Kafkas Werkstatt -  Andreas Kilcher

Kafkas Werkstatt (eBook)

Der Schriftsteller bei der Arbeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81506-5 (ISBN)
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Franz Kafka hat Erzählungen und Romane geschrieben, die zu den rätselhaftesten Texten der Weltliteratur gehören. Doch wie muss man sich den Schriftsteller bei der Arbeit vorstellen? Keinesfalls als weltabgewandten Autor, der in einsamen Nächten chiffrierte Traumbotschaften niederschrieb, sondern als 'gierigen' Leser, der die großen Diskurse seiner Zeit unauflösbar in seine Texte verwob. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher gewinnt aus dem Blick in Kafkas Werkstatt einen Schlüssel dazu, wie seine so vieldeutigen Texte zu verstehen sind. Lesen und Schreiben griffen in Kafkjas Werkstatt unmittelbar ineinander. Er nahm intensiv an den großen Gesprächen der Moderne wie der Psychoanalyse und dem Marxismus, dem Zionismus oder dem Okkultismus teil. Was er las, ist teils sichtbar, teils unsichtbar in seine Texte verwoben.Andreas Kilcher führt dies auf bestehende Weise an Kafkas vielleicht mysteriösestem Text vor, Die Sorge des Hausvaters. Die kurze Erzählung über die höchst merkwürdige Gestalt mit dem ebenso merkwürdigen Namen Odradek thematisiert das Unheimliche der Moderne: das Unbewusste der Psychoanalyse ebenso wie die marxistische Ware, die jüdische Diaspora und das Gespenst des Okkultismus. Kafkas Texte können nicht enträtselt werden, indem man ihnen eine einfache Botschaft unterstellt. Sie wollen stattdessen in ihrer so irritierenden wie faszinierenden Vielgestalt wahrgenommen werden.

Andreas Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Er hatte Gastprofessuren an der Hebrew University in Jerusalem, der Tel Aviv University, der Princeton und der Stanford University inne. Bei C.H.Beck ist der von ihm herausgegebene Band "Franz Kafka: Die Zeichnungen" erschienen, der in elf Sprachen übersetzt wurde.

2. Text und Kontext: Odradek


«‹Dann aber kehrte er zu seiner Arbeit zurück, so wie wenn nichts geschehen wäre.›
Das ist eine Bemerkung die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.»[1]

Kafka, Oktavheft H, 1918

Was bis hierher als Kafkas Operationen des Lesens-und-Schreibens im Allgemeinen entwickelt wurde, gilt es im Folgenden an konkreten Beispielen aufzuzeigen. Vordergründig soll es dabei um einen einzigen Text gehen, und zwar um einen besonders kurzen, der kaum als eine eigentliche Erzählung in Erscheinung tritt, und noch dazu um einen besonders rätselhaften Text: das Prosastück Die Sorge des Hausvaters über die ganz und gar merkwürdige Gestalt mit dem ebenso merkwürdigen Namen Odradek. Es ist dies vielleicht sogar Kafkas hermetischster Text überhaupt, der sich auch bei wiederholter Lektüre seiner Interpretation geradezu ostentativ entgegenstellt, auch indem er die Unmöglichkeit des Verstehens und das Unbehagen darüber zum Thema macht.

Vorkehrungen gegen die Auslegung


So gesehen scheint dieser Rätseltext zumindest auf den ersten Blick als Probe aufs Exempel von Kafkas Lese-und-Schreib-Verfahren wenig geeignet: zu sehr in sich versponnen, zu unförmig, zu enigmatisch. Entsprechend schwer hat sich die bisherige Forschung mit diesem so deutungsresistent auftretenden Text getan, der nichtsdestoweniger wohl auch deshalb eine Vielzahl von Deutungsversuchen stimulierte, unter denen manche den Schlüssel zum Text gefunden zu haben glauben.[2] Einige haben spekulative Züge, indem sie den Text in seiner Bedeutung universalisieren, sei es theologisch, philosophisch oder psychologisch, während biographische Auslegungen auch aus Odradek Kafka herauslesen wollen. Vorsichtigere Lektüren beschränken sich auf formale Strukturen,[3] während skeptische die Vieldeutigkeit, wenn nicht gar Undeutbarkeit als das eigentliche Charakteristikum des Textes hervorheben.[4]

Die Sorge des Hausvaters scheint Walter Benjamins allgemeine Theorie zu Kafka zu bestätigen, wonach dieser «alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen» habe.[5] Darin stimmte Benjamin im Sommer 1934 in Teilen mit seinem Gesprächspartner Bertolt Brecht überein, den er in seinem dänischen Exil in Svendborg zwischen Dezember 1933 und Januar 1939 wiederholt besuchte. Die beiden führten Gespräche nicht nur über die politische Lage in Deutschland und der Sowjetunion, sondern auch über die «dunklen und schwer zugänglichen Werke» Kafkas, einschließlich Die Sorge des Hausvaters. Deren Schwierigkeit bestehe darin, dass man «zu allem Schlüssel braucht wie bei Geheimschriften».[6] Darüber aber, wie damit umzugehen sei, waren die beiden sich gar nicht einig: Benjamin erkannte die hermeneutische Herausforderung darin, gerade solche Texte in ihrer «Tiefe» auszuloten. Brecht dagegen kritisierte Kafkas Dunkelheit mit einem polemischen Begriff von Karl Marx gegen den «spekulativen Idealismus»: als «Geheimniskrämerei».[7] Laut Benjamin äußerte sich Brecht am 5. August 1934 folgendermaßen: «‹viel Schutt und Abfall, viel wirkliche Geheimniskrämerei›», und weiter: «‹Man wird dann eine Anzahl sehr brauchbarer Sachen finden. Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist eben Geheimniskrämerei. Der ist Unfug. Man muß ihn beiseite lassen. Mit der Tiefe kommt man nicht vorwärts. Die Tiefe ist eine Dimension für sich, eben Tiefe – worin dann gar nichts zum Vorschein kommt.› Ich erkläre B. abschließend, in die Tiefe zu dringen, sei meine Art und Weise, mich zu den Antipoden zu begeben.»[8]

Es fällt nicht schwer, dem Eindruck des Hermetischen in Die Sorge des Hausvaters zuzustimmen, zumal der Text dem Vorschub zu leisten scheint. Die «Sorge des Hausvaters», die Sorge nämlich über die Unverständlichkeit einer rätselhaften Gestalt, antizipiert die hermeneutische Sorge des Lesers über die Unverständlichkeit des Textes.[9] Und man möchte Benjamins These auch allgemeiner zustimmen, insofern Kafka nicht nur in diesem, sondern auch in mehreren weiteren Texten «Vorkehrungen» gegen ihre Deutung getroffen hat. Der zynische Imperativ «Gibs auf, gibs auf» in einer Parabel Kafkas mit eben diesem Titel,[10] den der Schutzmann einem nach dem Weg Fragenden entgegenschleudert, scheint die Konsequenz daraus zu sein: Das Scheitern und Aufgeben des Verstehens entspringt einem grundlegenden Skeptizismus.

Für solche Fälle scheint auch zu gelten, was im Roman Der Process der Geistliche im Gespräch mit Josef K. im Dom über die Deutungsschwierigkeiten der Parabel Vor dem Gesetz festhält, nachdem er diese dem um Verstehen und Kontrolle ringenden Josef K. vorgetragen hat: «Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.»[11] Analog dazu lässt sich von dem Text Die Sorge des Hausvaters zunächst mit Sicherheit einzig und allein sagen, dass er als Textkörper, als Schrift physisch «unveränderlich» vorliegt, ungeachtet der «Meinungen», die sich an ihm abarbeiten. Dass der Text auch im philologischen Sinne «unveränderlich» vorliegt, ist konkret dadurch gegeben, dass Kafka ihn zu Lebzeiten gleich zwei Mal zum Druck gebracht hat: Ein erstes Mal erschien er Ende Dezember 1919 in der «Chanukkah-Nummer» der jüdischen Wochenschrift Selbstwehr neben anderen Texten von Autoren aus dem Prager deutsch-jüdischen Umfeld wie Max Brod, Felix Weltsch und Franz Werfel. Und ein zweites Mal erschien er im Kurt Wolff Verlag in Kafkas Sammlung kürzerer Erzähltexte unter dem Titel Ein Landarzt. Der Band war schon seit Sommer 1917 in Planung, konnte jedoch infolge des Krieges erst Anfang 1920 erscheinen. In der Selbstwehr wird auf sein bevorstehendes Erscheinen ausdrücklich hingewiesen: «Diese Erzählung – enthalten in dem erscheinenden Buche: ‹Der Landarzt› – wird der ‹Selbstwehr› vom Dichter freundlichst zur Verfügung gestellt.» Der Herausgeber der Zeitschrift war zu der Zeit Kafkas und Brods gemeinsamer enger Freund Felix Weltsch, von dem auch diese redaktionelle Notiz stammt.

Selbstwehr, 19. Dezember 1919: Titelei und Erstdruck von Die Sorge des Hausvaters

Angesichts der Deutungsschwierigkeiten lautet die entscheidende Frage, wie dieser rätselhafte Text angemessen gelesen werden könnte. Tatsächlich gibt es zwei Optionen: entweder vor den Schwierigkeiten des hermetischen, opaken Textes zu resignieren, indem das Rätsel als unlösbar verabsolutiert respektive durch eine «Wut des Verstehens» aufgelöst wird;[12] oder aber sich auf Kafkas Rätsel einzulassen, die Rätselstruktur des Textes also ernst zu nehmen und sie in ihrer Machart und Wirkungsweise, in ihren Formen und Funktionen zu untersuchen, anstatt verzweifelt nach Sinn und Bedeutung zu suchen. Wie das gelingen kann, erschließt sich aus der erarbeiteten Einsicht in das Zusammenspiel der Operationen des Lesens-und-Schreibens in Kafkas Werkstatt. Die Rätselstruktur des Textes über das Wesen namens Odradek soll daher im Folgenden als Erzeugnis des Zusammenspiels von Lesen und Schreiben begriffen respektive untersucht werden.[13]

Literarische Ökosysteme


Dafür gilt es zunächst ganz allgemein, diesen Text zu kontextualisieren. Kontexte existieren genauer auf unterschiedlichen Ebenen. Es ist nicht etwa mit einem einzelnen Kontext zu rechnen, vor dessen Horizont ein Text sich aufschlüsseln ließe, sondern mit einer Vielzahl von Kontexten unterschiedlicher Art und Größe. Sie bilden zu Texten gleichsam Umkreise oder Umwelten unterschiedlicher Nähe, die sich zudem auch überschneiden können, gleichsam literarische Biotope und Ökosysteme. Mit dem Text teilen sie zunächst ganz allgemein die raumzeitliche Genossenschaft des Lesens-und-Schreibens, also Zeitgenossenschaften und Raumgenossenschaften, die über die Doppeloperation des Lesens-und-Schreibens gestiftet sind. In solchen literarischen Ökosystemen entsteht (in Kafkas Werkstatt) Literatur als Zyklus von Lesen-und-Schreiben.

Als erster gehört dazu der Publikationskontext, d.h. in diesem Fall das textuelle und institutionelle Umfeld des Drucks von Die Sorge des Hausvaters: zunächst die Wochenschrift Die Selbstwehr, in der...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-406-81506-5 / 3406815065
ISBN-13 978-3-406-81506-5 / 9783406815065
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