Warte auf mich am Meer (eBook)
480 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-32202-1 (ISBN)
Nach sechzig turbulenten Ehejahren versammeln Evelyn und Joseph ihre Familie in dem wunderschönen alten Haus am Strand. Denn Evelyn hat eine erschütternde Diagnose erhalten, und Joseph will nicht ohne sie sein. Während alle unter Schock stehen, lassen die beiden ihre Liebe Revue passieren - die glücklichen Anfänge, aber auch die schwierigen Zeiten. Doch als Evelyns Zustand sich verschlechtert, stehen die beiden vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Wie soll ihre Geschichte enden?
Amy Neffs Debütroman »Warte auf mich am Meer« ist eine Liebeserklärung an die Stadt am Meer, in der ihre Familie seit den frühen 1900er Jahren die Sommer verbrachte. Ihr Roman erscheint in den USA und Kanada bei Park Row und in UK bei Bloomsbury und wurde in 19 Sprachen übersetzt. Sie und ihr Mann leben mit ihren beiden Söhnen in Connecticut. Mehr Informationen unter amyneff.com.
Eins
Evelyn
Juni 2001
Josephs Worte lauern schon im Hintergrund und warten nur darauf, ausgesprochen zu werden. Ich greife nach seiner Hand und lasse mich von dieser Landkarte aus Schwielen beruhigen, die sich schützend über meine legt. Seine Nagelhäute haben Schmutzränder vom Einpflanzen der Blumenzwiebeln am Nachmittag, und meine Finger zittern in seinem Griff. Wo sich unsere Handflächen berühren, bildet sich ein leichter Schweißfilm.
Gegenüber von uns auf dem durchgesessenen Sofa sitzen unsere Kinder. Sie sind mucksmäuschenstill. Die beiden Lampen, die neben uns stehen, verbreiten einen warmen Lichtschein. Joseph hat sie angemacht, als es langsam dunkel wurde. Durch die Fenster fällt das Mondlicht glänzend auf die beiden Flügel im Arbeitszimmer und wird von den elfenbeinfarbenen Tasten reflektiert. Die Fenster sind offen und lassen die Nacht herein, die gekommen ist, während wir hier zusammensaßen. Trotzdem ist es stickig und außergewöhnlich heiß für einen Frühsommertag in Connecticut. Abgesehen vom Deckenventilator über uns und dem sanften Rauschen der Wellen am Bernard Beach, ist es still.
Als unsere Kinder klein waren und wir noch im Oyster Shell Inn wohnten, versteckte sich der Beistelltisch unter halb fertigen Puzzles mit Motiven von Leuchttürmen in New England. Heute Abend verschwindet er fast unter einer Häppchenplatte mit Käsewürfeln, die allmählich glänzen und weich werden, ein paar Stängeln, von denen die Trauben gezupft wurden, und ein paar einsamen Crackern. Joseph hatte gesagt, ich solle mir die Mühe sparen – aber Thomas war doch extra aus Manhattan gekommen, und wir hatten ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Der seltene Besuch unseres Sohnes lieferte mir einen Vorwand, zu diesem neuen Wein- und Käsegeschäft in der Stadt zu gehen. Es liegt gegenüber von Vic’s Sandwiches, das es schon gab, als unsere Enkel klein waren und Joseph sie mit Dollarscheinen losschickte, damit sie in Wachspapier gewickelte Sandwiches für unser Mittagessen am Strand holten. Joseph hatte versucht, es mir auszureden, aber ich finde mich schon noch zurecht, obwohl ich mich langsamer bewege als früher.
Niemand spricht, alle warten darauf, dass Joseph seine unheilvolle Einleitung fortsetzt, den Grund für diese Familienversammlung. Wir müssen etwas Wichtiges mit euch dreien besprechen.
Violet, das Nesthäkchen der Familie, inzwischen eine erwachsene Frau mit Mann und vier eigenen Kindern, sitzt zwischen ihrem Bruder und ihrer Schwester auf dem abgewetzten Sofa. Ich habe es eigenhändig neu gepolstert, als die Kinder aus dem Haus waren und das Inn geschlossen hatte, obwohl es sich nicht vermeiden ließ, dass unsere Enkel neue Flecken darauf hinterließen und die Polsterung in der Mitte der Kissen mit der Zeit wieder weich wurde.
Unsere Kinder sind hier im Oyster Shell Inn groß geworden. Genauso wie ich, auf eine gewisse Art zumindest. Mein Bruder Tommy, Joseph und ich waren hier für viele Jahre unzertrennlich und platzten ständig durch die Fliegengittertür herein, bis uns Josephs Mutter unter Schürzengewedel und Gelächter auf die Veranda vor dem Haus scheuchte, bevor wir die Gäste stören konnten.
Doch die Zeit verging, und ehe wir es recht gemerkt hatten, trugen unsere Kinder die Reservierungen in den gut gefüllten Kalender des Inns ein. Sie fegten die Böden, und sie halfen mir, den Teig für die Frühstücksbrötchen auszurollen und auszustechen. Unsere Enkel machten später ebenfalls mit, zeigten den Gästen ihre Zimmer, nahmen von der Sonne gebleichte Laken von der Wäscheleine, spülten mit dem Gartenschlauch den Sand von den gestapelten Strandstühlen. Unser Inn war immer voll, doch die Gesichter kamen und gingen wie das Rauschen im Radio, wie ein Hintergrundgeräusch zu dem Leben, das wir uns aufbauten. Selbst jetzt, da wir uns anschicken, es den Kindern zu erzählen, kann ich nicht begreifen, was wir alles hinter uns lassen werden. Alles, was ich mir wünsche, ist, wieder von vorn zu beginnen, zusammen am Anfang zu stehen.
»Es gibt keine einfache Art, es in Worte zu fassen. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll …« Joseph stottert und drückt meine Hand.
Jane, unsere Älteste, schaut mich aufmerksam an. Ihr Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten. Früher hat sie ihre Gefühle unter ihrer wilden Haarmähne versteckt. Jetzt trägt sie es professionell geglättet und auf Schulterhöhe, ein Look, der irgendwie besser zu anderen Nachrichtensprecherinnen passt. Sie bewegt sich mit einer Anmut, die sie als schlaksiger Teenager noch nicht hatte. Ich muss den Blick abwenden, weil ich befürchte, dass mein Gesicht verraten wird, was mein Mund ihr verschwiegen hat.
Thomas fixiert Joseph. Sein Mund ist eine harte Linie. Wie ähnlich sie gebaut sind – beide gut einen Meter achtzig groß, mit der Figur eines Schwimmers: breite Schultern und schmaler Oberkörper. Doch im Gegensatz zu Joseph, der noch mit über sechzig dunkle Haare hatte, bevor es an den Schläfen dünner und weiß zu werden begann, ist Thomas schon früh ergraut. Bereits als er an der New York University seinen Abschluss machte, glänzten silberne Haarsträhnen unter seinem Doktorhut. Er war immer so ernst, lächelte nur für Fotos, selbst am Tag seines Abschlusses. Sein Gesicht sieht schmaler aus als an Weihnachten, und ich weiß nicht, ob Ann und er abends gemeinsam kochen oder ob er sein Abendessen allein am Schreibtisch einnimmt. Noch immer trägt er nach einem langen Tag voller Meetings mit anderen Abteilungsleitern seinen Anzug. Nur wegen der drückenden Hitze hat er sein Jackett ausgezogen. Sogar sein Schwitzen hat etwas Beherrschtes, der Schweiß bleibt unter den Haaren und wagt es nicht, ihm über die Stirn zu laufen.
»Eure Mutter und ich …« Joseph zögert kurz, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Ich bin mir nicht sicher, ob er es schaffen wird, die Worte auszusprechen. »Ihr wisst, wie sehr wir uns lieben, wie wir uns jeden Tag in unserem Leben geliebt haben. Wir lieben euch alle auch so sehr, das müsst ihr uns glauben … aber wir können uns inzwischen einfach nicht mehr vorstellen, ohne den anderen weiterleben zu müssen …« Beinahe falle ich ihm ins Wort, um die Schuld auf mich zu neh men und ihm zu ersparen, unseren Kindern das Herz brechen zu müssen. Unsere Kinder, unsere Kleinen, die jetzt allesamt Erwachsene sind. Die sich früher immer an meine Knie klammerten, erfüllt von Liebe und Bedürftigkeit, und sich lautstark darum stritten, wer auf meinen Schoß sitzen durfte. Sie konnten mir gar nicht nah genug sein. Dann gingen sie auf einmal zur Schule, zogen weg und führten ihr eigenes Leben, fanden Freunde und trafen Entscheidungen und begingen Fehler, sie verliebten und entliebten sich, und während ihre Körper aus unserem Fleisch und Blut gemacht waren, war ihr Innerstes es eben nicht mehr. Und die ganze Zeit waren Joseph und ich noch hier, wie eine einsame Insel, verblüfft darüber, wie die Jahre an uns vorbeigerauscht waren.
Er holt tief Luft und nimmt seine ganze Kraft zusammen. »Wir wollen das letzte Kapitel unseres Lebens nicht dem Zufall überlassen, mit einem elenden, schleppenden Ende für alle Beteiligten. Ich weiß, das wird euch jetzt erst einmal schockieren, es fühlt sich auch schockierend an, es auszusprechen, wir haben selbst eine Weile gebraucht, bis wir alles zu Ende durchdacht hatten, aber wir halten es für die beste Entscheidung …«
»Was denn?«, wirft Thomas ein, der ungeduldig wird, als Joseph ins Stocken gerät.
»Wir haben vor, unserem Leben in einem Jahr ein Ende zu setzen. Nächsten Juni.« Josephs Stimme bricht.
»Wie bitte, was hast du gesagt?« Violet reißt die Augen auf.
»Wir wollen nicht, dass einer von uns vor dem anderen stirbt. Wir wollen nicht ohneeinander leben … wir wollen selbst bestimmen, wie unsere Geschichte endet.« Diese Erklärung spricht er jetzt sanfter aus, aber seine Stimme klingt ge quält, als würde er sein Bestes tun, um die Bürde leichter zu machen, die wir ihnen auferlegen.
»Was?«, fragt Thomas entgeistert.
»Ja, wovon redet ihr überhaupt?«, stößt Jane hastig hervor und stellt ihr Glas auf den Tisch, als müsste sie die Hände frei haben.
»Das hier wird unser letztes Jahr.« Es ist surreal, Joseph diese Worte aussprechen zu hören, obwohl ich sie schon vor ihm ausgesprochen habe. Das hier wird mein letztes Jahr.
»Das ist ein Witz, oder?« Jane lässt ihren Blick zwischen uns beiden hin- und herwandern, als würde sie nach der Pointe suchen.
»Das ist kein Witz«, sage ich, wobei ich mir verzweifelt wünsche, dass wir uns wirklich so einen Spaß erlauben könnten.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Violet in flehendem Ton.
»Wir werden es euch erklären.« Ich beuge mich vor und rutsche dabei an den vorderen Rand des Sofas.
»Ja, bitte. Das Ganze klingt ziemlich krank.« Thomas wirft sich zurück auf die Polster, weg von mir.
»Euer Vater und ich, wir werden langsam älter …«
»Aber du bist noch keine hundert! Meine Güte, du bist doch nicht mal achtzig«, wendet Jane heftig ein. »Wie alt wirst du, sechsundsiebzig?«
Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich fast siebenundsiebzig sein und Joseph neunundsiebzig, aber die Korrekturen sind so nebensächlich, dass ich sie gar nicht ausspreche. »Wir werden langsam älter, hab ich gesagt. Bitte lasst mich ausreden.«
Ich versuche, meine Nerven unter Kontrolle zu bringen. Die ganzen Begründungen, die wir einstudiert haben, bleiben mir im...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2024 |
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Übersetzer | Wibke Kuhn |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Days I Loved You Most |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Abschied • amy neff • Debütroman • eBooks • Emotional • Große Gefühle • Große Liebe • Jojo Moyes • Küste • Liebesromane • miranda crowley heller • Neuerscheinung • New England • Nicholas Sparks • Panorama • Roman • Romane • romantisch • Rückblick • selbsbestimmt sterben • the days i loved you most • tragisch |
ISBN-10 | 3-641-32202-2 / 3641322022 |
ISBN-13 | 978-3-641-32202-1 / 9783641322021 |
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