Lapidarium -  Rainald Goetz

Lapidarium (eBook)

Stücke
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
367 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78175-3 (ISBN)
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LAPIDARIUM ist ein Buch mit drei Theaterstücken, die sich der Dunkelmaterie im Mensch des frühen XXI. Jahrhunderts zuwenden: Folter, Terror, Suizid.

Im Gesellschaftsstück REICH DES TODES wird der politische Prozess gezeigt, der von 9/11, dem islamistischen Terroranschlag, zur systematischen Folter von Kriegsgefangenen in den US-amerikanischen Lagern von Guantánamo und Abu Ghraib geführt hat. Am Extremfall des Versagens demokratischer Herrschaft im führenden Staat der westlichen Welt, in den USA, zeigt sich beispielhaft POLITISCHE THEORIE.

Das Familienstück BARACKE verfolgt den Lebenslauf der Liebe, der vom Verliebtsein zu einem Kind führt, das Vater und Mutter erschafft, die Enge der kleinen neobürgerlichen Kleinfamilie, den Stumpfsinn, Gewalt im Inneren, im Keller des Hauses, Gewalt als politisch deklarierte Tat, bis hin zu den Morden, die der NSU, auch in Bezug auf die Taten der RAF, begangen hat. Die Energien, hier in Deutschland, die das hervorbringen: DIE ELEMENTAREN STRUKTUREN DER VERWANDTSCHAFT.

Das Ichstück LAPIDARIUM: Selbstporträt, Tagebuch der letzten Tage, Alter, Freundschaft, Tod. Der Tod erscheint dem Ich, die Sterbenden, die Toten, und mit den gegenwärtigen die früheren Jahre, Bilanz, im bayrischen Süden, Mai und November 2023, für Franz Xaver Kroetz. Wie wollen wir sterben, wie leben? Entwurf einer ANTHROPOLOGIE IN PRAGMATISCHER ABSICHT.



Rainald Goetz, geboren 1954, studierte Medizin und Geschichte, lebt in Berlin. Autor der Bücher <em>Irre</em>, <em>Krieg</em>, <em>Kontrolliert</em>, <em>Festung </em>und<em> Heute Morgen</em>. Zum Abschluss des Buchs <em>Schlucht </em>erscheint im Frühjahr 2024 das Buch <em>Lapidarium </em>mit den drei Theaterstücken <em>Reich des Todes</em>, <em>Baracke </em>und <em>Lapidarium</em>; gleichzeitig kommt in der edition suhrkamp der Band <em>wrong</em> heraus, eine Sammlung von Reden und Aufsätzen aus der Zeit der Arbeit am Buch <em>Schlucht</em>.


SCHLUCHT


9/11


EIN MANN  steht am Fenster und schaut von oben über die Stadt hinweg, 96. Stock, World Trade Center, Vormittag, Sonnenschein, es ist Dienstag, der 11. September 2001. Da sieht der Mann ein Flugzeug aus der Ferne auf sich zufliegen, in einer weiten, nach links geneigten Kurve kommt das Flugzeug näher, wird schneller, weicht aber nicht zur Seite oder nach oben aus, es fliegt direkt auf den Mann, der im Hochhaus am Fenster steht, zu, er nimmt sein Telefon, um einen Freund anzurufen, dem er sagen will, was er da sieht, und in dem Moment, in dem er, von der rasend größer werdenden RIESIGKEIT der Spitze des Cockpits des lärmend herandonnernden Flugzeugs erschreckt, plötzlich in Panik vom Fenster wegstürzen und sich in Sicherheit bringen möchte, schlägt die Maschine mit einem gigantischen Krach direkt im Nebenfenster ein, explodiert, der Fliehende wird von hinten in die Luft gehoben und vom Feuerball der Explosion gegen einen Stahlträger geschleudert, das Handy fällt zu Boden, der angerufene Freund hebt ab und ruft, weil niemand sich meldet, aber Bersten, Krachen, Schreie und Rufe zu hören sind, immer wieder: hallo Tom! Was ist mit dir? Aber Tom ist tot, er antwortet nicht

HEILIGER GOTT  denkt der Mann im Cockpit, der das Flugzeug auf das Hochhaus zuzufliegen versucht, auf den Mann am Fenster, den er dort genau in der Mitte der silbrig schimmernden Fassade als klitzekleine Figur stehen sieht, Gott ist groß, Gott steh mir bei, er drückt das Flugzeug tiefer, hebt die Nase an, steuert leicht nach links, stärker, noch etwas mehr, und relativ schräg geneigt segelt das Flugzeug zuletzt herrlich schwer dem Paradies des Todes entgegen, das müßte gelingen, denkt der Mann und freut sich, ewig so fliegen, Heiliger Krieg, Tod und Verderben bringt er denen, die an Gott, den einzigen, nicht glauben, geliebte Eltern und Geschwister, betet für mich, lieber Gott, ruft er zuletzt und schiebt den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn, wie er es bei einer verfehlten Landung zum Durchstarten machen würde, um mit maximalem Tempo, die Motoren hört er noch aufheulen, dort im Hochhaus bei dem vom Fenster wegstürzenden Mensch jetzt einzuschlagen, und die Himmel tun sich auf in dem Moment, das war es also, großer Gott, mein Gott, Zerschmetterung, noch leben letzte Zellen im Gehirn, die Beine werden nach unten aus dem Körper herausgerissen, der Torso von explodierendem Kerosin an die Armaturen geschleudert, dort zerquetscht, ohne daß der Gesamtsack der Haut dabei zerrissen würde, nur das Gesicht, der Kopf vorne, wird zu einer Masse aus Fleisch, Blut und Splittern von Knochen völlig zerdrückt, alle Körperteile von der Hitze im nächsten Augenblick verdampft, und der Mensch insgesamt auf die Art tot gemacht für immer, tot, Tod, komm herbei und hilf den Nochnichttoten aus dem Leben, Amen

Todeszelle


DER FOLTERER  kommt herein, die Tür quietscht metallen, schlägt metallen zu, die Schergen treten aus dem Dunkel hervor, die Gesichter von schwarzen Kapuzen verhüllt, mit Löchern für Augen und Mund. Der Gefolterte liegt auf einer Matte am Boden, Boden und Wände aus Beton, kein Licht von außen, keine Fenster, eine Neonröhre brennt an der Decke, und über Seilzug werden dem Gefolterten die Arme nach oben gerissen, sein Oberkörper hängt schwer an den Armen, der Kopf nach vorn auf die Brust. Der Folterer, sympathisch fleischiger Kraftkerl mit Vollbart, rockerstyle, geht langsam auf den in der Mitte der Zelle von der Decke herunterhängenden Gefangenen zu und hebt am Kinn dessen Gesicht in die Höhe, ins Licht, schüttelt den Kopf. Na, na, na, was ist los?, sagt er, aber der Gefangene reagiert nicht. Schau mich an, du Ratte, sagt der Folterer leise und schnippt das blutig aufgequollene Gesicht des Gefangenen etwas in die Höhe, läßt es zurückfallen auf die Brust. Was?, sagt der Folterer, du willst nicht gucken? Das ist schlecht. Dabei schlägt er dem Gefolterten ansatzlos von unten mit der Hand so heftig ins Gesicht, daß es das Gesicht und an ihm den ganzen Mann hochreißt, der schreit auf, stürzt zurück, der Aufschrei wird ein Wimmern, das Wimmern ein Schnaufen, Stöhnen, Schnauben, Atmen, Ächzen, das Elend der geschundenen Kreatur. Der Folterer hebt den Kopf des Gefolterten an den Stirnhaaren hoch, reißt ihn mit einem Ruck ins Genick, ein Schmerzschrei gellt durch die Todeszelle, die das Recht auf Rache am Mörder der Vielen vollstreckt, Macht und Haß, und die Augen des Gefolterten gehen ganz langsam auf, aus großer Ferne kommt sein Blick. Du denkst, du bist stark, sagt der Folterer, MÖRDER!, schreit er plötzlich, dann wieder leise: aber du gehörst mir. Ich werde dich zertreten. Er läßt den Kopf des Gefolterten nach vorn fallen und macht den Schergen ein Zeichen, die ziehen mit ruckartigen Reißbewegungen die Arme so weit hoch und auseinander, bis es nicht mehr geht. Oder zerreißen, sagt der Folterer, dreht sich um und geht in seiner T-Shirt-Kluft, es ist auch sehr heiß in der Todeszelle, die Gesichter schwitzen, durch die quietschende Metalltüre kopfschüttelnd nach draußen

Weißblende, sehr hell, Wüstensand und Wüstenlicht, ganz kurz, die Weite einer echten Welt, Wind und Geräusche, Erleichterung.

1 Krieg


hier bei den Rosen

hinter der Hecke

lockt mich ein Duft

heiterer, leise

öffne sie, scheide

Hecke, die wilde, verstecke

Morgensonne


Schwarzblende, Stille, Ideenfabrik. Langsam hebt sich der Vorhang zum Ersten Bild. Reich des Todes, Schlucht. Büro des Vizepräsidenten, warme ruhige Farben, holzgetäfelte Wände. Dienstag, der 11. September 2001. Morgensonne fällt ins Führerhauptquartier.

SELCH  Banzhaf, Pinsk, ich brauche

PINSK  Herr Vizepräsident!

SELCH  Wo sind denn?

PINSK  In Rosen

SELCH  Aha, aha, und?

PINSK  Läuft gut, französische Suite

SELCH  Sehr gut. Schreiben Sie! Generationen, Geschichte, gelebte Erfahrung, Schmach, Komma, kommen sie tiefer, werden sie schwächer, müssen sie raus. Punkt. Aber der Mensch, das sehe ich heute als Pragmatiker ohne Illusion, war früher auch nicht besser oder schlechter, dümmer oder heller als gestern, morgen oder heute

PINSK  Etwas langsamer bitte

SELCH  Natürlich

PINSK  Heller als gestern Abend oder

SELCH  Als gestern Morgen oder heute Abend

PINSK  Ach so, heute Abend

SELCH  Können Sie nocheinmal lesen bitte

PINSK  Generationen, Geschichte, gelebte Erfahrung, aber der Mensch

SELCH  Moment, da fehlt doch was

PINSK  Ach so, Erfahrung, Schmach, kommen sie tiefer

SELCH  Genau. Schmach, Punkt, dann:

PINSK  Kommen sie tiefer, werden sie schwächer, müssen sie raus

SELCH  Richtig, raus. Vielleicht noch nicht klar genug

PINSK  Stimmt, etwas dunkel ist die Stelle schon

SELCH  Gut, es ist eine Zusammenraffung größerer Prinzipien

PINSK  Es ist sehr gerafft, ja

SELCH  Auch groß

PINSK  Sicher, das Bild ist stark

SELCH  Tiefer, schwächer, raus, schwierig

PINSK  Soll ich lassen oder ändern?

SELCH  Lassen. Schreiben Sie: Nicht der Mensch, sondern –

PINSK  Herr Vizepräsident! Jetzt kriege ich hier einen roten Alarmbot

SELCH  Amt und Institution, Politik und Bürokratie – was für ein Alarm denn

PINSK  Mit dringender Meldung, daß in

SELCH  Aha, wieso, was ist?

Unterbunker


PINSK  Da sind in

SELCH  Was ist denn jetzt los?

PINSK  Flugzeuge, Angriff, Sie müssen sofort

SELCH  Müssen wieso? Warten Sie, halt

PINSK  Runter, kommen Sie!

SELCH  Moment, ich gehe selbst

Dann kam der Angeklagte auf die Situation im Unterbunker zu sprechen. In totaler Stille hätten die anwesenden Minister und Generäle die beiden Fernseher angeschaut, die den Angriff auf New York und Washington live übertragen haben, auch Pressesprecher, Redenschreiber, Justiziare und Personenschutzbeamte, insgesamt etwa fünfzehn Personen, seien in dem engen Notgefechtsstand im Unterbunker um den Tisch versammelt gewesen....

Erscheint lt. Verlag 20.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
ISBN-10 3-518-78175-8 / 3518781758
ISBN-13 978-3-518-78175-3 / 9783518781753
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