Ex Libris -  Anne Fadiman

Ex Libris (eBook)

Aus dem Leben einer Bibliomanin

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6271-3 (ISBN)
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Anne Fadiman lebt das Leben einer echten Bibliomanin: Zum ersten Mal von Sex erfuhr sie aus Fanny Hill, das sie in der Bibliothek ihres Vaters fand. Ihr Ehemann schenkte ihr eines Geburtstags ganze 10 Kilo staubiger alter Bücher. Und einmal verschlang sie sogar vor lauter Verzweiflung die Gebrauchsanweisung zum 1974er Toyota Corolla ihrer Mitbewohnerin, weil es das einzige Buch in der Wohnung war, das sie noch nicht auswendig kannte.Ex Libris verbindet Anekdoten über bekannte Schriftsteller*innen und Bücher mit persönlichen Geschichten aus Fadimans unheilbar bibliophiler Familie. Sie schreibt über das Vermischen von Bibliotheken beim Zusammenzug mit einem geliebten Menschen, über Bandwurmwörter, ihre familiär vererbte ?Korrektor*innenmentalität? und die Unwiderstehlichkeit von Antiquariaten. Eine herrlich unterhaltsame Liebeserklärung an das Lesen und das Leben mit Büchern in 17 Kapiteln.

Anne Fadiman wurde 1953 in New York als Tochter eines Kritikers und einer Journalistin geboren. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter zwei Essaybände und The Wine Lover's Daughter, ein Memoir über ihren Vater. Sie lebt in West-Massachusetts auf dem Land und unterrichtet an der Yale University.

Wortungeheuer und Bandwurmwörter

Als mein älterer Bruder Kim und ich Kinder waren, erzählte unser Vater uns Geschichten von einem Buchwurm namens Wally. Wally, ein munterer kleiner Wurm mit einer roten Baseballkappe, war kein platonischer Bücherliebhaber, sondern ein Bücherfresser. Die einsilbigen Wörter, auf die er in den meisten Kinderbüchern traf, boten seiner Gefräßigkeit nicht genügend Nahrung, und deshalb verlegte er sich auf Wörterbücher, die ihm reichhaltigere Kost versprachen. In Wally, der Wortwurm, einer Chronik verschiedener lexikographischer Abenteuer unseres Helden, die mein Vater für uns verfaßte, als ich elf war, ließ Wally sich so kalorienreiche Leckerbissen schmecken wie Syzygium, Ptisane – das sich einzuverleiben wahren Ptodesmut erforderte, bis Wally auf die Idee kam, das P wegzulassen – und sesquipedalis, was nicht nur »anderthalb Fuß lang« bedeutet, sondern auch die scherzhafte Bezeichnung für sehr lange Wörter ist. Von Wallys Beispiel angefeuert, wetteiferten Kim und ich jahrelang darum, das längste Wort zu finden. Kim gewann mit Paradimethylaminobenzaldehyd, dem Namen einer übelriechenden Chemikalie, den wir zu der Melodie von »The Irish Washerwoman« zu skandieren pflegten.

Eine der größten Enttäuschungen des Erwachsenwerdens bestand für mich darin, daß es mit zunehmendem Alter zunehmend schwerer wird, einen wallyhaften Grad sesquipedalischer Sättigung zu erlangen. Es gibt einfach nicht genug neue Wörter. Zumindest dachte ich das bis zum letzten Sommer, als mir ein Buch mit dem Titel The Tiger in the House in die Hände fiel, das der Romancier und Jazzkritiker Carl Van Vechten 1920 geschrieben hatte; Van Vechten pflegt einen Stil, den man vielleicht nicht unbedingt bombastisch nennen muß, aber zweifellos als effektvoll bezeichnen kann. Der Gegenstand des Buchs sind Katzen – Katzen in Literatur, Geschichte, Musik, Kunst und so fort. Ich arbeitete gerade selbst an einem Artikel über Katzen und hatte mehrere neuere Bände Katzenliteratur gelesen, die sich nicht sonderlich voneinander unterschieden. Die Verfasser oder Herausgeber dieser Bücher unterstellten ihren Lesern allesamt eines: daß diese sich für Katzen interessierten. Van Vechten hingegen unterstellte, daß seine Leser mit der klassischen Mythologie und mit der Bibel eingehend vertraut waren, daß sie Noten lesen konnten (er hatte einen Teil der Partitur von Domenico Scarlattis Katzenfuge abgedruckt) und daß sie Hunderte Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten kannten, die er nur mit Nachnamen erwähnt, als wären Sacchini und Teniers jedermann mindestens so geläufig wie Bach oder Rembrandt.

Was mich am meisten faszinierte und zugleich am meisten beschämte, war Van Vechtens Wortschatz. Ich konnte mich nicht entsinnen, wann ich zum letztenmal zuvor so viele unbekannte Wörter zu sehen bekommen hatte. Gegen Ende der Lektüre hatte ich zweiundzwanzig Wörter notiert. Ich hatte nicht nur keinerlei Vorstellung von ihrer Bedeutung, sondern auch keine Erinnerung daran, sie je zuvor gesehen zu haben. Sie hätten genausogut Altnorwegisch sein können. Hier die Liste: Monophysit, mephitisch, Câlineries, Diapason, Grimoire, adapertilis, retromingent, Perllan, kupellieren, Adyton, Sepoy, Subhadar, paludisch, apozemisch, Kamorra, ithyphallisch, Alkalde, Aspergill, Agathodaimon, Kakodaimon, goetisch und Opopanax. Diese Wörter verlangten nicht nach einem Wortwurm, sie verlangten nach einer Anakonda des Wortes.

Carl Van Vechten, der heute besser als Leitfigur der Harlem-Renaissance bekannt ist denn als Katzenfreund, schrieb seinen literarischen Salonkorrespondenten Briefe auf Papier mit dem Motto »Ein bißchen zuviel ist mir gerade genug«. Seine Vorliebe für exzentrisches Vokabular (neben der Vorliebe für alles Exzentrische) war so berühmt wie berüchtigt. Dennoch bezweifle ich, daß sein Buch mehrere Auflagen erlebt hätte, wenn obengenannte Wörter seinen ursprünglichen Lesern ähnlich unverständlich gewesen wären wie mir. Ich vermute eher, daß für einen gebildeten Durchschnittsleser der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts diese Liste schwierig, aber nicht unlösbar war. Viele dieser Leser hatten Griechisch und Latein gelernt, was ihnen die etymologische Entzifferung der Hälfte dieser Wörter ermöglichte, und manche Wörter, die in unseren heutigen Ohren knirschende Archaismen sind, hatten damals noch keinen Staub angesetzt. Sepoy und Subhadar dienten der britischen Verwaltung in Indien, der eine als Soldat, der andere als Statthalter. Die Kamorra, die Mafia Neapels, überfiel Touristen am hellichten Tag. Aspergille, nämlich Weihwasserwedel, wurden bei der katholischen Messe freigebig verwendet, und man wusch sich mit Seife, die man aus dem Harz einer Pflanze der Mittelmeerländer gewann, das als Opopanax oder Opoponax bezeichnet wurde.

Wehmütig der untergegangenen Welt gedenkend, die Van Vechtens Wörter heraufbeschworen hatten, probierte ich sie an meiner Familie aus, denn ich wollte feststellen, ob sie anderen einstigen Anhängern Wallys mehr sagten als mir. (Lesern, die es nicht ertragen, sich auf die Folter spannen zu lassen, sei verraten, daß alle Wörter, die nicht im Verlauf des Artikels erklärt werden, am Fuß von Seite 37 ihre Auflösung finden.) Ich begann Geschmack an der Sache zu finden und spielte mit dem Gedanken, meine Freunde dem tödlichen Quiz zu unterziehen, doch mein Lektor, den es keineswegs danach gelüstete, Opfer dieses Spiels zu werden, äußerte die freundliche Warnung: »Übertreib es nicht, Anne. Nicht jeder kann sich für Tests so begeistern wie du.«

Da hatte er nicht unrecht. In meiner Kindheit und Jugend war meine Familie nicht nur steter Quell von Bandwurmwörtern, sondern jegliche Form geistiger Wettkämpfe war uns ein heiliges Sakrament, gewissermaßen eine Art Weihwasser, die es bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit dem größtmöglichen Aspergill zu verteilen galt. Als ich den Film Quiz Show sah, wand ich mich förmlich auf meinem Sitz, weil die literarische Gewächshausmentalität des Van-Doren-Haushalts mir gar so vertraut vorkam. Wie die jungen Van Dorens wurden auch die jungen Fadimans regelmäßig aufgefordert, literarische Zitate zu identifizieren. Während meine Mutter unterwegs zu einem Restaurant den hupenden Verkehrsstau auf einem Freeway in Los Angeles meisterte, murmelte mein Vater: »›Auf einer Ebene im Dunkeln, / Voll des Gewirrs und des Gelärms von Flucht und Kampf‹ – Quelle?« Und Kim und ich quiekten wie aus einem Mund: »Matthew Arnold: ›Dover Beach‹!«

Seinen Höhepunkt erreichte unser Wettkampffieber jeden Sonntagnachmittag, wenn wir uns für unsere wöchentliche Runde des G. E. College Bowl um den Fernsehapparat versammelten. Wie Leser eines bestimmten Alters und einer bestimmten Sinnesart vielleicht noch wissen, handelte es sich dabei um ein Fernsehquiz – ein ehrliches, ungetürktes Quiz –, bei dem zwei Teams von vier Studenten, die jeweils ein College vertraten, um Stipendien wetteiferten. Unsere Familie bildete ebenfalls ein vierköpfiges Team, und wir nannten uns – dazu bekenne ich mich hiermit erstmals in der Öffentlichkeit – Fadiman U[niversity]. Es war ein geheiligter Glaubensgrundsatz in unserem Heim, daß Fadiman U. jede andere U. schlagen konnte, und in der Tat sind wir in den fünf oder sechs Jahren unserer Teilnahme an der Sendung nur Brandeis und Colorado College unterlegen. Mein Vater wußte die Antworten auf alle Fragen zu Geschichte und Literatur. Meine Mutter kannte sich in Politik und Sport aus. Mein Bruder war naturwissenschaftlich beschlagen. Ich wußte kaum etwas, was nicht auch ein anderes Mitglied der Fadiman U. wußte, hatte aber ein schnelleres Reaktionsvermögen als meine Verwandten, und deshalb gelang es mir bisweilen, als erste die Faust auf die Armlehne meines Sessels zu schlagen (unsere häusliche Entsprechung für das Drücken des Knopfes). Fadiman U. rief regelmäßig die Antwort, bevor Robert Earle, der Spielleiter, die Frage überhaupt beendet hatte. »Wing Biddlebaum ist ein glückloser ehemaliger Lehrer. Dr. Percival ist –« Bumm! »Winesburg, Ohio!« – »Man verabreicht ihm zuerst Gift und schießt dann mehrmals –« Bumm! »Rasputin!«

Als jemand, der seine ganze Kindheit über bemüht war, mit der Familie Schritt zu halten, fand ich es ausgesprochen erholsam, die übrigen Mitglieder der Fadiman-Kamorra einem Wortschatztest zu unterziehen, bei dem ich bereits mit Pauken und Trompeten durchgefallen war, und zwar im voraus, bevor die Hände meiner Lieben auch nur in die Nähe der Sesselarmlehne gelangen konnten. Meine Mutter kannte ein Wort, Sepoy. Mein Bruder – typischer Fall von Geschwisterrivalität und sehr demütigend für den Unterlegenen – kannte neun: mephitisch, Monophysit, Diapason, Sepoy, Subhadar, Alkalde, Aspergill, Agathodaimon und Kakodaimon. Mein Vater kannte zwölf: alle Wörter, die Kim kannte (mit Ausnahme von Aspergill), sowie außerdem retromingent, paludisch, Kamorra und Opopanax. Bumm!

Mein Ehemann hält das Fadiman-U.-Ethos zwar für eine nicht ungefährliche Art von Psychose, war aber so liebenswürdig, sich von mir examinieren zu lassen. Er kannte das Wort Diapason. Ich glaube, er war nicht unzufrieden, mir überlegen zu sein. Ich schlug die Warnung meines Lektors in den Wind und machte mich daran, eine Zufallsauswahl...

Erscheint lt. Verlag 25.4.2024
Übersetzer Melanie Walz
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7317-6271-4 / 3731762714
ISBN-13 978-3-7317-6271-3 / 9783731762713
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