MERKUR 5/2024, Jg.78 (eBook)

Nr. 900, Heft 05, Mai 2024
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
112 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12305-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

MERKUR 5/2024, Jg.78 -
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Das Jubiläumsheft 900 enthält einen mit fast 30 Seiten ungewöhnlich umfangreichen Text: Rainald Goetz' Aufzeichnungen aus seinem Arbeitsjournal des Jahres 2019, in dem es nicht nur, aber sehr viel um Michael Rutschky geht - dessen Tagebücher und auch das Verhältnis zum Merkur-Herausgeber Kurt Scheel, der die undankbare Aufgabe übernahm, die Rutschky-Tagebücher postum zu edieren, in denen sich manch schäbige Bemerkung über ihn findet.   Avner Ofrath ist weit davon entfernt, einseitig Position zu beziehen. Vielmehr geht es ihm darum, Kontexte herzustellen: zur Diskussion um die Frage der 'Siedlergesellschaft', aber auch im historischen Vergleich zum Algerienkrieg. Und auch Jonas Rosenbrück insistiert (gegen Vereinfacher auf allen Seiten): 'Doch, es ist kompliziert: Die Sicherheit jüdischer Menschen auf der ganzen Welt zu gewährleisten, ist kompliziert; ebenso kompliziert sind die Verknüpfungen von Schoah, Judenvertreibungen, Zionismus und Nakba.' In einem Text in den Marginalien zeigt Manfred Sing, wie sehr der Antisemitismus im Islam - wiewohl heute sehr virulent - sich einer Politisierung der Religion, aber nicht deren historischen Traditionen verdankt.   Zwei weitere Essays sind dem 75. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes gewidmet. Und beide, Marcus Payks Verfassung in der Zeit und der von Friedrich Kießling und Christoph Safferling verfasste 1949 und wir, sind keinesfalls nur als Rückblick angelegt, sondern stellen die durchaus akute Frage nach der Bewährung des Grundgesetzes in den Krisen der Gegenwart und noch mehr der Zukunft.   In ihrer Geschichtskolumne analysiert Claudia Gatzka, wie Kritik in der Demokratie mit dem haltlosen 'Diktatur'-Vorwurf die Demokratie selbst aufs Spiel zu setzen droht. Susanne Neuffer lässt in Der Pizzamann eine Frau aus einem Hotelzimmer ins Nachbarhaus blicken, in dem etwas geschieht, das sie sich unter Einsatz ihrer Fantasie zusammenzureimen versucht.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-5-5

Avner Ofrath

Anatomie der Gewalt


Zum Israel /Palästina-Konflikt

Die beispiellose Brutalität, die in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 in Israel /Palästina entfesselt wurde und seither nicht abreißt, erfordert ein neues Vokabular und Verständnis der Wurzeln, der Dynamik und der Motive der Gewalt vor Ort, aber auch der globalen Reaktionen darauf. Noch nie in der einhundertjährigen Geschichte dieses zutiefst asymmetrischen Konflikts wurden Zivilisten auf beiden Seiten so explizit, massenhaft und grausam angegriffen; noch nie klafften in westlichen Universitäten, Medien und Kulturbetrieben Bilder, Vorstellungen und Grundannahmen rund um den Konflikt so schnell, so weit, so unüberwindbar auseinander; noch nie stellten die Folgen des Konflikts eine derart unmittelbare Gefahr für den Frieden ganzer Gemeinden in Europa und Nordamerika dar: Weltweit sind vor allem jüdische, aber auch muslimische Menschen, Gemeinden und Einrichtungen einer Welle des Hasses ausgesetzt.

Trotz heftiger Auseinandersetzungen ist zu entscheidenden Fragen in diesem Konflikt in den letzten Monaten irritierend, ja besorgniserregend wenig gesagt worden. Stattdessen sind Analytisches und Konkretes dem Hyperbolischen gewichen. Ein beispielhafter Moment dieser intellektuellen Landschaft Anfang Dezember: Zwei Wochen nachdem eine Reihe prominenter, teils umstrittener Historikerinnen und Historiker in einem offenen Brief in der New York Review of Books dazu aufgerufen hatte, Vergleiche zwischen dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem Holocaust zu unterlassen, erschien im New Yorker ein Artikel von Masha Gessen, in dem wiederum der belagerte Gazastreifen mit den durch die NS-Besatzung errichteten Ghettos verglichen und behauptet wird, das »Ghetto« von Gaza werde nun »liquidiert«; die Provokation ging auf, eine Preisverleihung in Deutschland wurde abgesagt, dann trat die Katharsis des Eklats ein.1 Bisweilen scheint es, als wäre man in manchen Kreisen bereit, über alles zu diskutieren – nur nicht darüber, was konkret in Israel /Palästina geschieht, über die eigentliche Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Landes.

Fast 30 000 Menschen – mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens – sind bis Ende Februar 2024 der israelischen Kriegsführung zum Opfer gefallen, davon schätzungsweise rund 70 Prozent Frauen und Kinder. Tausende mehr liegen noch unter Trümmern und in Krankenhäusern, in denen sie kaum noch versorgt und behandelt werden können. Hunderttausende könnten in den nächsten Monaten an Krankheiten sterben, nachdem israelische Luftangriffe zivile Infrastrukturen zerstört und einen Großteil des Gazastreifens buchstäblich unbewohnbar gemacht haben.2 Berichte über eine katastrophale Hungersnot häufen sich und lassen den Verdacht auf eine gezielte Strategie des israelischen Militärs entstehen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat zwar nicht angeordnet, dass Israel seine Offensive beenden muss, den Verdacht auf Genozid jedoch auch nicht zurückgewiesen und Israel aufgefordert, zu beweisen, dass es keinen Genozid verübe. In dem Moment, da ich dies schreibe, ist von einer Offensive in Rafah die Rede, wo 1,5 Millionen Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen eine notdürftige Zuflucht suchen. Wie Recherchen der israelischen Tageszeitung Haaretz zeigen, würde die neue, von Israel eingerichtete »sichere Zone« entlang der Küste von Rafah bedeuten, dass sich diese Menschen auf unbestimmte Zeit auf dem Gebiet eines mittelgroßen Flughafens aufhalten müssten.3 Auf israelischer Seite sind die Zahl der zivilen Opfer und das Ausmaß der Zerstörung deutlich kleiner, aber ebenso beispiellos in der Geschichte dieses Konflikts. Etwa tausend Zivilisten wurden durch die Hamas am 7. Oktober massakriert oder nach Gaza verschleppt, Hunderte mehr verletzt und gefoltert. Ganze Ortschaften entlang der israelischen Grenze zum Gazastreifen sind restlos zerstört worden, viele andere – auch im Norden Israels sowie im südlichen Libanon – sind kriegsbedingt evakuiert worden.

Noch nie in der Geschichte des Israel /Palästina-Konflikts wurden Menschenleben so gleichgültig, so rücksichtslos behandelt wie in den letzten Monaten. Dies spiegelt sich auch in einem veränderten Sprachgebrauch. Der israelische Militärjargon hat schon vor Jahren den Begriff »Unbeteiligte« etabliert (statt »Zivilisten«). Wie der IGH in seiner Entscheidung zur Klage Südafrikas gegen Israel festgestellt hat, bedienen sich seit dem 7. Oktober zahlreiche, auch prominente israelische Politikerinnen und Politiker einer Rhetorik des Genozids und behaupten, es gebe keine »Unschuldigen« in Gaza. Vertreter der Hamas beteuern ihrerseits, Angriffe wie den vom 7. Oktober wiederholen zu wollen.4 In vielen arabischsprachigen Medien ist seit Jahrzehnten selten von israelischen »Zivilisten« und meistens von »Siedlern« die Rede, selbst wenn es um Bewohner des international anerkannten israelischen Staatsgebiets geht. Seit dem 7. Oktober hat sich dieser absurd vereinfachte Begriff des »Siedlers« nun auch in Teilen des Westens etabliert und die Vorstellung salon- und universitätsfähig gemacht, alle Israelis – sowie proisraelische Jüdinnen und Juden weltweit – seien legitime Ziele des »Widerstands« der Hamas. »Siedler sind keine Zivilisten«, urteilte etwa die Yale-Professorin Zareena Grewal gleich am 7. Oktober.5 Es ist diese Missachtung, diese Auflösung der Kategorie der Zivilisten, also der Unschuldigen oder Unbeteiligten, im Denken und Handeln aller beteiligten Akteure, die wir verstehen müssen.

Der Historiker Hillel Cohen hat überzeugend argumentiert, dass die Ausschreitungen im Sommer 1929 in zahlreichen Städten Palästinas – damals kraft eines Völkerbundmandats nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg unter britischer Herrschaft – als das »Jahr null« des Konflikts zu betrachten sind. Was in manchen historischen Darstellungen als eine palästinensische Rebellion gegen die Briten beschrieben wird, war in Wahrheit vielmehr ein Ausbruch von Gewalt an Zivilisten, dem ganze Gemeinden zum Opfer fielen. Was als ein Streit zwischen Juden und Muslimen um Gebetsordnungen an der Klagemauer beziehungsweise dem Ḥā'iṭ al-Burāq in Jerusalem begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu Ausschreitungen, die Zivilisten zuerst in Jerusalem und kurz darauf in etlichen anderen Städten betrafen. Insgesamt 133 Menschen der jüdischen Bevölkerung und 166 Menschen der muslimisch-christlich arabischen Bevölkerung kamen dabei ums Leben. Die Gewalt richtete sich nicht ausschließlich gegen neue zionistische Siedlungen, sondern vielfach gegen alteingesessene, nicht- oder sogar antizionistische jüdische Gemeinden in Städten wie Hebron im Süden oder Safed im Norden. Die Gemeinde von Hebron wurde dabei ausgelöscht (die israelischen Siedler im heutigen Hebron – einer der radikalsten Hochburgen der Siedlerbewegung – stammen nicht aus der alteingesessenen Gemeinde). Wie Cohen zeigt, hat die Gewalt von 1929 aus einem politischen Konflikt um zionistische Bestrebungen einen ethnisch-religiösen Konflikt gemacht.6

Damals wie heute ordneten zahlreiche Beobachter die Gewalt von 1929 als eine weitere Etappe in einer langen Geschichte von Verfolgungen und Pogromen ein, als einen Ausbruch jenes Judenhasses, der in den mittelalterlichen deutschen Landen, im späten Zarenreich oder in Palästina immer wieder seinen Ausdruck fand. In diesem Sinne ist die Gewalt von 1929, wie auch der Arabische Aufstand von 1936 bis 1939, in die israelische Geschichtsschreibung eingegangen, bezeichnet mit dem hebräischen Pendant für »Pogrom«: Pera’ot. Hier wird bereits das fehlende Verständnis für die grundlegend verschiedenen Hintergründe der Gewalt in Europa und der im Nahen Osten sichtbar, das sich auch jetzt wieder zeigt. Zweifelsohne lässt sich eine Übernahme von Denkfiguren des europäischen Antisemitismus durch Vertreter der palästinensischen oder panarabischen Bewegung feststellen: Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini, der während des Zweiten Weltkriegs sogar Unterstützung beim NS-Regime suchte, aber auch spätere Gruppierungen – nicht zuletzt die Hamas – haben die in Europa entstandene judenfeindliche Rhetorik und Vorstellungswelt für sich entdeckt (von weitverbreiteter Holocaustleugnung ganz zu...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2024
Reihe/Serie MERKUR
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik
ISBN-10 3-608-12305-9 / 3608123059
ISBN-13 978-3-608-12305-0 / 9783608123050
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