Das Farbenhoroskop -  Lars van Keuk

Das Farbenhoroskop (eBook)

Erzählungen und Gedichte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
464 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-6230-6 (ISBN)
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Erzählungen und Gedichte vom und über das Leben. Wie es war, wie es ist, und wie es möglicherweise sein wird.

Lars van Keuk, geboren 1970, wohnhaft in Düsseldorf. Physiotherapeut, Fotograf, Buchautor.

Das Farbenhoroskop


Blue konnte sich nicht mehr daran erinnern, dieses Buch gekauft zu haben. Niemand hatte es ihm geliehen oder geschenkt. Und doch stand es eines Tages in seinem Bücherregal. Aus irgendeinem Grund ist es plötzlich dort aufgetaucht.

Blue betrat eines morgens sein Wohnzimmer und spürte, dass sich etwas verändert hatte, als wären über Nacht die Wände farbig angemalt worden. Oder als hätten sämtliche Möbel ihre Plätze getauscht. Etwas war anders, etwas war neu. Blue sah sich um und auf den ersten Blick fiel nichts auf, alles stand oder lag an seinem Platz. Er schaute über das Sofa, den Couchtisch. Und sah dann ein Buch im Bücherregal, das er noch nie zuvor dort gesehen hatte. Es war etwas größer als die anderen Bücher und sein Titel war in schwarzer Schrift geschrieben. Blue nahm es aus dem Regal. Das Buch hieß „Das Farbenhoroskop“, es war ungewöhnlich dick und für seine Größe ziemlich leicht. Blue blätterte durch die Seiten und jede Seite klang und roch anders, jede Seite sah anders aus. Mal war sie nahezu ausgefüllt mit Sätzen und Wörtern. Und mal nahezu leer. Der Schrifttyp, die Schriftgrösse. Sie wechselten beständig, als würden sie in Bewegung gehalten.

Das Farbenhoroskop.

Blue mochte den Titel des Buches, er erinnerte ihn an seinen Vater. An der Wand gegenüber des Bücherregals hingen die Bilder und Fotos seiner Familie. Jeder Rahmen war unterschiedlich, einzigartig, wie seine Eltern es waren, oder sein Bruder. Ihre Gesichter und Augen sahen Blue an, wenn er das Zimmer betrat. Manchmal spürte Blue den Blick, der ihm in die Küche folgte. Manchmal stand Blue lange vor den Bildern, vor den vertrauten Gesichtern und sah in deren Augen. Manchmal sah er durch sie hindurch und dann glaubte er, schemenhaft einen leuchtenden Ort in der Dunkelheit zu sehen. Wie ein warmes Feuer in der Nacht oder ein einzelner Stern am Himmel. Irgendwo da draußen war ein Licht. Und eine Stimme, sie klang wie die Stimme seines Vaters, der ihm Geschichten erzählte. Sein Vater liebte Märchen, er las gerne vor und ihm hätte der Titel des Buches gefallen.

Wie lange ist das her? Das fragte sich Blue häufig, wenn er vor den Bildern stand und sie sich ansah.

‚Wie lange ist es her und fühlte ich mich damals auch schon so leer? Warum stehe ich hier, vor diesen Bildern, und suche in ihnen Wärme und meide das Sonnenlicht.‘

Blue wählte zufällig irgendeine Geschichte und während er las, färbte sich die Schrift gelb. Die Schrift strahlte hell und sie erzählte eine Liebesgeschichte. Sie schildert den Augenblick, in dem ein älterer Mann verunsichert die Straße betritt. Seit Monaten hatte er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Er blieb im Schutz der vertrauten vier Wände, er scheute die Welt vor der Tür. Er zog sich zurück und aus dem Leben. Vor irgendetwas hatte er Angst, eine innere Stimme sagte ihm, er solle besser zu Hause bleiben. Und der Mann nahm ernst, was er hörte. Er ließ sich alle Lebensmittel liefern, alles, was er zum Leben brauchte, wurde zu ihm gebracht und auch in der Wohnung bewegte er sich kaum, weil er Angst hatte, zu stürzen. Die Wohnung wurde seine Burg, ihre Mauern waren ein Schutzwall gegen das unberechenbare Leben, das sich gegen alles und jeden werfen und jeden zu Fall bringen kann. Und der ältere Mann fühlte sich schwach und fragil. Würde er stürzen, dann würde er zerbrechen. In viele Stücke, und niemand wäre da, der dieses Puzzle wieder zusammensetzen könnte.

Aber nun betritt er endlich die Straße, er missachtet die warnende Stimme. Er tritt hinaus ins Licht. In den letzten Wochen hat er gespürt, wie einsam er ist. Wie allein er sich fühlt und wie sehr er sich einen Partner wünscht. Er möchte andere Menschen sehen und mit ihnen sprechen, sich austauschen und lachen. Sich wieder fühlen wie ein Kind, das sich vor Lachen den Bauch hält. Und dann trifft er auf seine Jugendliebe, die gerade zufällig durch die Straßen seiner Stadt streift. Als brächte der Zufall sie zusammen. Die beiden sehen und erkennen sich und werden augenblicklich ein Paar. Ein Paar, das für den Rest des Lebens zusammenbleibt.

Blue las die Geschichte. Leichte Lektüre. Eigentlich unwahrscheinlich und absurd. Aber irgendwie auch berührend. Eine schöne Geschichte in gelber Schrift, und Blue ging mit ihrer Stimmung in den Tag und er sah überall helles Licht und Freundlichkeit. An diesem Tag nahm jeder Rücksicht. Keine unfreundliche Geste, kein unfreundliches Wort. Die Sonne ging leuchtend im Osten auf und sie versank im Westen, hell und gelb. Was für ein besonderer Tag. Wie lange ist es her, dass Blue solch einen Tag erlebt hat? Es müssen Jahre sein. Wäre das Leben doch immer so...Wenn es doch bloß so bliebe...

Am folgenden Tag betrat Blue morgens das Wohnzimmer, um dann wie immer direkt in die Küche zu gehen, um sich dort einen Kaffee zu machen. Doch an diesem Morgen fiel ihm auf, dass das Buch nicht mehr auf dem Esstisch lag. Er hatte es am Abend zuvor dort hingelegt und nun war es scheinbar über Nacht verschwunden. Er suchte es in der Wohnung und fand es schließlich im Regal. Irgendwie war das Buch dorthin zurückgekehrt. Blue nahm es und dieses Mal schien es schwerer zu sein als am Vortag. Er schloss seine Augen, reiste in Gedanken durch das Buch und entschied sich für irgendeine Seite, irgendwo in der Mitte des Buches, und dann öffnete er die Augen und begann zu lesen. Und während er las, färbte sich die Schrift rot.

‚...Tess stieg in den Fahrstuhl und drückte auf die „10“. Die Türen schlossen sich geräuschlos und dann schwebte Tess in den zehnten Stock. In Gedanken fragte sie sich, wie hoch ein Stockwerk sei. Drei, vier Meter? Wie lange fiele man aus dem zehnten Stock bis zum Boden...

Würde sich die Zeit dann dehnen und in die Unendlichkeit führen?

Und dann öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und Tess stand vor einem langen Flur. Er war unbeleuchtet und schmal. Überall waren Türen, aber kein Mensch war zu sehen und kein Geräusch zu hören. Alles war still und dunkel, kein Tageslicht fiel ein. Tess drückte den Lichtschalter und die Deckenbeleuchtung erwachte wie aus Schlaf. Kaltes Licht leuchtete den Flur aus und der Flur schien endlos zu sein. Rechts von Tess befand sich der Raum „1“, und links von ihr lag der Raum „2“. Irgendwo in der Tiefe des langen Flures wird der Raum „100“ sein. Dorthin wurde Tess bestellt. Ein kühler, nüchterner Brief hat sie eingeladen. Irgendein Beamter wollte sie sprechen. Ein Beamter, der für den „Staat der wohlwollenden Augen“ arbeitet. Die Augen der Beamten waren überall, an jeder Straßenkreuzung und in jedem Viertel der Stadt. Eigentlich haben sie jeden noch so kleinen Fleck beobachtet und das Verhalten der einfachen Menschen ausgewertet. Die einfachen Menschen, zu denen auch Tess gehörte.

Tess ging los, durch Stille und vorbei an geschlossenen Türen. Immer wieder erlosch das Licht und immer wieder fand sich irgendwo ein Lichtschalter. Und irgendwann erreichte sie das Ende des Flures und sie stand vor Raum „100“. Wer wartete dort auf sie? Und weswegen?

Sie klopfte an die Tür und es es fühlte sich an, als schlüge ihre Hand gegen ihren Kopf.

Pock, pock, pock.

Keine Antwort, wieder ging das Licht aus und die Suche nach einem Lichtschalter begann.

Neonlicht erwacht und es zeigt Tess, wie sie die Tür von Raum „100“ öffnet. Die Tür fliegt auf wie ein Vorhang im Sturm und Tess blickt in die Tiefe. Unter ihr zehn Stockwerke. Kein Raum und kein Beamter. Würde sie die Tür durchschreiten, dann würde sie lange fallen. Oder erlöst aus diesem Leben, das kontrolliert und bewertet wird von Kameras.

Tess dreht sich um. Niemand ist hier. Niemand will ihr Fragen stellen. Also entschließt sie sich, zum Aufzug zurückzugehen. Sie wirft einen letzten Blick auf die seltsame Tür, die in den freien Fall führt, und nun trägt sie die Ziffer „1“. Ihr gegenüber befindet sich Raum „2“. Der Flur, der vor Tess liegt, ist lang und ewig.

Alles beginnt von vorne und Tess fragt sich, ob sich am Ende des Flures der Fahrstuhl befindet. Hoffentlich ist er noch da. Sie fragt sich, ob sie jemals zurückkehren wird in ihr Leben...‘

Eine rote Geschichte. Und ihre Stimmung übertrug sich in den Tag. Blue betrat die Straße und begegnete Misstrauen. Jeder wich dem anderen aus oder beäugte ihn voller Verachtung. Blue blieb eine Weile stehen und beobachtete, was um ihn herum geschah. Wirre Blicke flogen durch die Straßen.

Hektische Bewegungen flatterten über den Boden. Jeder blickte sich scheu über die Schulter, wie verfolgtes Wild. Als würde jeder gejagt. Oder aus der Ferne beobachtet.

Ein roter Tag endete. Zum Glück endete er irgendwann, und während Blue in sein Bett fiel und eintauchte in tiefe Träume, erhob sich das Buch vom Küchentisch. Als wären seine Seiten weiße Flügel. Es flog durch jeden Raum, es erforschte jede Ecke der Wohnung, blieb eine...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
ISBN-10 3-7597-6230-1 / 3759762301
ISBN-13 978-3-7597-6230-6 / 9783759762306
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