Das Skalpell des Engels -  Claudio Coletta

Das Skalpell des Engels (eBook)

Kriminalroman aus Italien
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
238 Seiten
Lenos Verlag
978-3-03925-713-3 (ISBN)
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Lorenzo Baroldi ist leitender Arzt in einem Krankenhaus in Rom. Nachdem ein junger Nigerianer auf seiner Station mit seltsamen, vorerst unerklärlichen Symptomen plötzlich stirbt und Baroldi von zwei ähnlichen Fällen aus anderen Kliniken Kenntnis bekommt, beschließt er, der Ursache der beunruhigenden Todesfälle auf den Grund zu gehen. Zur selben Zeit gibt der Tod eines Unbekannten, der mitten in der Stadt an einem Baukran erhängt aufgefunden wird, Rätsel auf. Baroldi vermutet eine Verbindung zu den unter mysteriösen Umständen verstorbenen jungen Migranten und bittet seinen langjährigen Freund Nario Domenicucci, einen erfahrenen Kommissar aus Genua, um Unterstützung. Immer tiefer geraten die beiden in eine komplizierte Spurensuche, die vom Asylzentrum in Rom bis in die Schweiz und deren berühmte Pharmaindustrie führt. Claudio Coletta beleuchtet in seinem klassisch komponierten Roman noir nicht nur die Rolle von Pharmakonzernen in der medizinischen Forschung auf spannende Weise, sondern verhandelt auch damit verbundene moralisch-ethische Fragen.

Claudio Coletta, geboren 1952, ist Kardiologe und Dozent an der Universität La Sapienza in Rom. 2007 war er Mitglied der internationalen Jury des Filmfests Rom. 2011 veröffentlichte er seinen ersten Roman, 'Viale del Policlinico', für den er mit dem Premio Raffaele Crovi ausgezeichnet wurde. In der Folge veröffentlichte er fünf weitere Romane und zwei Kurzgeschichten.

Claudio Coletta, geboren 1952, ist Kardiologe und Dozent an der Universität La Sapienza in Rom. 2007 war er Mitglied der internationalen Jury des Filmfests Rom. 2011 veröffentlichte er seinen ersten Roman, "Viale del Policlinico", für den er mit dem Premio Raffaele Crovi ausgezeichnet wurde. In der Folge publizierte er fünf weitere Romane und zwei Kurzgeschichten.

3


Lorenzo hatte schon unerwartet Patienten verloren, es wäre normal gewesen, sich daran zu gewöhnen, doch er wusste, dass ihn die Schuldgefühle tagelang plagen würden. Der Mann war ohne richtige Diagnose und in febrilem Zustand von der Notaufnahme gekommen, und niemand hatte seine Situation ernst genommen, am allerwenigsten er. Er hatte sich darauf beschränkt, ihn geistesabwesend zu untersuchen, den beiden Assistenzärzten zu zeigen, wie man eine Lunge auskultierte, und einen Blick auf die Blutwerte geworfen, die alle praktisch unverändert waren, doch von einer Behandlungsstrategie im eigentlichen Sinn keine Spur. Ein Breitbandantibiotikum, ein bisschen perorales Kortison, das man niemandem verwehrte, eine zweite Runde Untersuchungen, und das war’s. Als schösse man wahllos in den Nachthimmel, ohne zu wissen, woher die Bomben abgeworfen wurden, oder viel eher noch, als spielte man mit dem Sensenmann Poker und liesse ihn den Wetteinsatz bestimmen. Kaum vierundzwanzig Stunden später war die Erkrankung mit ihrer ganzen Kraft explodiert: Zuerst die schreckliche metabolische Dekompensation, dann der Atemstillstand, das Koma, und er war tot. Es wäre nicht einfach gewesen, ihn zu retten, gewiss, aber dennoch. Ein paar zielführende Fragen bei der Aufnahme, ein bisschen mehr Geduld, und er würde vielleicht noch leben. Er war mit seiner Frau auf einem Boot über die Strasse von Sizilien gekommen, sie wohnten in einem Empfangszentrum in Tor Bella Monaca, wie er von der Sozialarbeiterin des Krankenhauses am Telefon erfahren hatte, die mit Aischa, der Witwe, zum Zentrum zurückgegangen war. Es wohnten auch andere nigerianische Familien dort und die Frauen würden sich um Aischa kümmern, hatte sie ihm versichert und dann gefragt, ob eine Autopsie wirklich nötig sei, denn der Islam verbiete sie und die junge Frau wolle nicht, dass die körperliche Unversehrtheit ihres Ehemannes verletzt werde. Er bespreche es mit dem Chefarzt der Intensivstation, hatte er geantwortet, doch angesichts des Krankheitsbildes und des raschen Versterbens werde es nicht einfach sein, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten. Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er lange aufs Telefon, ohne an die zwei Dutzend Dokumente zu denken, die auf seine Unterschrift warteten. Schliesslich stand er auf, warf seinen Kittel über und trat hinaus.

Professor Adriano Papaleo sass in seinem Sessel versunken hinter einem riesigen Schreibtisch, der unter Bergen von Papierkram, Silbernippes, alten, eingerahmten Schwarzweissfotos, Briefbeschwerer und Brieföffner aus vergilbtem Elfenbein beinahe verschwand, Souvenirs aus seiner Zeit an der Universität Mogadischu. In einer Ecke stand eine halbleere Scotch-Flasche, aber kein Glas. Entgegen den Vorschriften rauchte der Mann seelenruhig einen gutgeschnittenen halben Toscano, es war sein Büro, und er machte darin, was er wollte, sollten sie doch ruhig versuchen, ihm was zu verbieten. Schon seit mindestens drei Jahren beklagte er sich, dass er nicht mehr konnte; lief man ihm über den Weg, musste man sich den Countdown der noch fehlenden Monate bis zur heissersehnten Pension anhören, obwohl alle wussten, dass er seine Papiere gefälscht hatte, um sie so lange wie möglich hinauszuzögern. Doch es spielte keine Rolle, Adriano Papaleo gefiel es, den Anschein zu erwecken, dass nicht er bleiben wollte, sondern dass ihn vielmehr eine heimtückische, ihm feindlich gesinnte Kraft dort festhielt. Es war ein offenes Geheimnis, dass er schon über siebzig war, und niemand wusste, wie er das Gesetz umgehen und weiterarbeiten konnte, schliesslich verriet sein langer, gepflegter niveaweisser Bart mit Nikotinstich um den Mund schon alles, ganz zu schweigen von seinen schneeweissen, langen und dichten Augenbrauen, denen es nicht geschadet hätte, gekämmt zu werden. Er grüsste den Kollegen mit einer geschäftigen Handbewegung und griff nach dem Hörer, um Giulio Piersanti Bescheid zu geben, der wenig später mit der Akte des nigerianischen Patienten eintrat.

Nach den üblichen Begrüssungsfloskeln kam Lorenzo Baroldi auf die eigentliche Angelegenheit zu sprechen. Der Mann war in febrilem Zustand und dermassen kraftlos in der Notaufnahme vorstellig geworden, dass er nicht mehr hatte aus dem Bett aufstehen können; die Symptome waren wenige Tage zuvor aufgetreten, doch diesbezüglich bestanden wegen der Sprachbarriere Zweifel. Die Diurese war reduziert, ein paar Werte verändert, nichts, was auf eine so unheilvolle Entwicklung hingedeutet hätte, und die Anamnese gab keinen noch so geringen Hinweis auf eine Vergiftung. Laut seiner Frau hatte der Mann immer in der Kantine des Empfangszentrums gegessen.

»Er könnte was aus Afrika miteingeschleppt haben«, brummte Papaleo selbstgefällig. »Was ich dort alles gesehen habe.«

»Ich glaube nicht, er war schon neun Monate in Italien«, gab Baroldi zurück, »und er hatte die Versicherungskarte des Erstaufnahmezentrums auf Lampedusa bei sich. Man hatte ihn in bester Gesundheit aufgegriffen, trotz der Überfahrt und so weiter.«

»Werte Kollegen«, schaltete sich Giulio Piersanti ein, »was auch immer es war, es war stark genug, einen gesunden, jungen Mann innerhalb von zwei Tagen zugrunde zu richten. Ich habe noch nie dermassen hohe Laborwerte gesehen, als wäre die Leber zu Brei geworden, und den Nieren ist es nicht besser ergangen. Jedenfalls wird uns die Autopsie bald Antworten liefern.«

Lorenzo Baroldi ergriff mit abwesender Miene das Wort. »Apropos Autopsie, seine Frau hat gefragt, ob man aus religiösen Gründen davon absehen könne.«

»Wie bitte?«, polterte Papaleo. »Das kommt nicht in Frage, im Gegenteil, ich werde sie um kein Geld der Welt verpassen!« Der alte Chefarzt nickte, zufrieden mit seinem Spruch, und zündete den feuchten Zigarrenstumpen wieder an.

Ausnahmsweise lag die Entscheidung nicht bei ihm, dachte Lorenzo Baroldi erleichtert. Er hatte den gefassten Schmerz der Frau noch vor Augen, als sie von dem Tod erfahren hatte; wenigstens würde nicht er ihr noch mehr zufügen.

Das Gebäude der pathologischen Anatomie lag in einem schmucken Wäldchen auf dem Grund einer natürlichen Senke, die zur Böschung der Bahnstrecke nach Pisa hinaufführte. Etwas abgelegen vom Rest des Krankenhauses, war es von der Ringstrasse aus gut sichtbar, als wäre jemand so taktvoll gewesen, es vor den Patienten zu verbergen, damit der Anblick den Abertausenden Römern, die täglich morgens und abends daran vorbeifuhren, als mahnende Warnung vorbehalten blieb. Ein merkwürdiger Zufall hatte ausserdem gewollt, dass irgendwann ein zahlungspflichtiger Panorama-Parkplatz auf der Wiese oberhalb des Gebäudes geplant und diese in aller Eile zubetoniert worden war. Nur die allerwenigsten Patienten und Besucher erahnten die Funktion des inmitten von Linden und Ligustern gelegenen Jugendstilhauses, ebenso wenig die genaue Ladung der kleinen, elektrisch betriebenen Wagen, die zwischen den verschiedenen Gebäuden und der Histopathologie hin- und herfuhren.

Alessandro Bonini parkte wie alle anderen im Halteverbot vor dem Eingang. Nach dem Aussteigen stellte Lorenzo Baroldi erstaunt fest, dass er seit mindestens einem Jahr keinen Fuss mehr an diesen Ort gesetzt hatte. In Zeiten von Computer- und Magnetresonanztomographien war es zu einem seltenen und schwer erträglichen Ritual geworden, einer Obduktion beizuwohnen, fast so, als wäre es unangebracht, sich die Erkrankung aus nächster Nähe anzusehen, geschweige denn sie anzufassen, wenn man sie auch auf einem Bildschirm betrachten konnte. Wie alle anderen auch hatte er sich dieser Entwicklung gefügt. Er nahm die Treppe und ging hoch zum Sektionssaal, der mit seinen hellblauen Kacheln, dem grauen Marmorboden und den Anatomietischen aus Stahl unverändert war.

Die Autopsie war schon in vollem Gange, und der Sektionsassistent in weiter Gummischürze machte sich mit Messern und Scheren am Bauchinneren des Leichnams zu schaffen. Mehrere Organe waren bereits fein säuberlich und gereinigt auf dem Alutablett hergerichtet. Giulio Piersanti hob zur Begrüssung der Kollegen die Hand, Papaleo beschränkte sich auf ein Grunzen und verschob flink, wie eine von Sergio Leones Figuren, die erloschene halbe Zigarre mit der Zunge von einem Mundwinkel zum anderen.

Da trat eine zierliche junge Ärztin in den Saal, sie hatte die ebenmässigen Gesichtszüge einer Jungfrau von Bellini und feine blonde Haare, die von einem Bernsteinkamm zurückgehalten wurden. Ihre blauen Augen leuchteten beim Anblick der vielen Kollegen, die sie erwarteten, überrascht auf, doch sie blieb still, errötete lediglich leicht und steckte die Arme in die Gummischürze, die der Krankenpfleger in ihrem Rücken festzurrte. Lorenzo Baroldi kannte ihren Namen nicht, und ebenso wenig konnte er sich erinnern, ob er sie schon einmal gesehen hatte. Sie wirkte auf eine frische Art sympathisch und löste beinahe väterliche Gefühle in ihm aus, vielleicht weil sie ein wenig seiner Tochter ähnelte. Die Pathologin zog einen doppelten Handschuh über jede Hand, trat an den Tisch und begutachtete als Erstes die Leber, die ausgebreitet auf dem Tablett lag. Das Organ war schlaff und...

Erscheint lt. Verlag 18.6.2024
Reihe/Serie Lenos Polar
Übersetzer Marina Galli
Verlagsort Basel
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Arzneimitteltest • Asyl • Forschung • Italien • Leiche • Migration • Pharmaindustrie • proband • Schweiz
ISBN-10 3-03925-713-7 / 3039257137
ISBN-13 978-3-03925-713-3 / 9783039257133
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