / 8872838835
ISBN-13 978-88-7283-883-9 / 9788872838839
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