Lügen, die wir dem Meer singen -  Sarah Underwood

Lügen, die wir dem Meer singen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
480 Seiten
Panini (Verlag)
978-3-7569-9970-5 (ISBN)
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Im verfluchten Königreich Ithaka müssen in jedem Frühjahr zwölf Jungfrauen gehängt werden - ein makabres Geschenk an den rachsüchtigen Meeresgott Poseidon. Doch als Leto, eine der Delinquentinnen, nach ihrem gewaltsamen Tod am Ufer einer längst vergessenen Insel erwacht, erzählt ihr deren rätselhafte Hüterin Melantho, dass es einen Weg gibt, den furchtbaren Fluch zu brechen. Sie muss dazu den letzten Prinzen von Ithaka töten ... Aber auch Prinz Mathias will sein Königreich endlich von dem Fluch befreien. Hin- und hergerissen von ihrer wachsenden Liebe zu Melantho und Mathias ist es nun an Leto eine Möglichkeit zu finden, ihrem Herzen und ihrer Pflicht zu folgen. Gelingt es ihr, den Fluch zu brechen, werden Tausende unschuldige Leben gerettet. Sollte sie jedoch versagen, werden die Gezeiten des Schicksals sie alle in den Abgrund reißen.

SARAH UNDERWOOD wuchs am Meer in Devon, England auf. Sie studierte Imperial College in London und in Cambridge. Sie hat einen Master in Gesundheitswissenschaften. Ihr Debut-Roman Lügen, die wir dem Meer singen erschien nur einen Tag bevor sie ihre Dissertation einreichte. Abgesehen von Büchern hat sie einen Faible für frische Aprikosen, Brettspiele und ihre in die Jahre gekommenen Hühner.

1

VIEL REIZENDE LIEDER, TATEN DER MENSCHEN UND GÖTTER

Leto

Eine schweigsame Magd flocht Letos Haar für ihre Hinrichtung zu einem kunstvollen Kranz.

Das Knien auf dem rauen Steinboden des kleinen Raums bereitete ihr Schmerzen. Ihre Arme, bleich bis auf die dort bereits erblühenden blauen Flecken, protestierten und stemmten sich gegen das Seil, mit dem ihr die Handgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden waren.

Die Magd zog Letos Kopf zur Seite und drückte eine weitere Haarnadel hinein, sodass das spitze Metall über ihre Kopfhaut kratzte und die dicken Strähnen ihres dunklen Haars straff gezogen wurden. Leto biss die Zähne zusammen und blinzelte heftig. Grimmig mied sie dabei den Blick des muskulösen Mannes, der als Wache vor der einzigen Tür postiert war. Er trug eine vollständige Rüstung, hatte ein Schwert um die Hüften geschnallt, und seine Gesichtszüge waren unter einem silbern glänzenden Helm verborgen.

Stattdessen schaute Leto in das flackernde Licht der Feuerstelle. Der Duft von brennendem Weihrauch hing als erstickender Qualm in der Luft und erfüllte den Raum mit drückender Hitze. Schweiß lief ihr in Rinnsalen den Hals hinab – über die schrecklichen schwarzen Schuppen, die sich dort auf ihrer Haut gebildet hatten und die sie für die Tötung kennzeichneten – und verschwand im Ausschnitt ihres Gewandes. Die sorgfältig arrangierten Locken um ihr Gesicht herum waren bereits feucht und kraus.

Als Opfergabe mache ich nicht viel her. Es war ein von Bitterkeit erfüllter Gedanke. Vielleicht würde Poseidon so angewidert von ihr sein, dass er sie einfach zurückschickte.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie die Magd – den Mund voller Stecknadeln, die Stirn in Falten gelegt – eine Handvoll winziger weißer Blumen aus einem mit Leinen ausgeschlagenen Korb schüttete. Sie untersuchte jede einzelne Blume sorgfältig auf zerdrückte Blütenblätter und begann dann, sie geschickt in die Zöpfe an Letos Stirn zu flechten.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass sich jemand um ihr Haar kümmerte.

Für komplizierte Frisuren gab es ohnehin kaum Anlässe. Letos Mutter war gestorben, als sie zehn Jahre alt war, und da ihr Vater ihr einige Jahre später folgte, hatte Leto keine andere Wahl gehabt, als selbst Geld zu verdienen. Zuerst war es nicht schwer gewesen, Arbeit zu finden – das gemeine Volk Ithakas strömte immer noch zum Haus des letzten königlichen Orakels –, aber sie hatte nicht das Talent ihrer Mutter, und die wenigen, flüchtigen Blicke in die Zukunft, die Apollo ihr gewährt hatte, waren ärgerlich uneindeutig gewesen. Ihre verbliebenen Kunden waren jene, die sich durch ein Schauspiel beeindrucken ließen, durch das theatralische Schlachten eines Kaninchens oder das wilde Augenrollen, das Leto bald perfektioniert hatte. Es waren nicht viele, aber sie zahlten genug Silber, dass sie nicht verhungerte.

Was ihr Haar betraf, so genügte ihr normalerweise ein Band, um die längeren Strähnen aus dem Gesicht zu halten, doch heute könnte dies nicht verhindern, dass ihr Haar sich in der Schlinge des Henkers verfing.

Dieser Zopf, überlegte sie und war kurz überrascht von ihrer eigenen Nüchternheit, wird da viel praktischer sein.

Ein lautes Klopfen an der Tür durchbrach die fast völlige Stille im Raum. Die Magd schreckte zusammen, zog hastig die Hände von Leto zurück und blickte unsicher zur Wache. Der Mann hatte sich keinen Zentimeter bewegt.

»Schnell.« Zum ersten Mal seit Letos Ankunft sprach er. Seine Stimme war leise, rau und seltsam tonlos. »Es ist fast Zeit.«

Die Magd nickte und griff nach einer weiteren Handvoll Blumen.

Die Härchen auf Letos Armen stellten sich auf. Unter dem glatten Stoff des Zeremoniengewandes, in das man sie gesteckt hatte, schlug ihr Herz schneller, flatternd wie ein gefangener Vogel. Etwas Schweres und Unangenehmes legte sich auf ihre Brust, drückte ihr auf die Lungen und ließ ihren Atem stocken.

Eingesperrt in diesem unmöblierten Raum, war es unmöglich gewesen, sich ein gewisses Zeitgefühl zu bewahren. Das Zwitschern der Vögel und die ersten Lichtstrahlen, die durch das winzige Fenster hereinfielen, hatten Leto verraten, dass die Sonne aufgegangen war, aber nichts darüber hinaus. Es hätte immer noch früher Morgen sein können.

Aber jetzt … es ist fast Zeit. Sie wusste genau, wofür es fast Zeit war. Die Opferungen fanden mittags statt, wenn die Sonne der Tagundnachtgleiche ihren höchsten Stand am Himmel erreicht hatte.

Nicht vor dem Sterben hatte sie Angst, denn mit diesem Gedanken hatte sie sich längst abgefunden, sondern vor dem, was danach kam.

In ihren siebzehn Jahren hatte sie wirklich kein bemerkenswertes Leben geführt. Manch einer der abergläubischeren Bürger tuschelte zwar immer noch hinter vorgehaltener Hand über ihre mystischen Kräfte, aber Leto hatte weder je Ungeheuer ausgelöscht oder Verbrecher überführt noch Betrüger entlarvt. Sie war nur zweimal geküsst worden. Das jenseitige Leben, das sie erwartete, würde kein unfreundliches sein, es gab nur wenig, was sie für die Verdammnis empfahl, aber sie würde sich sicherlich nicht in der Gesellschaft mutiger Helden wie Perseus, Herakles oder Odysseus wiederfinden. Und sie würde auch ihre Mutter nicht wiedersehen.

Apollo hatte sich nicht einmal dazu herabgelassen, ihr eine Vision ihres eigenen Todes zu gewähren. In der Nacht, bevor die Wachen gekommen waren, um sie zu holen, hatte sie von einem Mädchen mit goldenem Haar und Augen wie das Meer geträumt.

Ihre Fantasien von Größe waren natürlich eitel und dumm. Trotzdem hatte Leto immer gehofft, so wie es kleine Mädchen tun, die mit offenem Mund den Erzählungen über Heldentaten lauschen, dass sie als außergewöhnlich in Erinnerung bleiben würde. Sie spürte noch immer das Kribbeln der Schuppen an ihrer Kehle, das Mal, das erst vor wenigen Tagen dort erschienen war und das alles schlingernd zum Stillstand gebracht hatte. Die Wahrheit war deutlich zu erkennen. Poseidon hatte sie auserwählt. Es gab kein Entrinnen. Niemand würde sich an sie erinnern.

Einen Moment lang fragte sie sich, welcher ihrer Nachbarn die Schuppen bemerkt und sie an die königliche Garde verkauft hatte. Sie machte dem Betreffenden keinen Vorwurf daraus – ihr Schicksal war bereits besiegelt gewesen, und die Belohnung würde demjenigen zumindest noch ein wenig Silber für Brot einbringen.

Es klopfte erneut, diesmal noch lauter, während die Magd mit Gewalt eine letzte Nadel in ihr Haar drückte.

»Um der Götter willen«, blaffte die Wache. »Bist du endlich fertig?«

»Nur noch eine Sache«, sagte die Magd. Als sie diesmal in den Korb griff, holte sie eine Lederschnur hervor, die grob zu einer Schlaufe geknotet war. Daran baumelte eine kleine Silbermünze. Leto erkannte die Form sofort. Ein Obolus. »Für Charon«, verkündete die Magd feierlich.

Leto hatte damit gerechnet, aber trotzdem krampfte sich ihr beim Anblick der Münze der Magen zusammen. Die Toten wurden der Sitte nach mit Geld begraben; dieser Obolus war der Lohn für den Fährmann, der ihre Seele über den Styx und den Acheron rudern würde. Ihre tote Seele.

Vorsichtig streifte die Magd das Band über Letos Zöpfe. Sie spürte, wie die Münze in ihr Gewand glitt und in der Vertiefung zwischen ihren Brüsten liegenblieb. Sie biss sich auf die Lippen, denn das Metall war kalt, erschreckend kalt, dort, wo es unter dem blassen Stoff lag.

Die Wache lachte höhnisch, als die Magd sich aufrichtete und sich an ihrem Korb mit Nadeln und zerdrückten Blütenblättern zu schaffen machte. »Räum deinen Kram zusammen. Ich werde dich hinausbegleiten.« Vielleicht war er nicht der abergläubische Typ. Er beäugte die Lederschnur mit unverhohlener Verachtung, und als er auf Letos Blick traf, bedachte er sie mit einem hinterhältigen, spöttischen Grinsen.

Leto schauderte. Dabei fiel ihr eine plötzliche Reflexion des Sonnenlichts ins Auge. Eine Reflexion, begriff sie, die von der flachen Seite einer glänzenden Klinge herrührte. Es war ein vor den Blicken der Wache durch den gelben Stoff des Chitons der Magd verborgener Korb mit Nähnadeln und einer großen Bronzeschere.

Letos Puls beschleunigte sich, als sie die Schere betrachtete, und vermochte ihr Glück kaum zu fassen. Wie die Magd den Korb hatte übersehen können, war ihr unbegreiflich. Aber die Klingen sahen neu aus: scharf und glänzend und wie geschaffen dafür, lästige Fesseln zu durchtrennen. Die Götter hatten ihr in allerletzter Minute einen Rettungsanker zugeworfen.

»Dann komm«, brummte die Wache an die Magd gewandt. Leto riss den Kopf wieder hoch. »Bist du endlich fertig?«

Ihre Blicke flogen zwischen den beiden hin und her. Sobald die Magd vortrat – oder sich, was die Götter verhüten mochten, noch einmal umdrehte –, würde entweder sie selbst oder die Wache den vergessenen Korb bemerken. Leto traf eine blitzschnelle Entscheidung.

Sie warf sich auf den Korb und verbarg ihn unter dem Stoff ihrer Röcke. »Verlasst mich nicht!«, schrie sie. »Lasst mich nicht sterben!«

Die Magd, deren riesiges, puppengleiches Gesicht sich vor Schreck zusammenzog, drehte sich zu ihr und zuckte beim Anblick von Leto auf dem Boden zusammen. »Ich …«, hob sie zu sprechen an und streckte die Hand in Letos Richtung aus.

»Bitte!«, kreischte Leto und wälzte sich auf dem Boden hin und her. Wenn die Magd ihr zu nahe kam, würde sie den Korb mitsamt der Schere mit Sicherheit entdecken. Leto zwang wilde Tränen in ihre Augen und bleckte die Zähne wie...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
ISBN-10 3-7569-9970-X / 375699970X
ISBN-13 978-3-7569-9970-5 / 9783756999705
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