Castor Pollux 8 -  Michael Schauer

Castor Pollux 8 (eBook)

Das Unheil aus der Tiefe
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2024 | 1. Auflage
144 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-5653-2 (ISBN)
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Hier unten war das Meer schwarz und für menschliche Augen undurchdringlich. Borania dagegen konnte alles sehen, was sie umgab, doch sie war auch kein Mensch.
Die Meerjungfrau warf einen Seitenblick auf Andria, die neben ihr schwamm. Da sie nach so vielen Jahrhunderten Gesellschaft gefunden hatte, hätte sie glücklich sein müssen. Wäre da nicht der Schmerz über den Verlust des Schatzes. Mit jedem Tag wuchs ihr Verlangen nach Rache an dem Mann, der ihn ihr für immer genommen hatte.
Sie erinnerte sich gut an seinen Namen. Er lautete Castor Pollux.

Remus Apolaus erwachte und sah sich verwirrt um.

Wieso war es so dunkel? Seine Frau Despina pflegte in der Nacht stets eine Öllampe brennen zu lassen, da sie sich in der Finsternis fürchtete. Von der kleinen Flamme, die ihr Schlafgemach für gewöhnlich in flackerndes Licht tauchte, war jedoch nichts zu sehen.

Er lag auch nicht in seinem Bett, wie er gleich darauf feststellte. Und über ihm befand sich nicht die Zimmerdecke, sondern die Sterne, die sich wie eine Armee funkelnder Soldaten um die bleiche Scheibe des Vollmonds am schwarzen Firmament scharten.

Jetzt bemerkte er auch das sanfte Schaukeln.

Bei den Göttern, er lag in seinem Fischerboot!

Remus griff nach der Reling, zog sich hoch und versuchte, mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Wenigstens schien der Mond, sonst hätte er nicht einmal die Hand vor seiner Nase erkennen können.

Weit und breit war kein Land zu sehen.

Verzweiflung ergriff ihn. Wie hatte das nur passieren können?

Wie gewohnt war er morgens zum Fischen aufs Meer rausgefahren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Tagen war ihm das Glück diesmal ärgerlicherweise nicht hold gewesen. Die Fische schienen ihn foppen zu wollen und immer dort zu sein, wo er gerade nicht war. Gegen Mittag waren seine Körbe nicht einmal zur Hälfte gefüllt gewesen, und das hatte ihn maßlos geärgert. Weswegen er nicht wie sonst um diese Zeit zurückgefahren, sondern draußen geblieben war. Wieder und wieder hatte er sein Netz ausgebracht. Vergebens, die Ergebnisse blieben mager, und seine Laune war mit jeder Minute schlechter geworden.

Er erinnerte sich, wie ihm plötzlich schwindelig geworden war und er sich in den Bug seines Boots gekauert hatte. Hätte er das Bewusstsein verloren und wäre über Bord gefallen, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet. Vielleicht hatte er sich zu viel zugemutet. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren besaß er nicht mehr die Kraft und Ausdauer eines jungen Mannes. Was er sehr wohl wusste, aber aus Stolz gerne verdrängte.

Tief hatte er die salzige Luft in seine Lunge gesaugt, trotzdem war der Schwindel stärker geworden. Sterne waren vor seinen Augen erschienen und hatten einen wilden Tanz begonnen.

Hier endete seine Erinnerung.

Ob er einen Schwächeanfall erlitten hatte? Oder gar etwas Schlimmeres? Nein, wenn sein Herz versagt hätte, wie es vor drei Monaten seinem Nachbarn Philippos passiert war, wäre er kaum wieder aufgewacht. Das hatte auch Philippos nicht getan, und seine Familie war nach wie vor untröstlich.

Er musste an seine Frau denken. Despina verging bestimmt vor Sorge. Wenn er wieder nach Hause kam, würde sie sich fürchterlich aufregen und ihn vollkommen zu Recht einen Narren schelten, weil er wegen ein paar Fischen mehr oder weniger seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hatte.

Wenn er wieder nach Hause kam.

Wie weit war er von der Küste entfernt gewesen, als er das Bewusstsein verloren hatte? Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, was eine weitere beunruhigende Feststellung war. Gut möglich, dass ihn die Strömung aufs offene Meer hinausgetrieben hatte.

Sein Mund wurde trocken. Im schlimmsten Fall schwebte er in höchster Lebensgefahr. Die Vorräte an Bord waren kaum der Rede wert. Ein Beutel mit etwas Trockenfleisch und einem Kanten Brot sowie ein zur Hälfte gefüllter Wasserschlauch waren alles, was er mitgenommen hatte. Mehr brauchte er normalerweise auch nicht.

Damit würde er nicht lange überleben können.

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Nur mit Mühe drängte er die aufsteigende Panik zurück. Solange er atmete, gab es eine Chance. Mit etwas Glück würde die Küste am Horizont auftauchen, sobald es hell wurde.

Aber was, falls nicht?

Einen tiefen Seufzer ausstoßend, hockte er sich auf die schmale Bank am Heck und verschränkte die Arme vor der Brust. Es brachte nichts, sich verrückt zu machen. Wenn er nur gewusst hätte, wie lange es noch dauerte, bis die Sonne aufging.

Nachdem er eine Weile so dagesessen hatte, erregte ein Gluckern ganz in der Nähe seine Aufmerksamkeit. Neugierig beugte er sich vor und lugte über die Reling. Bis auf den Mond, der sich in der tiefschwarzen Wasseroberfläche spiegelte, war nichts zu sehen.

Unwillkürlich musste er an die alten Geschichten über die Seeungeheuer denken, die hier draußen ihr Unwesen treiben sollten. Unwillig schüttelte er den Kopf. Auf diesen abergläubischen Unsinn hatte er nie etwas gegeben. Seit über vierzig Jahren fuhr er nun aufs Meer hinaus. Würden solche Kreaturen existieren, wäre er ihnen längst begegnet. Die Leute, die sich so was ausdachten, hatten eine blühende Fantasie oder litten an Langeweile. Oder beides.

Das Gluckern wiederholte sich.

Seine Stirn legte sich in Falten. Abermals beugte er sich vor. Spielten ihm zu allem Überfluss seine Ohren einen Streich?

Da, eine Bewegung. Im Mondlicht hatte er es deutlich gesehen. Er stand auf und spähte angestrengt auf die Stelle. Irgendetwas war da unten.

Zwei bleiche Hände schossen aus dem Wasser. Eiskalte Finger packten seinen Hals. Remus stieß einen Schrei aus und wollte zurückweichen. Genauso gut hätte er versuchen können, einen Felsen zur Seite zu schieben. Ein heftiger Ruck. Wie eine Puppe wurde er über Bord gerissen, stürzte mit einem Klatschen ins Meer und ging sofort unter.

Wild mit den Armen rudernd, versuchte er wieder nach oben zu kommen. Etwas Spitzes bohrte sich in seinen Hals, sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Wasser strömte in seine Kehle und seine Lunge.

Sein letzter Gedanke galt Despina.

»Fühlst du dich besser?«, fragte Borania.

Andria nickte. »Viel besser. Mein Durst ist gestillt.«

Wie schwerelos schwebten die beiden Frauen in der Schwärze des Meeres, während der Tote unter ihnen langsam Richtung Grund sank. Sein lebloser Körper war vollkommen blutleer. Andria hatte ihn bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt.

Die Gier ihrer Gefährtin nach dem Lebenssaft der Menschen war ein Phänomen, das sich Borania nicht erklären konnte. Sie selbst benötigte kein Blut, Andria dagegen war auf regelmäßigen Nachschub angewiesen. Stillte sie ihren Durst nicht, wurde sie Tag für Tag schwächer. Vielleicht würde sie irgendwann sogar sterben. Sicher war das nicht, aber sie hatten beide nicht vor, es darauf ankommen zu lassen.

Zu Boranias Missfallen waren sie deshalb von Zeit zu Zeit zu Abstechern an die Küste gezwungen. Das Land war nicht ihr natürliches Element. Sie hatte oft darüber nachgedacht, was die Ursache für Andrias seltsames Verlangen sein mochte, war jedoch zu keinem Ergebnis gekommen.

Andria stammte aus der Familie von Loi aus dem Dorf Kalabrus. Einst hatte Borania dem jungen Mann als Zeichen ihrer Liebe in einem Moment närrischer Schwäche ihren Schatz überlassen. Loi jedoch hatte sie zurückgewiesen und darüber hinaus das Gold behalten. Voller Zorn hatte sie deshalb einen Fluch ausgesprochen und geschworen, hundert Jahre später wiederzukehren. Wollten sie nicht alle vernichtet werden, mussten die Bewohner von Kalabrus ihr den Schatz oder Lois jüngsten Nachkommen ausliefern.*

Vom ersten Augenblick an war Borania von Andrias Schönheit fasziniert gewesen. Sie war ein mehr als würdiger Ersatz für Loi. Als Andrias Bruder und der Bezwinger den Schatz auf ihre schwarze Galeere gebracht hatten, dachte sie deshalb gar nicht daran, die junge Frau wieder einzutauschen.

Beinahe wäre es ihr sogar gelungen, Castor Pollux zu töten, was ihr Ruhm und Ansehen unter den Finsteren eingebracht hätte. Hätte sich nicht im letzten Moment diese Fremde eingemischt und ihm geholfen. Bis heute wusste Borania nicht, um wen es sich bei ihr gehandelt hatte. Wie aus dem Nichts war sie plötzlich dagewesen.

Castor Pollux und Andrias Bruder hatten entkommen können, die Galeere und der Schatz waren vernichtet worden. Letzteres stellte einen schmerzlichen Verlust dar, den selbst ihre neue Gefährtin nicht wettmachen konnte. Sie hatte das Gefühl geliebt, in den in einer fernen Welt geschmiedeten Münzen mit ihrem Konterfei zu wühlen und das kühle Metall auf ihrer Haut zu spüren. Für einen Menschen war der Kontakt damit tödlich, ihr dagegen bereitete es Wohlbefinden, ja ein Gefühl sinnlicher Lust. Der Schatz hatte ihr Kraft gegeben und ihr viel bedeutet.

Ihn in der Obhut der Menschen zu wissen, war hundert Jahre lang ein stetes Ärgernis für sie gewesen. Doch sie hatte sich damit getröstet, dass er noch existierte. Nun jedoch war nichts davon übrig als grauer Staub auf dem Meeresgrund. Eine einzige Münze nur hatte sie retten können. Sie musste aus der Truhe gerollt sein und war ins Meer gefallen, bevor die verhängnisvolle Magie der Fremden den Schatz ergriffen hatte. Seitdem trug Borania sie an einem dünnen Riemen um den Hals.

Eines Tages würde Castor Pollux dafür bezahlen. Hätte er sich nicht eingemischt, wäre die Fremde nie aufgetaucht, also war es seine Schuld. Boranias Verlangen nach Rache wuchs mit jedem Tag. Oft schon hatte sie sich ausgemalt, was sie mit ihm anstellen würde, wenn sie ihn in die Hände bekam.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Ein Schatten schoss auf sie zu. Etwas Hartes prallte gegen ihre Schulter und war im nächsten Moment an ihr vorbei.

Ein riesiger, grauweißer Körper mit einer Flosse auf dem Rücken.

Ein Hai!

Die Meerjungfrau runzelte ihre blassblaue Stirn. Normalerweise wagte es keiner der Meeresbewohner, ihr zu nahe zu kommen. Dieser hier musste...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7517-5653-1 / 3751756531
ISBN-13 978-3-7517-5653-2 / 9783751756532
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