German Angst

Eine Identitätskrise

(Autor)

Buch | Softcover
250 Seiten
2024
8280-edition.ch (Verlag)
978-3-03977-011-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

German Angst - Max Faber
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Sarah ist ein Los Angeleno. Er ist in Gelsenkirchen aufgewachsen. Er besucht Sarah in der Winterzeit. Ein Kontrast zu dem grau in grau des deutschen Winters. Nach seinen anfänglichen Gefühlen der Heimkehr zeigt sich jedoch, dass das gemeinsamen Leben in Kalifornien immer weiter in die Ferne rückt. Sarah und er finden nicht mehr zusammen, obwohl zwischen ihnen kein Ozean mehr liegt.

Sarah hat sich weiterentwickelt, ist erwachsen geworden, wie sie zu sagen pflegt und hält ihm bald schon vor, er sei es nicht. Sie ist pragmatisch und steht mit beiden Beinen im Leben. Er sei teils weltfremd und sie kritisiert, dass er bestimmte Dinge im Leben nicht akzeptieren könne, wie sie nun einmal sind. Er steckt in einer Identitätskrise und erkennt Parallelen zu allem, was auch schon seinen Vater ausgemacht hat. Und was auch seinen Opa ausgemacht hat, als der Himmel über Deutschland dunkel war.

Da ist das Streben nach Erfolg, die eingetrichterte Disziplin und der nie verlassene Pfad, der vorgezeichnet ist, auch wenn man ihn nicht immer erkennt. Er versucht die Identitätskrise zu lösen, während ihm Sarah und alles wofür sie die letzten Jahre gekämpft haben zu entgleiten droht.

max Faber arbeitet als Staatsanwalt in Deutschland und kann deshalb nicht zu viel über sich preisgeben. Über sich selbst in der dritten Person zu schreiben, fühlt sich anmaßend an. Oder aber so, als würde man seine eigene Traueranzeige schreiben. Nur Cäsar redete von sich in der dritten Person und hielt das für ein Gebot der Bescheidenheit und Objektivität. Ich halte es doch mit der Ich-Form. Geboren wurde ich Ende der 1980er Jahre. Ich bin tief im Westen aufgewachsen. Meine genauere Vita? Eltern? Ich habe Eltern, ja. Ihre Berufe? Lebensnah. Geschwister? Eine Schwester. Schule? Ich habe die Schule besucht, ja. Und dann? Ich habe studiert. Wo? Im Süden der Republik. Was? Jura und Geschichte. Noch Fragen? Ja, was machst du jetzt? Ich arbeite. In welchem Bereich? Im juristischen Bereich. Wie kamst du zum Schreiben? Ich habe Schreibkurse besucht. Viele. Und habe viel Geld für diese gezahlt. Denn nur wer finanziell in sich investiert, wer sich mit finanziellen Investments ständig selbst optimiert, wird Erfolg haben. Und um den geht es doch beim Schreiben, oder?

23. Dezember Ich bin gestern pünktlich kurz nach 16 Uhr am LAX gelandet. Wir sind direkt nach Santa Barbara durchgefahren. Der Himmel war blutrot mit Schimmern aus violett und orange. Diese abendlichen Farben habe ich so sehr vermisst. Alles wird von dem abendlichen Nebel umhüllt. Selbst die Pickup Trucks neben uns, wenn sich das Licht auf ihrem Lack und den Chromfelgen bricht, verlieren ihre monströse Erscheinung und fügen sich in das Abendlied ein. Ob es der Smog ist, wie viele sagen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es immer vermisse. Was für ein Licht. Kennt man es nicht, vermisst man es nicht, denn man kann es sich überhaupt nicht ausmalen und weiß gar nicht, was man vermisst. Aber ich kenne es. Und es gehört für mich so sehr hierzu, wie der warm-süßliche Geruch von Sarahs Auto. Ich habe letztens in der Bibliothek gestanden vor einem leeren alten Regalschrank und mich nicht abwenden können. Ich hielt meine Nase gegen das Regalbrett, fasste es an - schnell, damit mich niemand so sehen würde - und der Geruch hat mich in das Auto gezogen, auf dessen durchgesessenen Ledersitzen ich auf einmal wieder saß. Altes warmes Holz im Sonnenlicht - so riecht es. Wir haben Edward Sharpe and the Magnetic Zeros gehört. Den Song „Home“. Bei der Zeile „Home is whenever I am with you“ musste ich Sarah ansehen und sie dabei beobachten wie sie mitsang. Ihr trockener Dialekt klingt so nah noch viel trockener. Sie ist ein Los Angeleno und ich jemand, der erst von ihr lernen musste, dass Los Angeles nicht „Eyngeles“ wie „Angel“ sondern trocken „Änjeles“ ausgesprochen wird. Über WhatsApp und Skype klingt ihre Stimme mechanischer und kühler. Wenn ich neben ihr sitze kann ich gar nicht anders als zuzuschauen, wie ihr Mund sich beim Sprechen bewegt. Es ist surreal. Kein Mikrofon, kein Lautsprecher zwischen uns. Nur mein Ohr an ihrer weichen Stimme. Als ich sie so beobachtet habe, ihre schlanken Finger auf dem Lenkrad und wie sie mitsang, während sie einen Blick in den Außenspiegel warf und den Blinker setzte, kam es über mich. Die Anstrengungen der letzten Wochen, in denen ich jeden Schritt alleine gegangen bin. Und jetzt fuhr sie mich und sang Home und ich fühlte mich Home. Hier auf den weichen Sitzen in Sarahs Auto. Sie hat es gemerkt und mich gefragt „Whats up?“. So wie nur sie es fragen kann. Aus Interesse und gleichzeitig bestimmt, um zu klären, ob sie in Gefahr ist und man sich über sie lustig macht. Sie mag es nicht beobachtet zu werden. Und eine Eigenschaft der Germans sei, dass sie nicht nur beobachten, sondern starren. Dem kann ich nichts entgegensetzen. Ich habe nur gehaucht „Nothings up“. Dann hat sie meine Hand getätschelt; kurz - bevor sie beide Hände wieder oben auf das Lenkrad legte. Die grünen Schilder vom 101 Highway im Scheinwerferlicht. Die letzte Ausfahrt, die sich untypischerweise nach links abzweigt, hat mich wieder aufschrecken lassen, was Sarah mit „Relax“ und einem weiteren Tätscheln meines Oberschenkels kommentierte. Das Fenster habe ich runtergekurbelt. Kühle - nicht kalte - Luft im Dezember. Der vertraute Huckel, der bump in the road, vor der Kreuzung; in wenigen Momenten wären wir da. Susan hat das Haus dekoriert mit bunten Lichterkugeln. Wie in einem Weihnachtsfilm der 90er Jahre. So wie sie es schon in L.A. jedes Jahr gemacht hatte. Überall bunte Lichter. Bella hat mich wiedererkannt - das glaube ich zumindest. Ich bin direkt eingeschlafen. Jetzt ist es hier vier Uhr nachts. Sarah schläft natürlich noch und ich liege auf der Couch vor dem dunklen Kamin. Bella hat mich gehört. Ihre Pfoten klackerten auf dem Holzfußboden. Sie hat sich neben mich gelegt mit einem Seufzer. Ich frage mich, warum in Goethes Faust der Teufel sich in Gestalt eines schwarzen Pudels zeigt und ob Goethe jemals einen schwarzen Pudel kennengelernt hat. Wenn ich Bellas Fußnägel auf dem Boden antanzen höre, denke ich jedenfalls nicht an teuflische Klauen, sondern freue mich über den herannahenden Besuch. Ich schreibe Mama, dass es mir gut geht. Vielleicht schreibe ich Papa auch kurz. - Susan ist gegen 5 Uhr aufgewacht und hat mich auf der Couch entdeckt. Vermutlich hatte sich das Licht der kleinen Stehleuchte, die ich angeknipst hatte, bis vor ihre Tür geworfen. „Du bist aber früh auf.“, sagte sie und fügte beim Anblick meiner nackten Füße hinzu „Es ist kalt. Willst du dir nicht eine Decke nehmen?“. Sie schlug ihren Bademantel am Kragen enger. „Danke, aber mir geht es gut.“, antwortete ich. „Bist du sicher? Ich könnte Bella auch befehlen, sich neben dich zu legen und dich zu wärmen.“ Ich versuchte höflich zu lächeln und sagte „Mach dir keine Sorgen. Ich bin es viel kälter gewohnt.“ „Ich mache den Heizlüfter dennoch an. Er macht nur einen lauten „humming sound“, weshalb ich ihn in der Nacht ausmache. Das stört mich.“ Dann sah sie mich etwas nach vorne gebeugt an und fragte „Kennst du den Begriff „humming“?“ und fügte, ohne meine Antwort abzuwarten hinzu „sssssd“. „Ja, kenne ich.“ „Oh ok. Gut. Ich werde ihn aber jetzt anstellen. Nicht, dass du dich noch erkältest.“ Ich fühlte mich dann wie so oft klein. Ich frage mich, spreche ich wirklich so schlecht Englisch? Also spreche ich es nach ihrer Sicht so schlecht aus, dass ich ihr Anlass gebe daran zu zweifeln, dass ich einige Wörter nicht kenne? Und sie spricht trotz den ganz offenbar freundlichen Worten so leise, dass es mir scheint, sie spricht zu sich selbst und nicht zu mir. Nachdem sie den Heizlüfter, der an der Wohnzimmerwand hängt, angestellt und dieser laut zu summen begonnen hatte, öffnete sie die Terrassentür. Sie tat das wohl für Bella, aber auch ich wollte gerne die frische Morgenluft einatmen und aus dem Wohnzimmer heraus. Also eilte ich Bella hinterher, während Susan nachrief „Pass auf die Mountain Lions auf!“ und ich mich fragte, ob sie mich oder Bella meinte, denn ich würde die Vokabel ja vielleicht gar nicht kennen. Während ich die ersten Schritte in der frischen Luft über die Veranda ging, dachte ich was es für ein Glück sein muss, nicht zu wissen, was Kälte eigentlich bedeutet, dann aber verwarf ich den Gedanken schon wieder als Bella und ich in dem nassen Gras umherstapften, dessen Halme so dick sind, dass sie sich wie Stroh anfühlen. Auf den dunklen Bergspitzen schimmerten kleine Lichter - wie eine über diese geschwungene Lichterkette, bei der nur jedes dritte oder vierte Lämpchen lose flackert. Wäre ich ein Berglöwe, würde ich auch hier wohnen wollen. - Zum Frühstück gab es den Saft der jetzt reifen Orangen aus dem Garten, selbstverständlich Tee, Toast mit Avocado und einen Cheese Stick, dessen Existenzberechtigung ich jedes Mal erneut in Frage stelle. Frühstück fühlt sie nicht so recht wie Frühstück an, wenn es 17 Uhr in Deutschland schlägt. Zu dieser Zeit frühstückt Sarah, während mein Tag bereits fast vorbei ist. Ich esse eigentlich immer im Stehen, denn zu wem soll ich mich setzen? Sarah sitzt auch nicht; jedenfalls nicht am Tisch, sondern halb auf der Küchenplatte mit herunterbaumelnden Beinen. Wenn sie nicht in ihr Toastbrot biss widmete sie sich ihrem Handy mit dem großen Bildschirm - „Work stuff“. Ich hatte keinen „Work stuff“ zu tun. Ich hatte seit langer Zeit mal wieder gar keinen Stuff zu tun und so schlenderte ich in den lichtdurchfluteten Gang, der den großen Garten mit Susans Zimmer verbindet und in welchem Waschmaschine und Trockner stehen. Die Fotos von Sarah an der Wand kenne ich noch aus Susans altem Haus in L.A., auch wenn sie hier anders angeordnet sind. Auf einem sitzt Sarah als junges Mädchen in einer Waschtrommel. Ihre braunen Äuglein funkeln vor Freude über den Scherz, den Susan und sie sich erlaubt und fotografisch festgehalten haben. Auf einem anderen Foto ist Susans erstes Auto zu sehen, ein blauer Oldtimer Cabrio, wie er an einer besonders schönen Klippe an dem Pacific Coast Highway parkt. Ein weiteres Foto zeigt Sarah und Susans Vater beim Angeln. Er steht auf einem Steg an einem See und ist halb der Kamera zugewandt. Weißes T-Shirt, gesteifte beige Hose mit Bügelfalte und eng anliegendem Gürtel. Das Sonnenlicht blendet. Sarah sitzt neben ihm auf einer Kühlbox. Ein hochgewachsener Mann, der sein Leben lang bei der Air Force war. Dann noch ein Foto von Susan in Schuluniform in Spanien, als ihr Vater dort stationiert war. Sarah hatte mir schon bei ihrem ersten Besuch in Gelsenkirchen erzählt, dass ihr Opa im zweiten Weltkrieg Gelsenkirchen bombardiert habe. Das habe sie mit Susan in einem seiner Logbücher gesehen. Susan und sie hätten gewusst, dass Sarahs Großvater in Nordrhein-Westfalen Luftangriffe geflogen war und hatten wissen wollen, welche Städte er in seinem Notizbuch vermerkt hatte. Als wir uns an einem Morgen auf dem Schulweg begegnet und an der Propsteikirche vorbeigegangen waren, hatte ich ihr erzählt, dass nach dem zweiten Weltkrieg der Kirchturm nicht wiederaufgebaut worden war. Sie hatte gescherzt, dass ihr Großvater vielleicht dafür verantwortlich zu machen sei. Ich muss sie beizeiten daran erinnern, denn ich will den Eintrag auch einmal mit eigenen Augen sehen. Ich will den Namen „Gelsenkirchen“ lesen, wie er 1945 von einem amerikanischen Air Force Piloten geschrieben worden ist, in dessen Enkelin ich einmal verliebt sein würde. Vielleicht hat Sarahs Großvater die Probsteikirche bombardiert. Vielleicht ist ihr Großvater aber auch über meinen Opa hinübergeflogen und hat eine Bombe abgeworfen, die seine Stellung treffen sollte? Vielleicht hat mein Opa das Flakgeschoss, an dem er in Gelsenkirchen stationiert war, so ausgerichtet, dass es den B-52-Bomber treffen sollte, in dem an jenem Tag Sarahs Opa über ihn hinweggeflogen ist? Sie hätten sich nicht gekannt und Sarah und ich hätten uns auch nie kennengelernt. Über den ersten Weltkrieg weiß man als Deutscher nicht allzu viel; wenn dann eher aus historischem Interesse. Pickelhauben scheinen doch zu weit zurückzuliegen. Aber die Erzählung hier ist, dass wir uns bestens auskennen über den darauffolgenden, verheerenden Krieg, der alles zuvor Dagewesene unterbrach, der Alles zäsierte. Dass wir die grausamen Taten der Deutschen und ihren fanatischen Drang zur Herrschaft in einem nie endenden Reflexionsprozess immer und immer wieder durchkämmen. Wir drehen keinen Stein nicht um, wie es die Amerikaner mit „Leave no stone unturned“ so viel klangvoller beschreiben würden. Wir können daher immer Auskunft geben, denn wir sind wandelnde Geschichtsbücher. Wir schwören schon bei der Einschulung, ewig Demokraten zu sein und die Verfassung zu achten. Am 09. November eines jeden Jahres öffnen alle Deutschen ihre Fenster und rufen gemeinsam hinunter auf die Straße „Nie wieder!“. So scheint mir die Sicht der Amerikaner auf uns zu sein. Warum sollte uns sonst Anerkennung entgegenschlagen, wenn man sagt man sei „German“. Zu Hause lese ich dieselbe Erzählung in den Dokumenten der Bundeszentrale für politische Bildung. Ich erkenne dieselbe Erzählung in den Geschwister-Scholl-Gymnasien einer jeden Stadt. In den Schachtelsätzen der Feuilletons mancher Zeitungen. Aber abseits davon, dort wo es nicht Feuilleton, sondern Meinung heißt, scheint mir sich allmählich die Erzählung durchzusetzen, dass die Deutschen auf das Flötenspiel eines einzelnen Verrückten hereingefallen sind und von diesem in den Untergang geführt worden sind. Dass die Deutschen heute Opfer ihrer eigenen Geschichte sind. Dass sie nichts mehr sagen dürfen und wegen der „Nazikeule“ ewig gegeißelt sind. Adolf Eichmann hatte diese Erzählweise doch in Israel so gut vorgemacht, als er sich zum Bürokraten eines Systems herunterspielte, das er überhaupt nicht verstanden geschweige denn gelenkt habe. Sarahs Oma Edith, ihre Oma väterlicherseits, ist Jüdin. Ediths Mutter hatte es Ende der 1930er Jahre geschafft, die begehrten Visa für die Einreise in die USA für sich, Edith und Ediths Papa zu erlangen, obwohl die US-amerikanische Roosevelt-Regierung angesichts der innenpolitisch angespannten Lage an den starren und niedrigen Einreisequoten für jedes Land festhielt. Nur Edith und ihre Mutter kehrten Europa auf einem Ozeandampfer den Rücken, bevor die Nazis den Himmel über Europa vollends verdunkelten. Ihr Vater war zu dem Zeitpunkt durch die Deutschen im Rahmen der „Polenaktion“ nach Polen ausgewiesen worden und die Einreise war ihm, auch zur direkten weiteren Ausreise in die USA, nicht gestattet worden, da man dem Wort eines Juden keinerlei Glauben schenken wollte. Er hatte vergeblich immer wieder zu beteuern versucht, schon den nächsten Ozeandampfer in die USA zu besteigen. Als die beiden in den USA angekommen waren, verlor sich die Spur zu ihm. Edith sah ihn nie wieder. Ich lernte Edith in den letzten Jahren nicht kennen und werde sie auch bei meinem jetzigen Besuch nicht kennenlernen. Sarah glaubt, es wäre keine gute Idee und ich befürchte sie hat Recht - wie so oft. Es waren die Deutschen, vor denen sie geflohen ist und ich weiß, da ich ihn erst bei der Einreise vorzeigte, dass auch in meinem Pass steht, dass ich Deutscher bin. Meine Großeltern waren ebenfalls Deutsche. Der eine Großvater schoss auf die Flugzeuge der Alliierten. Der andere war an der Ostfront. Ich frage mich oft - hat mein Großvater an der Ostfront wirklich nichts von den Gräueltaten der Deutschen an der Ostfront gewusst? Ich frage mich - hat er davon nie etwas gehört? Nichts vom Kommissarbefehl? Nichts vom Kindermord in Chozum? Hat er nicht gewusst, was mit den Städten passierte, nachdem sie diese eingenommen hatten. Hat er nicht gewusst, wie mit Partisanen umzugehen war? Und haben alle meine Großeltern nichts von den Nürnberger Gesetzen mitbekommen? Nichts von der Reichsprogromnacht? Haben sie nicht mitbekommen, dass Wohnungen in ihrer Straße plötzlich frei geworden sind, weil jüdische Familien diese blitzartig zwangsräumen mussten? Haben sie nicht Hitlers Ansprachen gehört, in denen er offen von der Ausrottung des Judentums sprach? Ich denke daran, wie es meiner Großmutter beim Nachmittagskaffee einmal herausrutschte, dass unter Hitler wenigstens Ordnung geherrscht habe. Meinem Vater ist die Kuchengabel im Mund stecken geblieben und er hatte die Schokolade der kalten Hundeschnauze über die weiße Tischdecke geprustet, sodass auf dem eigentlich schneeweißen Untergrund überall klebrige braune Krümel lagen. Es gab ein kurzes Innehalten. Mein Onkel verzog den Mund als würde er nachdenken. Aber dann - nichts weiter. Ein Schluck braunen Kaffee und die kalte Schokolade glitt wieder den Rachen herab. Darüber sprach man nicht. Nicht ich. Nicht mein Vater. Lassen wir die alten Leute doch in Ruhe. Jetzt sind die Alten verstorben. Ich wollte mich an Ediths Stelle auch nicht kennenlernen. Kann ich doch den Mantel des starrenden Deutschen nicht an ihrer Garderobe ablegen. Und ich würde vermutlich vor ihr nur anfangen zu weinen. Dann hätte sie einen schluchzenden Deutschen vor sich, der nur an seinem eigenen Ablass interessiert wäre und der ihr auch noch den Tag versaut. Da Sarah das alles nicht passend für ein erstes Treffen hält, verheimlicht sie Edith meine Existenz. Ich wünschte meine Großeltern hätten Widerstand geleistet. Dass sie aufbegehrt hätten. Ich wünschte ich könnte Edith in die Augen schauen. Meine Großeltern haben aber keinen Widerstand geleistet. Und ich kann ihnen nicht erlauben, sich hinter dem bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasenen Schatten von Sophie Scholl zu verstecken, Auch kann ich ihnen nicht erlauben, sich hinter der Roten Kapelle oder etwa der Pranke des „Löwen von Münster“ zu verstecken. Zu wenige. Wieso suche ich zudem heute vergeblich nach nur einer Herschel-Grynszpan-Straße? Und wie hätte ich gehandelt? Würde ich dann heute vielleicht auch sagen, ich sei auf die Propagandamaschine hereingefallen? Wäre ich in der NSDAP gewesen? Wäre ich Teil des Bürokratiemonsters gewesen, aus dem sich nicht ein Bürokrat erhob? Wäre ich Teil der Gesellschaft gewesen, die auf Hitler vertraut hätte? Hätte ich auch als „normaler deutscher Familienvater“ unter Umständen zum Mörder werden können, wie es Christopher R. Browning beschrieb? Ich schäme mich. Und wenn mir hier mal wieder eine Person anerkennend entgegnet „Oh you are German“, bejahe ich das und dann schweige ich doch, um so zu tun, als hätte ich erst kürzlich wieder mit meinen Großeltern Anne Franks Tagebuch studiert und dann passend zum 09. November mit all meinen Nachbarn auf die Straße herunter gerufen „Nie wieder!“. Ich muss eine ganze Weile so gedankenvoll vor den Fotos gestanden haben. Denn irgendwann kam Sarah in den Flur und fragte, was ich dort tue. Ich schaute noch immer auf das Foto von ihr und ihrem Großvater. Ich fragte sie, ob sie schon einmal darüber nachgedacht habe, wie es gewesen, wäre, wenn wir uns vor zwei Generationen kennengelernt hätten. Ob sie darüber nachgedacht habe, wie es gewesen wäre, wenn wir uns in dieser Zeit ineinander verliebt hätten. „Ich bin nur froh, dass diese Zeit vorbei ist. Ich will gar nicht darüber nachdenken. Warum auch?“, antwortete sie. Und als sie merkte, dass ich es immer noch wert fand, darüber nachzudenken, fügte sie hinzu „Wir haben euch von den Nazis befreit und euer ganzer Wohlstand beruht auf unserem Marshallplan. Also sei dankbar und zerbrich dir nicht den Kopf.“.

Erscheint lt. Verlag 24.8.2024
Verlagsort Kreuzlingen
Sprache deutsch
Maße 125 x 190 mm
Gewicht 480 g
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehungsdrama • Gelsenkirchen • Generationskonflikt • Gesellschaftsroman • Los Angeles
ISBN-10 3-03977-011-X / 303977011X
ISBN-13 978-3-03977-011-3 / 9783039770113
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