Tode, die wir sterben (eBook)
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31138-9 (ISBN)
Roman Voosen, 1973 in Rheinhausen geboren, wuchs im emsländischen Papenburg auf. In Bremen studierte er Kunstgeschichte und Germanistik. Er arbeitete als Rettungssanitäter, Ersatzteilsortierer, Altenpfleger, Barkeeper, Musikjournalist und Lehrer. Er lebt und arbeitet als Autor in Berg/Schweden. Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson sind seit 2013 miteinander verheiratet.
Roman Voosen, 1973 in Rheinhausen geboren, wuchs im emsländischen Papenburg auf. In Bremen studierte er Kunstgeschichte und Germanistik. Er arbeitete als Rettungssanitäter, Ersatzteilsortierer, Altenpfleger, Barkeeper, Musikjournalist und Lehrer. Er lebt und arbeitet als Autor in Berg/Schweden. Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson sind seit 2013 miteinander verheiratet. Kerstin Signe Danielsson, geboren 1983 in Växjö, verbrachte ihre Kindheit im tiefen småländischen Wald. Mit 19 ging sie nach Hamburg und studierte Geschichte und Germanistik. Nachdem sie unzählige Male zwischen Hamburg, Göteborg und Växjö hin- und hergezogen ist, lebt sie jetzt in Berg/Schweden. Sie arbeitet als Autorin und Lehrerin.
1
Kommissar Jon Nordh stemmte die Ellenbogen auf die Knie, drückte die Fäuste in die hohlen Wangen und blinzelte. Das Licht, das durch die Fenster in den Flur des Malmöer Polizeipräsidiums fiel, blendete ihn und ergänzte den seit Tagen anhaltenden dumpfen Schmerz hinter seinen Augen um ein grelles Stechen. Die Barthaare knisterten unter den Fingern. Er hätte nicht sagen können, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Am Tag der Beerdigung, klar, die lag nun mehr als zwei Wochen zurück. Aber danach? Nicht, dass es irgendeine Rolle gespielt hätte. Ebenso wenig wie die Schatten unter seinen Augen oder der Kaffeefleck auf der Jeans, den er eben erst entdeckt hatte. Er wusste nicht, woher der stammte, zum Frühstück hatte er jedenfalls keinen Kaffee getrunken, sein Magen war sowieso schon übersäuert, seine Gedärme krampften und im Rücken riss es bei jeder falschen Bewegung. Man musste kein Freudianer sein, um die Psychosomatik zu erkennen. Der Moment, in dem sein Leben wie ein Jenga-Turm in sich zusammengefallen war, lag zweiundzwanzig Tage, elfeinhalb Stunden und einige Minuten zurück. Was die Katastrophe anging, funktionierte sein innerer Chronograf mit einer perversen Präzision. Aber zur wahren Zeit, zum Rhythmus seines Leids und seiner Schmerzen, den bedeutungsleeren Tagen und traumlosen Nächten, zur Ich-Zeit, die mit keiner Uhr zu messen war, hatte er jeden Kontakt verloren. Er ließ die Fäuste bis zu den Schläfen hochrutschen und drückte zu, so als könne er sich die in Schleifen wiederkehrenden Bildabfolgen und Sinneseindrücke aus dem Schädel pressen: die Reflexionen von Blaulicht auf nassem Asphalt. Eine Pfütze, auf der in psychodelischen Mustern Öl schimmert. Der ätherische Geruch ausgelaufenen Benzins. Das auf dem Kopf liegende Autowrack und das Ächzen und Zischen eines Hydraulikspreizers. Der fluchende Feuerwehrmann. Scherben. Die viel zu große Blutlache. Absperrband, das im Wind surrt. Bizarr verformtes Blech, dazwischen Lindas dunkles, welliges Haar und der Hauch des Parfums, das sie nur bei besonderen Anlässen auflegt. Schließlich ihre längst erkaltete Hand in seiner, starr wie eine Klaue. Bengtsson von der Verkehrswacht, der ihn mit aller Kraft vom Wagen wegzuzerren versucht. Nordhs besinnungslose Fausthiebe, sein lautloses Schreien. Als es den Einsatzkräften schließlich gelungen war, ihn mit vereinten Kräften zurück hinter die Absperrung zu ziehen, hatte er bereits zu viel gesehen. Er hatte erkannt, wer neben seiner Frau am Steuerrad gesessen hatte, auch wenn Carl-Johans Gesicht in einem üblen Zustand gewesen war. Nordh hatte es gesehen, aber nicht begriffen, weder in jenem Augenblick noch in diesem Moment, drei Wochen und anderthalb Tage später. Was hatte Linda an diesem scheinbar ganz normalen Dienstagabend, an dem sie an einem Pilateskurs in der Turnhalle in Bunkeflo hätte teilnehmen sollen, im Wagen seines engsten Kollegen und Freunds auf einer Landstraße nördlich von Malmö zu suchen gehabt?
Die Bürotür wurde geöffnet und riss ihn aus seinen Gedanken. Er erhob sich ächzend aus dem Schalensitz. Noch so neue Zipperlein: die Knie fühlten sich an wie rostige Scharniere, die Schultern waren verkrampft. Die Polizeichefin der Region Süd musterte ihn, nach seinem Empfinden einen Augenblick zu lang, dann setzte sie ein professionelles Lächeln auf und bat ihn hinein. Er kannte Nora Mellander seit der Polizeihochschule, sie war zwei Semester unter ihm gewesen und auf der Silvesterparty der Jahrtausendwende hatten sie in der Küche eines Studentenwohnheims miteinander rumgemacht, Frohes neues Millennium, ein einmaliges Techtelmechtel, über das sie später kein Wort mehr verloren hatten. Während er nach einer kurzen Episode bei der Wirtschaftskriminalität seit nunmehr fünfzehn Jahren für die Mordkommission arbeitete, hatte Mellander in der Verwaltung Karriere gemacht. Ihr zielorientiertes Vorgehen und ein nicht zu ignorierender Führungswille waren ihm schon damals, in der Küche des Studentenwohnheims, aufgefallen. Statt der Paradeuniform, die sie bei öffentlichen Auftritten trug, war sie nun relativ leger gekleidet, casual friday oder wie auch immer das hieß, was seine fleckige Jeans jedoch nicht unsichtbar werden, aber den Unterschied im Erscheinungsbild wenigstens ein bisschen kleiner wirken ließ. Vielleicht war es bei allem berechtigten Selbstmitleid unklug von ihm gewesen, sich am Morgen nicht am Riemen gerissen und in einen halbwegs präsentablen Zustand gebracht zu haben. Jetzt war es dazu zu spät. Wenigstens habe ich keine Alkoholfahne, dachte er, als er an ihr vorbei in das großzügig geschnittene, lichte Büro trat.
»Nimm doch Platz, Jon. Etwas zu trinken? Kaffee, Tee, ein Wasser?« Er schüttelte den Kopf. Beide setzten sich, sie hinter dem Schreibtisch, er davor. Pastoral faltete sie die Hände auf der Tischplatte. Wie gepflegt ihre Fingernägel waren, wie tadellos gebunden die perlmuttfarbene Schleifenbluse. Sie roch gut, das war ihm sofort aufgefallen, als er an ihr vorbeigegangen war, ein Dreiklang aus Shampoo, Hautcreme und Deodorant. Davon hatte er beruflich immer profitiert, den offenen Sinnen, dem Wahrnehmen von Details. Er funktionierte offenbar noch, sein innerer Detektiv. »Zunächst einmal mein aufrichtiges Beileid, Jon. Wie furchtbar. Unbegreiflich. Natürlich kann sich niemand, der es nicht selbst erlebt, vorstellen, was ein solcher Verlust bedeutet. Aber ich kann dir versichern, dass wir alle hinter dir stehen. Kollegial, menschlich.« Wirkungspause. »Wenn es etwas gibt, was wir tun können, um dich zu unterstützen, lass es uns bitte wissen. Niemand sollte mit einem solchen Schicksalsschlag allein fertigwerden müssen. Wir sind wie eine Familie, Jon, wir stehen an deiner Seite.«
Er fragte sich, ob sie sich die Worte im Vorhinein zurechtgelegt hatte, aufgeschrieben, durchgestrichen, umgeschrieben, auswendig gelernt. Vielleicht hatte sie es beim Frühstück ihrem Mann vorgetragen, einem hohen Tier bei der Staatsanwaltschaft, und auf sein Feedback hin kleine Korrekturen vorgenommen und den Sätzen den letzten Schliff gegeben. Oder sie gehörte zu den rhetorisch Begabten, die sich solche Formulierungen aus dem Ärmel schütteln konnten.
Ihr warmer Blick lag auf ihm. Wie eine kuschelige Decke. Aber ihm war nicht kalt, im Gegenteil, er brannte innerlich. Lichterloh.
»Ich will den Fall, Nora.«
Er spuckte ihr die Worte hin.
Wieder ließ sie ihren Blick einen Moment zu lange auf ihm ruhen.
»Den Fall? Ich fürchte, ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
Sie spielte die Ahnungslose, damit hatte er gerechnet.
Er seufzte müde.
»Ich will Lindas Tod selbst untersuchen. Carl-Johans natürlich auch.«
Seine Hand, die auf dem Oberschenkel lag, um den Kaffeefleck zu verdecken, zitterte.
»Das verstehe ich«, sagte sie mit Mitgefühl in der Stimme, das möglicherweise sogar aufrichtig war, »das verstehe ich gut.« Sie lächelte sanft. »Dein Teamleiter hat mich über deinen Wunsch in Kenntnis gesetzt.« Natürlich hatte sein Chef das. Über die wüsten Beschimpfungen wahrscheinlich auch. Sie entfaltete die Hände und nahm eine offene Körperhaltung ein. Lernte man so etwas auf Fortbildungen für Führungskräfte? Oder war sie ein Naturtalent? »Nur ist es leider so, dass wir das nicht möglich machen können, Jon, und wenn du ein wenig in dich gehst und die Sache mit etwas Abstand betrachtest, wird dir das sicherlich auch klar.«
In sich gehen.
Die Sache.
Mit Abstand betrachten.
»Aber …«
Er presste die Lippen aufeinander und die zitternde Hand mit so viel Kraft aufs Bein, bis sie endlich Ruhe gab.
»Du bist so lange an Bord, Jon, du kennst doch die bewährten Routinen und Abläufe, die Regeln und Vorschriften. Voreingenommenheit tut keiner Untersuchung gut, wer wüsste das besser als ein begabter und erfahrener Ermittler wie du?« Die Schmeichelnummer. Aber noch wichtiger: Sie sagte nicht Fall, sie sagte Untersuchung. Was im Grunde bedeutete, dass niemand die Sache ernst nahm. Dass die Ermittlung bereits so gut wie abgeschlossen war. Dass keiner außer ihm den Ungereimtheiten Bedeutung zumaß.
»Ist das so?« Er sog scharf Luft ein und sein Herz schlug viel zu schnell. Die Worte stolperten aus seinem Mund. »Dann sag mir doch bitte, warum die Airbags nicht ausgelöst wurden. Warum der nagelneue Wagen mit all seinen Sicherheitsassistenzsystemen auf gerader Strecke von der Straße abgekommen ist und sich überschlagen hat, bevor er gegen eine Eiche gekracht ist, obwohl Carl-Johan ein sicherer und routinierter Fahrer ist. Was er und meine Frau überhaupt zusammen …«
Der Satz havarierte. Es war ihm noch immer unmöglich, ihn zu Ende zu bringen. Ihn zu Ende zu denken. Ohne es zu merken, hatte er die Faust zum Mund geführt und hineingebissen. Daher kam der Schmerzimpuls überraschend. Als ihm bewusst wurde, was er tat, zwang er die Hand zurück auf den Oberschenkel.
»Ich verstehe das«, sagte sie mit einer Stimme, die klang, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Ich verstehe dich, Jon.«
Er räusperte sich, trotzdem wurde seine Stimme rau.
»Die Untersuchung des Autos muss doch irgendetwas ergeben haben.« Er suchte endlich Augenkontakt. »Nora, ich bitte dich!«
Sie seufzte.
»Ich muss es dir doch wirklich nicht erklären, Jon, du kennst die Spielregeln. Vertraue uns, vertraue deinen Kollegen. Wenn am Ende der sorgfältigen Begutachtung ein Ergebnis feststeht, bist du der Erste, der informiert wird. Aber bis dahin …«
Jetzt war aus der Untersuchung eine Begutachtung geworden. Sie breitete die Arme aus und zeigte die Innenfläche ihrer kleinen Hände. Noch so...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 1. Band • Bandenkriminalität • Brutal • Drogenbande • Dunkle Vergangenheit • Ermittlerduo • Geheimdienst • Krimi Neuerscheinung 2024 • Machtspiel • Mordfall • neue Krimireihe • revierkämpfe • Russland • Schwedenkrimi • Skandinavien-Krimi • Ungleiches Ermittlerteam • Urlaubskrimi • Urlaubslektüre |
ISBN-10 | 3-462-31138-7 / 3462311387 |
ISBN-13 | 978-3-462-31138-9 / 9783462311389 |
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