Der Tag, an dem der Sommer zu Ende ging -  Vivien Neufeld

Der Tag, an dem der Sommer zu Ende ging (eBook)

Die Flutkatastrophe im Ahrtal und unsere Familie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
SCM Hänssler im SCM-Verlag
978-3-7751-7640-8 (ISBN)
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Es ist der 15. Juli 2021. Vivien, ihr Mann Harry und ihre sieben Monate alte Tochter sind unterwegs zum Haus der Schwiegereltern im Landkreis Ahrweiler. Dass sich dort in der Nacht die schlimmste Naturkatastrophe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg ereignete, wissen sie noch nicht. Ebenso wenig, dass weder die Schwiegereltern noch der jüngere Schwager diese Nacht überlebten. Erst mehrere Wochen später werden die Körper von Hans und Ella, Harrys Eltern, gefunden. Sein Bruder Franky bleibt vermisst. Vivien Neufeld berichtet aus ihrer Sicht, schildert ihre Wahrnehmungen, ihre Gefühle und Erinnerungen an das, was vor der Flut war, und stellt sich die Frage: 'Was bleibt?' Sie schreibt über ihre Trauer und darüber wie sie all das dennoch überstehen. Am Ende findet sie für sich eine Antwort darauf, was bleibt, auch wenn alles andere vergeht.

Kapitel 1


Es gibt Tage, an die erinnert man sich selbst nach einer gewissen Zeit noch so, als wären sie gerade erst vergangen. Der 15. Juli 2021 – ein Donnerstag – war für mich ein solcher Tag.

Harry, der sich zu der Zeit immer vor seinem 9-Uhr-Meeting um unsere sieben Monate alte Tochter kümmerte, weckte mich an dem Tag aber etwas früher als sonst, um circa 8:15 Uhr. Seine Stimme war ruhig, aber alarmierend zugleich: »Kannst du Kaia übernehmen? Ich muss nach Ahrweiler. Meine Eltern brauchen Hilfe beim Kellerauspumpen.«

Ich bat ihn darum, mir fünf Minuten zu geben, um wach zu werden und kurz ohne Kind ins Bad zu gehen. Dort nahm ich mein Handy zur Hand und öffnete völlig nichts ahnend meine neuen Nachrichten.

Meine beste Freundin war am Vorabend aus Koblenz zu ihren Eltern nach Remagen gefahren, weil der kleine idyllische Bachlauf, der durch ihren Garten führt, nach dem vorherigen Tag des Starkregens schon weit übergetreten war. Sie befürchtete daher, dass ihre Eltern Hilfe beim Trockenlegen des Erdgeschosses brauchen würden, sollte das Wasser noch weiter steigen und sich eventuell durch Toiletten und andere Abflüsse hochdrücken. Ich hatte ihr meine Hilfe angeboten und wollte unbedingt wissen, wie die Lage dort war. Zuerst hörte ich eine kurze Sprachnachricht von ihr ab, die sie mir um kurz vor 1 Uhr in der Nacht geschickt hatte. Ich ging fast schon davon aus, dass der Bach weiter gestiegen war und sie die ganze Nacht gegen das Wasser zu kämpfen hatten. Doch sie berichtete davon, dass sie über Social Media Fotos und Videos aus Orten an der Ahr, wie Dernau, Mayschoß oder Rech, gesehen hatte, in denen Wohnwagen von den Wassermassen durch Brücken gedrückt und zusammengefaltet worden seien. Vorstellen konnte ich mir das nicht, obwohl ich schon am Tag zuvor ab 17 Uhr immer wieder Fotos von Bekannten auf Instagram gesehen hatte, die den steigenden Ahrpegel in Altenahr dokumentierten und auch davon berichteten, dass ganze Autos nicht mehr da seien. »Klar«, dachte ich, als ich das hörte. »Wenn ich sehen würde, dass das Wasser steigt, dann würde ich mein Auto auch wegfahren.« Auf die Idee, dass diese Autos von der Ahr weggespült worden waren, kam ich gar nicht.

Die nächste Nachricht meiner Freundin, gesendet um 8 Uhr, lautete: »Ich möchte weinen. In Heimersheim gibt es wohl schon eine Ertrunkene. Leute sitzen auf den Dächern und warten, dass der Heli kommt, um sie zu evakuieren.« Heimersheim, der Nachbarort meiner Schwiegereltern. Ich antwortete ihr nicht direkt, sondern öffnete den nächsten Chat.

In unserer Familiengruppe schickten meine Brüder schon am frühen Morgen Fotos von meterhohem Wasser in Ahrweiler und der Innenstadt von Bad Neuenahr, die sie nachts von Freunden bekommen hatten. Ich brauchte einen kurzen Moment, um genau einzuordnen, wo diese Fotos aufgenommen worden waren. Ein Foto zeigte einen Platz, auf dem man die Häuser ringsum nur ab dem ersten Stockwerk sehen konnte, weil alles darunter unter Wasser war. Man sah Autos, die auf diesem Platz »schwammen« oder viel eher dorthin gespült worden waren. Das alles war so surreal. Es war surreal, die Stadt so zu sehen, in der ich zur Schule gegangen und zum größten Teil aufgewachsen war und in der meine Eltern immer noch wohnten. Kaum begreifend, was ich da gerade gesehen hatte, und dennoch wie vom Blitz getroffen, fuhr ich mit meinem Morgenprogramm fort, putzte im Eiltempo meine Zähne und machte mich fertig.

Als ich aus dem Bad stürmte, teilte ich Harry mit, ich würde mitkommen, unsere Tochter in der Trage verstauen und hätte so zwei freie Hände zum Helfen. Er hatte in der Zwischenzeit schon seinen Teamleiter informiert, dass er nicht am regulären Meeting teilnehmen und sich später dann aus Ahrweiler einloggen würde, um zu arbeiten.

Wir packten also das unserer Meinung nach Wichtigste zusammen – Windeln, Trage, Brei, ein Spielzeug und Harrys Laptop – und machten uns keine Viertelstunde nach meinem Aufwachen auf den Weg von Bonn in Richtung Ahrweiler.

Harry fuhr und ich saß hinter ihm, um im Notfall die Kinderbespaßung zu übernehmen.

Nebenbei las ich – immer noch nicht wirklich wach – mehr über das, was da im Ahrtal in den letzten Stunden passiert sein musste: Nachrichten in der Familiengruppe mit meinen Schwiegereltern und Schwagern. Ein Schwager berichtete, dass er niemanden erreichen könne, alle Leitungen seien tot. Er habe aber Fotos vom direkt angrenzenden Heimersheimer Bahnhof gesehen, der komplett unter Wasser sei. Durch die Worte, mit denen Harry mich kurz vorher geweckt hatte, war ich bis dahin davon ausgegangen, dass er bereits mit seinen Eltern oder seinem Bruder, der bei ihnen wohnte, Kontakt gehabt hatte. Bei dem Nachrichtenaustausch in der Gruppe wurde mir aber bewusst, dass auch er noch nichts von ihnen gehört hatte.

Nachrichten erster regionaler Zeitungen ploppten auf, die zu diesem Zeitpunkt von vier Toten durch »Unwetterchaos« berichteten. Durch die Verkehrsmeldungen im Radio erfuhren wir, dass die A61, über die wir ursprünglich zu fahren planten, durch den Starkregen am Tag zuvor teilweise unterspült worden und daher aus Richtung Bonn komplett gesperrt sei.

Wir fuhren also noch in Bonn von der Autobahn ab, um über die B9 am Rhein entlang in Richtung Ahrtal zu gelangen, und informierten Harrys ältere Halbbrüder in der Familiengruppe, dass wir uns unseren Weg zu seinem Elternhaus suchten.

Noch während wir durch Bonn fuhren, fiel mir auf, dass ich einen Löffel für Kaias Mittagsbrei vergessen hatte. »Halb so wild«, sagte Harry. »Bei meinen Eltern in Heppingen haben wir ja Löffel.«

Mittlerweile war auch ein reger Schriftwechsel in der Familiengruppe meiner Familie inklusive Onkel, Tante, Cousins und Oma zu lesen. Meine Mutter berichtete, dass sie in Ahrweiler bereits seit dem Vorabend keinen Strom mehr hätten und dass auch die Wasserversorgung nicht mehr funktioniere. Ich bot mich noch an, etwas für meine Eltern und meinen Bruder, der gerade zu Hause war, einzukaufen, da in der Stadt selbst logischerweise auch das Einkaufen ohne Stromversorgung schwierig war. Die Antwort folgte prompt: »Ihr kommt gar nicht nach Ahrweiler. Die A61 ist in Teilen unterspült.« Zudem, schrieb meine Mutter, seien die Brücken nicht passierbar.

In der Zwischenzeit hatten wir unsere Abfahrt erreicht. Ich schaute auf den Sitz neben mir, auf dem unsere Tochter friedlich schlief. Vor uns staute es sich. Kurz vor Bad Bodendorf, zwei Dörfer entfernt von Heppingen, dem Ortsteil von Bad Neuenahr-Ahrweiler, in dem Harrys Eltern wohnten. Autos wendeten. Nach einigen Minuten des Wartens merkten wir, dass es hier wirklich nicht weiterging. Auch wir wendeten und wollten nun durch Sinzig fahren. Doch kaum wieder abgefahren, standen wir Hunderte Meter vom eigentlichen Flussbett der Ahr entfernt vor einem dreckigen, reißenden Fluss. Die Brücke, die uns auf die andere Ahrseite führen sollte, war kaum noch zu sehen. Feuerwehr und Polizei sperrten die Straße.

Wir überlegten, wie wir um die Ahr herum doch noch unser Ziel erreichen konnten, und entschieden uns für einen Weg durch die höher gelegenen Dörfer, auf der anderen Ahrseite entlang. Unterwegs hatten wir immer wieder kein Netz. »Vielleicht kann sich deswegen auch niemand bei uns melden«, dachte ich.

»Da steht ein Auto im Feld«, sagte Harry, als wir wieder in der Talebene ankamen. Ich schaute nach draußen. »Da ist Wasser«, bemerkte ich. »Das Auto steht im Wasser.« Ich traute meinen eigenen Augen kaum. Konnte das wirklich sein? »Nein«, sagte Harry. »Da ist doch kein Wasser.«

Ich widersprach nicht. »Noch eine Kurve und über die Brücke, dann sind wir da«, dachte ich. Doch kaum abgebogen, sahen wir wieder … Wasser. Wasser in einer Absenkung vor der Brücke über die Ahr. Rote Rettungsboote, die dort unterwegs waren. Kein Durchkommen. Dabei trennten uns unter normalen Bedingungen keine zwei Minuten mehr von unserem Ziel. Mittlerweile waren wir schon fast zwei Stunden unterwegs für eine Strecke, die uns sonst nicht mehr als 25 Minuten kostete.

Also wieder umdenken, wieder eine neue Route überlegen. Wir blieben zunächst auf der »falschen« Ahrseite. Es kämen ja noch genügend Brücken, zumindest dachten wir das. Wir bewegten uns im Schneckentempo durch Heimersheim. Überall Feuerwehr, andere Hilfs- und Rettungskräfte, Schläuche, die aus Häusern herausragten, mithilfe derer Wasser auf die Straßen geleitet wurde. Und noch bevor wir die nächste Brücke erreichten, war da wieder fließendes Wasser auf der provisorisch abgesperrten Straße. Wir sprachen kaum, abgesehen von der ständigen Neuplanung unserer Route, starrten ungläubig aus dem Fenster, wenn wir sahen, wie nah die Ahr an Straßen herankam oder wie weit außerhalb ihres Flussbettes sie toste. Mit jedem Weg, den sie uns versperrte, fuhren wir weiter einen alternativen Weg. Was blieb uns auch anderes übrig?

Schließlich kamen wir in Bad Neuenahr am Krankenhaus an. Doch auch hier konnten wir wieder Boote auf der Straße weiter unterhalb sehen. An einer Kreuzung sperrte das THW eine Abbiegung ab, und wir fragten letztlich nach, welchen Weg wir auf die andere Ahrseite nehmen konnten. Die Antwort erreichte zwar meine Ohren, aber so richtig verarbeiten konnte mein Kopf sie in dem Moment nicht: »Am besten nach oben, in Niederzissen auf die Autobahn und von Süden kommend über die große Ahrtalbrücke dann in Ahrweiler abfahren. Alle anderen Brücken gibt es nicht mehr.« Die Ahrtalbrücke, über die in 55 Meter Höhe die A61 über die Ahr führt. Und die sollte jetzt die einzig passierbare Brücke auf die andere Seite sein? Wir schwiegen und fuhren wieder weiter nach oben.

Meine Mutter kündigte in der Gruppe an, dass sie ihr...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7751-7640-3 / 3775176403
ISBN-13 978-3-7751-7640-8 / 9783775176408
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