Helisee -  Andreas Sommer

Helisee (eBook)

Der Ruf der Feenkönigin
eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
528 Seiten
Neptun Verlag
978-3-85820-355-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

'Ich bin mir sicher, dass nur du allein dieses besondere Werk vollbringen kannst. Und sei dir einer Sache bewusst: du bist bereits zu weit gegangen in dieser Geschichte, als dass du vor deiner Bestimmung jetzt noch davonlaufen könntest.' Im 10. Jahrhundert gehört der westliche Teil der heutigen Schweiz zum Königreich Birgunt. Es ist eine wilde Gegend voller Wälder und Sümpfe, wo viele Menschen noch im Glauben an die alten Götter und Geister leben. Die gute Königin Bertha schützt dieses Land tapfer gegen räuberische Einfälle der mediterranen Mauren.Als der Hirtenjunge Ernestus, den die Leute im Dorf Erni nennen, eine ausgerissene Ziege in den Wald verfolgt, überschreitet er unabsichtlich die Grenze des verrufenen Landstriches Nuithônia. Seit Menschengedenken ist es verboten, dieses Gebiet am Fuss der Alpen zu betreten, denn es heisst, in seiner Wildnis verberge sich ein geheimnisvolles Tor in das verwunschene Reich Helisee, wo die Feenkönigin Helva Hof halten soll. Als Ernestus in Nuithônia einen aussergewöhnlichen Fund macht, gerät er in einen Strudel abenteuerlicher Ereignisse, die ihn nicht nur tief in die magische Wirklichkeit der Feen und Elben verwickeln, sondern auch die Frage aufwerfen, ob er wirklich derjenige ist, der er zu sein glaubt. Und auf welche Weise ist sein Schicksal wohl mit dem verwegenen Ritter Durestân Karassius verwoben, den es auf der Jagd nach einem weissen Hirsch ebenfalls nach Nuithônia verschlägt? Eine tiefgründige Heimatgeschichte um Macht und Magie, Liebe und Freundschaft, Wunder und Wandlung, welche die überlieferten Sagen und Mythen der alten Schweiz zu neuem Leben erweckt.

ie Ziege hob ihren struppigen Kopf und liess ein unwilliges Meckern hören. Mit zwei, drei Sätzen entschwand sie in das Gestrüpp am Waldrand. Die gebieterische Stimme ihres Hirten überhörte sie geflissentlich.

„Volda, komm sofort zurück!“, rief Ernestus noch einmal. Er bemühte sich, seiner Aufforderung so viel Nachdruck wie möglich zu verleihen. „Du darfst da nicht rein! Donner und Drudenspucke! Vater hat es gesagt, Mutter hat es gesagt, Ulfgâr und Tilbôr haben es gesagt. Alle sagen es.“

Der junge, schlaksige Bursche mochte noch keine fünfzehn Winter zählen, doch wenn er wütend war, vibrierte ein Unterton in seiner Stimme, der ihn weitaus älter erscheinen liess.

Das kümmerte die ausgerissene Ziege jedoch herzlich wenig. Volda zog ein unwiderstehlicher Drang zum Bachufer, denn dort wuchsen die saftigsten Kräuter. Was scherte es sie, wenn das ihrem Hüter nicht passte?

Als Ernestus das gehörnte Biest verschwinden sah, warf er einen hastigen Blick zurück zum Rest der Herde. Die übrigen Ziegen weideten alle ungerührt unter den Eschen. Das widerborstige Gehabe der alten Volda schien sie nicht zu beirren. Der Hirtenjunge fasste seinen Stock fester und sprang hinter der Ausreisserin in das Unterholz. Fluchend bahnte er sich einen Weg durch klatschende Zweige und kratziges Gestrüpp.

Endlich stolperte er auf eine Lichtung. Nicht weit von ihm entfernt floss lautlos ein kleiner Bach unter den uralten Bäumen hindurch. An seinem Ufer wuchsen Elbenrauken, Nachtschatten und Drudensterne. Der Geruch dieser Pflanzen hing schwer und lockend in der Luft. Über dem träge dahinströmenden Wasser tanzte ein eigenartiges Flimmern. Volda stand zwischen den hohen Stauden und rupfte genüsslich das üppige Blattwerk von den Stängeln. Unschuldig blickte sie zu Ernestus hinüber, als sei es ganz normal und rechtens, dass sich eine Ziege der Obhut ihres Hirten entziehen darf. Der Junge hob seinen Stock und ging mit schnellen Schritten auf Volda zu.

„Warte nur, du unartiges Geschöpf“, keuchte er verdrossen, „dir werde ich jetzt deinen Meister zeigen.“ Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, warf sich die Ziege ruckartig herum und sprang mit einem herausfordernden Meckerlaut über den Bach. Auf der anderen Seite äste sie unbehelligt weiter.

Ernestus prallte vor dem dunklen Wasser zurück, als starrte ihn ein Ungeheuer daraus an. In seinem Kopf hörte er unwillkürlich die ermahnende Stimme seines Vaters: Erni, du bist ein guter Hirte. Du kennst die besten Weideplätze. Aber du weisst, dass unser Land am Flüsterbach endet. Nicht nur unser Land, die Welt der Menschen hört dort auf. Erni, untersteh dich, jemals diese Grenze zu überschreiten!

Ernestus grunzte missmutig. Er hasste es, wenn sie ihn zuhause Erni nannten. Das war der Name eines kleinen Jungen. Wohl wahr, so hatten sie ihn von klein auf gerufen. Aber er war jetzt ein junger Mann. Und er hiess Ernestus. Das klang viel eindrucksvoller. Es war ein nobler birgundiônischer Name - wie er wohl einem Ritter gut anstehen mochte.

Wütend schlug er mit seinem Stock in das Gestäude.

Aber er war kein Ritter! Bloss ein gemeiner, unbedeutender Hirte. Der Sohn des Dorfmeiers1 von Calamis, dessen Leute am Rande der Waldöde einen Flecken Land bestellten und ihrem tyrannischen Landherrn brave Untertanen waren. Er hütete Geissen, seit er gehen konnte. Und er kannte jeden Winkel zwischen den Sumpfwiesen am See und dem Rand des grossen Waldes.

Dass man den Flüsterbach nicht überqueren dürfe, sagten sie alle. Die Bauern, die Jäger, die Köhler und die Reisigen. Alle ausser Grossmutter. Die Älteste von Reginalds Sippe lächelte bloss versonnen, wenn das Gespräch auf diesen verrufenen Landstrich fiel. Aber sogar der Landherr hatte bei schwerster Strafe angeordnet, den königlichen Bann unbedingt zu achten, welcher über das verbotene Land verhängt war. Und Herr Luitolf von der Burg Karass war ein Ritter von noblem Geblüt.

Hinter diesem Bach beginne ein anderes Reich, hiess es allenthalben. Den Menschen sei es nicht bestimmt, dort zu wandeln. Es sei ein verzaubertes Land, in dem kein Gaugraf und kein Edelherr zum Rechten sehe. Nicht einmal des Königs Wort gelte dort etwas.

Die Leute nannten dieses herrenlose Gebiet seit jeher Nuithônia, das Nachtland. Andere hiessen es auch den Elbengau. Die Dämmerlande. Die Helvêtenöde. Das verbotene Land oder das Bannland.

Ja, er trug viele Namen, dieser Landstrich jenseits des Flüsterbaches. Und er war Schauplatz unzähliger Geschichten. Die Feenkönigin Helva halte dort Hof über ihr Volk von Elbischen2, Zwergen und Schraten. Aber auch von Lindwürmern, menschenfressenden Ogern und unberechenbaren Wilwissen3 war die Rede. Die es nicht erwarten konnten, dass ein unvorsichtiger, dummer Junge wie er in ihre Fänge lief.

Ernestus äugte über den schmalen Bachlauf, dessen dunkles Wasser sich schweigend durch den moosigen Grund wand – und diese Ziege da, dachte er halblaut, gilt dieses Gebot für sie nicht? Was ist, wenn sie von den Unholden erwischt wird?

Der Hirtenjunge wiegte seinen blonden Krauskopf und lächelte grimmig. „Schlaues Tier“, schnarrte er, „meinst, du könntest dich einfach nach da drüben absetzen und mich loswerden, was?“

Ernestus liess seinen Stecken in die Höhe schnellen und lachte laut auf. „Ha, aber da täuschst du dich, du alte Schwerenöterin. Mir kannst du nichts vormachen. Ich fürchte mich nicht vor diesem Rinnsal. Die anderen sind weit weg und sehen nicht, wie ich dich jetzt da drüben holen komme.“

Der Junge nahm Anlauf und sprang behände über den Bach. Und ehe die alte Volda sich versah, hatte ihr Hirte sie am Halsriemen gepackt. „Und nun geht´s zurück auf die andere Seite, zum Rest deiner Sippe. Die sind nämlich alle schön brav und wissen, was sich gehört.“ Mit Schwung riss Ernestus an Voldas Halsband und wollte sie gewaltsam über das Wasser zurückzerren. Aber so schnell gab sich die Leitgeiss aus Reginalds Stall nicht geschlagen. Sie sträubte sich, warf ihren Kopf herum und entwand sich dem verblüfften Burschen mit einem kräftigen Ruck. Und um zu beweisen, dass es ihr ernst war, sprang sie mit einem anklagenden Meckern davon, tiefer in den Wald hinein.

Ernestus zögerte nicht und nahm sogleich die Verfolgung auf. Nun war er richtig zornig und würde das durchtriebene Biest nicht ohne züchtigende Stockschläge davonkommen lassen.

Volda liess den Flüsterbach eilends hinter sich und brach sich einen Weg durch das Dickicht. Unter mächtigen Eichen, Ulmen und Buchen wucherte ein verwachsenes Unterholz, in dem ungesehene Schatten schlummerten. Geschickt schlüpfte das flüchtige Tier durch jeden Durchlass, der sich bot, und zog flink davon, als gälte es, dem reissenden Wolf zu entrinnen. Ernestus verhedderte sich in den zudringlichen Ranken des Unterwuchses. Es kam ihm vor, als hätte sich dieses gehörnte Scheusal mit den Mächten des Waldes geradezu gegen ihn verschworen. Als würden die Zweige absichtlich nach ihm greifen und ihn zurückhalten. Er stolperte über eine Wurzel, die sich seinen hastenden Füssen in den Weg stellte. Hart schlug er hin, riss sich im Dornicht die blossen Unterarme auf und verlor seinen Stecken.

Mit einem wüsten Fluchen rappelte er sich wieder auf die Beine und stürzte weiter voran. Irgendwo weiter vorne hörte er Gezweig brechen und Laub rascheln. Da musste Volda sein. Er konnte sie nur mehr hören, aus den Augen hatte er sie längst verloren. Seine Gedanken überschlugen sich. Ernestus war in Rage. Dass Volda sich ihm derart widersetzte, hatte er bislang nicht erlebt. Aber er war sich sicher, dass er die Leitgeiss heute Abend in den Stall seines Vaters zurückbugsieren würde, auch wenn er ihr zuvor den Hals umdrehen musste.

Angestrengt lauschte der rennende Hirte auf Geräusche der entflohenen Quertreiberin.

Es war unvermittelt still geworden. Keuchend blieb Ernestus stehen.

Tiefer im Wald krächzte ein Häher. Hoch über dem dicht verwachsenen Kronendach der Eichen und Eschen ertönten rauschende Flügelschläge. Das kehlige Krroaak eines Raben erklang und entfernte sich. Ansonsten war kein Laut zu hören.

„Volda!“, rief der Hirtenjunge und versuchte einen Anfall aufkommender Unruhe zu unterdrücken. Aus den grünen Säulenhallen des endlosen Waldes klang lediglich sein Echo zurück.

Erst jetzt gewahrte Ernestus, wie urwüchsig dieser Wald war. Die Baumstämme waren so dick, dass man daraus grosse, geräumige Weidlinge hätte hauen können. Oder mächtige Firstbalken und Pfetten für neue Häuser und Scheuern. Aber hier wurde kein Holz geschlagen. Das erkannte er sofort. Denn keines Menschen Fuss betrat gemeinhin diese Waldungen, um etwas daraus fortzunehmen. Und wenn, dann war hier gewiss kein wachsamer Bannwart zur Stelle, der einen solchen Frevel ahndete. Er befand sich jenseits des Flüsterbaches. In jenem Landstrich, den seine Leute angstvoll mieden.

Nuithônia, raunten sie seinen Namen und schlugen überlieferte Zeichen zur Abwehr von Unheil und Drudenwerk.

„Verdammt Volda“, schluchzte Ernestus und spürte, wie sich sein Unbehagen zu einem stockenden Klumpen in der Brust verdichtete. Er konnte doch nicht ohne die Leitgeiss der ihm anvertrauten Herde zurückkehren. Seine Eltern zählten auf ihn. Und er wollte kein kleiner Junge mehr sein. Wenn schon kein hehrer Ritter, so doch wenigstens ein tüchtiger Hirte.

Grimmig ballte er seine Fäuste und stapfte entschlossen in jene Richtung, aus welcher er zuletzt Geräusche der fliehenden Ziege vernommen hatte. Es war noch nicht spät. Wenngleich er die...

Erscheint lt. Verlag 29.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
ISBN-10 3-85820-355-6 / 3858203556
ISBN-13 978-3-85820-355-7 / 9783858203557
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 5,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich