November achtzehn -  Georg Hermann

November achtzehn (eBook)

(Autor)

Dr. Ralf Rausch (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
310 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-4964-5 (ISBN)
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Einige Tage im November 1918 zeigen uns Georg Hermanns Alter Ego Fritz Eisner im Kampf mit den letzten Kriegstagen. Auch nach Berlin kommt die Revolution - nicht nur die politische -auch die bürgerliche. Fritz Eisner zwischen drei Frauen. Seiner Ehefrau Annchen, die langsam einen Rosenkrieg beginnt, einer alten verpassten Liebe und jetzt der wesentlich jüngeren Journalistin Ruth, der Liebe seines Lebens, die nicht überall auf Akzeptanz stößt. Ehebruch, Kampf der Konventionen und ein Hymnus an die Frauen, Georg Hermann erweist sich einmal mehr als ein Psychologe der Geschlechterbeziehung. Auch an deftigen erotischen Anspielungen lässt es der Autor nicht fehlen. Die erhoffte Zukunft zeichnet sich ab, aber auch Todesahnung ... Und ein alter Selbstmord wird enttarnt! Abschied von liebgewonnen Menschen bleibt dem inzwischen bekannten Schriftteller ebenfalls nicht erspart. Die Politik erhält auf des Autors humorvolle und scharf sezierende Art ihr Fett weg. Nach Großmannspolitik und Großmaulpolitik wird jetzt unter Gewehrschüssen die Republik ausgerufen: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Das wird dem frisch verliebten Paar alles etwas zu viel Revolution und Chaos - es verlässt Berlin. »November achtzehn« ist vielleicht einer der schönsten und unter-haltsamsten Teile innerhalb der Ketten-Romane in einer äußerst spannenden Zeit - ein beeindruckendes Zeitgemälde. Wie in allen Ketten-Romanen aus der Edition R sollen auch in diesem Band 3 zahlreiche erläuternde Fußnoten den Lesefluss erleichtern und so die Lesefreude steigern!

Leider kennen heute nur noch wenige Leser den Autor Georg Hermann (1871-1943), allerdings lassen die neuesten Ver-lagsaktivitäten auf Besserung hoffen. Geboren als Georg Borchardt in einer jüdischen Berliner Familie, wählte er später den Vornamen des Vaters als seinen Nachnamen. Neben seiner kaufmännischen Lehre interessierten ihn vor allem Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Sein literarischer Werdegang begann Ende des 19. Jh., während er beim Statistischen Amt in Berlin beschäftigt war und für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Vor dem 1. Weltkrieg zog es ihn von Berlin nach Neckargemünd und er war maßgeblich an der Gründung des SDS, des Schutzver-bands Deutscher Schriftsteller, beteiligt, zum Schutz der Schriftsteller vor Ausbeutung durch die Verlage. In der Nazi-zeit war er gezwungen, das Land zu verlassen. Im holländi-schen Exil wurde er jedoch nach Auschwitz deportiert und von den Nazis ermordet. Sein literarischer Ruhm - häufig wurde er nach seinem Vorbild als »jüdischer Fontane« bezeichnet - begründeten vor allem zwei Romane: »Jettchen Gebert« (1906) und die Fortsetzung »Henriette Jacoby« (1908), beide ein Millionenerfolg! Ihr gesellschaftlicher Hintergrund ist die Biedermeierzeit um 1840. Zahlreiche weitere Romane sollten folgen (insgesamt knapp zwanzig). Den stärksten autobiographischen Bezug haben die Romane der sogenannten Kette, das sind insgesamt fünf Werke mit der Titelfigur Fritz Eisner, wovon die beiden ersten (»Einen Sommer lang«, »Der kleine Gast«) Ende des 19. Jh. bzw. zu Beginn des 20. Jh. spielen. Der dritte Teil der Pentalogie, »November achtzehn«, spielt in den letzten Tages des 1. Weltkriegs, und die beiden letzten Teile (»Ruths schwere Stunde«, »Eine Zeit stirbt«) handeln unmittelbar nach dem Krieg 1919 bzw. in der Hochinflationszeit 1923.

Merkwürdig, wie trotz der Kriegsjahre das Scheinleben der City weitergegangen ist und dabei ist doch alles nur noch lärmender Leerlauf ...

Nein, geändert hat sich nichts gegen die letzten Monate, nur daß es heute müder eher als bewegt erscheint, und seltsam lärmlos ist. Aber in dem grauen Gewirr der Fußgänger der Friedrichstraße scheint es Fritz Eisner, als ob sich da plötzlich so etwas wie eine Schlucht bildet, so etwas wie ein Kielstreifen eines fahrenden Bootes. Die Menschen, selbst die Soldaten mit ihren Suppentöpfen von Stahlhelmen auf den Schädeln weichen vor irgend etwas zurück und verharren wohl einen Augenblick, um diesem Etwas nachzuschauen, und schließen sich dann erst wieder zusammen. Und so kommt wohl dieser Streifen von Leere an der Bordschwelle zustande. Muß jemand da zwischen den Menschen Spießruten laufen? Aber dann wäre es doch nicht so still. Dann würde man doch Rufe und das Klatschen der Schläge hören!

In diesem leeren Raum jedoch geht ganz ruhig, seelenruhig und langsam mit jenem schwankenden Gang, den Kopf etwas eingezogen, die Ellenbogen krumm, beim Gehen etwas mit den geöffneten Fingern vor dem Leib taktierend, und breitbeinig und von rechts nach links wippend dabei, mit Dütenhosen und Flatterbändern an der Mütze ... an der Mütze ... ein ganz stiller, kleiner, freundlicher Matrose. Durchaus keiner von den wilden Burschen, mit weitaufgerissener Bluse und behaarter, rotverbrannter Brust, sondern so einer, der fast noch ein Junge ist, mit stillem Gesicht und freundlich-versonnenen wasserblauen Augen. Er geht seinen Weg. Er hat weder Eile, noch geht er absichtlich langsam. Er sieht nicht nach rechts noch nach links, nur still vor sich hin, als ob er etwas am Boden oder da vor sich suche. Er hat keinerlei Waffe bei sich und keinerlei drohende Miene; und doch weicht ihm alles aus. Offiziere gehen an ihm vorüber, er tut, als sähe er sie nicht. Er denkt gar nicht mehr daran, die Hand an die Mütze zu heben. Das ist nun vorbei. Und jene denken auch gar nicht daran, ihn zur Rede zu stellen, oder etwa abführen zu lassen. Das ist nun vorbei; das fühlen sie. Man weiß, es ist ein Kieler Matrose. Und Kiel ist in den Händen der Matrosen. Haben einfach einmal die Kanonen umgedreht und auf die Stadt gerichtet. Um Punkt zwölf Uhr schießen wir euch zusammen, samt euern Frauen und Kindern, ihr Herren Offiziere. Und das andere hat sich dann ganz schmerzlos von selbst gegeben. Das ist, wenn die Zeitungen auch kein Wort darüber gebracht haben, so durchgesickert. Eigentlich weiß es jeder schon. Ein Schutzmann, der auf der Mitte des Damms steht, sieht zu dem kleinen, ruhig gehenden Matrosen – jetzt hat er sogar, wie das Matrosenart ist, die Hände in die Hosentaschen geschoben, die er damit weit auseinanderzieht – hinüber und er sieht eben so still wieder weg, der Schutzmann. Er weiß: Der ist heute vormittag in den Kasernen im Norden gewesen. Ist hereingegangen. Keine Wachen haben ihn gehindert. Alle Türen sind vor ihm aufgegangen. Er hat keine großen Agitationsreden mehr gehalten, sondern nur gesagt, was in Kiel sich ereignet hat, und morgen hier ein ähnliches wohl geschehen wird. Er ist von Zimmer zu Zimmer gegangen. Kein Offizier hat mehr gewagt, ihm in den Weg zu treten. Und nun geht er also von den Kasernen der nördlichen Stadt nach denen der südlichen und dem Tempelhofer Feld, um die gleiche Parole auszugeben. Ganz still und allein, ein einzelner gegen Millionen. Die ganze Chausseestraße und die ganze Friedrichstraße hinunter. Jeder weicht ihm aus. Wo er geht, bildet sich ein freier Raum um ihn. Er belästigt auch niemand. Aber jeder ahnt, das sind voraussichtlich die maßgebenden Leute von morgen.

Wie lang doch solch ein Tag ist. Gewiß: Die Stunde geht auch durch den längsten Tag ... aber jetzt ist es erst nach vier. Und vor fünf kann Nuckelino nicht daran denken, ihren Schreibtisch abzuschließen, und dann kommt noch im letzten Augenblick etwas, das nicht bis morgen warten kann, und so würde ich nur wieder herumsitzen, und sie stören, daß es eher später, als früher wird. Gerade heute muß gewiß noch der Spiegel von Seite sechzehn geändert werden, und die Modentante hat wieder gesagt: ›daß die Mode augenblicklich auf strenge Sachlichkeit, dem Ernst der Zeit entsprechend, hält; und deshalb die rauhen Formen des Kriegerhelmes für ihre Hutmoden sich zu eigen gemacht hat, und so einer jeden Frau die Möglichkeit gibt, auch in diesen harten Zeiten ihre Individualität voll auszuleben. Das aber gäbe erst diejenige Note, welche ...‹ also, wenn Nuck diejenige Note, »welche« liest, geht sie schon in die Luft. Ist ja sehr jung noch. Hat sich eben in wenigen Jahren von einer Sekretärin zur Redaktrice hochgearbeitet, und nimmt deshalb so etwas noch blutig ernst, redet sich immer noch fest ein, man kann volkserzieherisch auf Briefträgerfrauen und Gutsbesitzersgattinnen wirken, und man könnte ... was noch aussichtsloser ist ... einer Modeschriftstellerin Vernunft oder gar Deutsch beibringen: In diesem Winter werden Streifen getragen; doch werden Tupfen noch immer das Zeichen eines guten modernen Geschmacks sein!

Und wozu soll ich sie stören? Ich kenne das doch selbst zu gut. Den ganzen Tag scheint es, als ob man überhaupt hier in diesem endlos großen Haus nur zusammengekommen ist, um sich zu besuchen und zu unterhalten. Scheinbar arbeitet überhaupt niemand. Und dann drängt sich doch das alles auf die letzten Stunden zusammen, stockt, hat unüberwindliche Schwierigkeiten, und wird zum Schluß eben doch immer wieder genau auf die Sekunde fertig, um für einen Tag unendlich wichtig, und für den nächsten schon unendlich gleichgültig zu sein. Alles hier lebt nur von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, jedenfalls von einer Zeitungsnummer zu der anderen. Maßlose Schreibarbeit wird erledigt dazu, hundert Dinge werden nachgeprüft, vorbereitet, verworfen. Eines wird endlich genommen, von denen, und auch das noch im letzten Augenblick wieder in Klump geschlagen. Nirgends ist dabei die Luft scheinbar behaglicher und leichter, spielerischer und witziger; und trotzdem ist sicher die Luft nirgends mit mehr Unruhe und Nervosität geladen, wie in Redaktionszimmern. Hier liebt man es, mit den Dingen schnell fertig zu werden ... alle Fragen zu beantworten und über jegliches sich sofort seine Meinung zu bilden.

Muß ihnen immer noch die Buchkritiken schreiben und den Rundgang durch die Kunstsalons. Haben schon dreimal gemahnt. Aber es war da wirklich etwas zuviel an persönlichen Dingen, die mich mitnahmen in den letzten Wochen. Kaum gelesen habe ich. Geschweige geschrieben. Und das will für mich etwas sagen, wenn ich einmal einen Tag ohne Buch bin. Ich tue nichts lieber, als lesen, und nichts ungerner, als schreiben. Und deshalb komme ich nie zum Lesen und muß immer schreiben. Hat das nicht Brandes54 mal geklagt? Mein Wunsch wäre es, mich mal drei Jahre in eine Bibliothek einsperren zu lassen. Denn ich liebe es eigentlich durch Bücher von der richtigen Welt getrennt zu sein. Finde immer, in Büchern sind alle Dinge, selbst die Natur, Wälder, Meer und Berge, Tropfen und Nordpol und alle Landschaften der Menschenseele viel leichter zugänglich, viel klarer gedeutet, und viel lebensvoller und schärfer umrissen, als in ihrem Urbild, dem Leben selbst. Nirgends ist die Welt so weit und so tief, wie im Buch. Sicher ist Paris von 1850 nur ein Abklatsch von Balzac55 gewesen und nicht umgekehrt. Ist heute etwa noch 1850? Nein! Er aber hat befohlen: Sonne steh’ still in Gideon. Und die Sonne von Paris 1850 ist für Jahrhundertdauer stehengeblieben. Was also soll ich jetzt da oben auf der Redaktion?

War hier nicht einmal ein Schaufenster, in dem sich falsche Diamanten auf schwarzem Samt, wie in einer Grabkapelle, egalweg blödsinnig drehten, und behauptet wurde, daß der Erfinder dieser edlen Glassteine jedem tausend Mark zahlen würde, der sie von den echten unterschiede? Jetzt hängen hier nur armselige Ansichtskarten, auf denen schlechte Filmstatisten als Frontsoldaten verkleidet, von Filmstatistinnen, als weinende Bräute verkleidet, in zärtlichen Küssen Abschied nehmen.

Aber die Kunsthandlung »Zur entweihten Ölfarbe« ist doch noch da mit ihren Dackeln, Fjorden, Postboten und Schnitterinnen und der Elfenbeinschnitzerei: Venus züchtigt Amor. Das Detektivbüro mit der Spezialität: Ehebeobachtungen ist hingegen aufgeflogen. Heute nimmt man so etwas nicht so ernst mehr, um da einen Spürhund auf die Fährte zu setzen. Also, ist – das – ja das Haus von Doktor Spanier. Halb fünf: Teestunde. Eigentlich könnte ich so etwas brauchen. Denn mein Magen hängt mir schon wieder bis auf die Schuhsohlen, und vielleicht weiß Lu noch nichts, und jedenfalls werden sie mir danken, wenn ich ihnen so sage, sollen morgen etwas vorsichtig sein ... Wohnen sowieso in der Mitte. Kommt es noch zu Kämpfen morgen ... grade im Zeitungsviertel, wird es sicher nicht ruhig bleiben.

Hier diese nackte Marmortreppe bin ich oft genug in den letzten Jahren hinaufgegangen ... wenn wieder in der General-Pape – (wer war General Pape?56 Ach so ... weiß schon: Jener »Pape ist mir piepe...

Erscheint lt. Verlag 25.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7583-4964-8 / 3758349648
ISBN-13 978-3-7583-4964-5 / 9783758349645
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