Der Zauber des Berges -  Daniela Holsboer

Der Zauber des Berges (eBook)

Die wahre Vorgeschichte von Thomas Manns 'Zauberberg'
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-17269-3 (ISBN)
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Davos - Treffpunkt der Weltwirtschaftselite, Schauplatz des Weltbestsellers »Zauberberg«. Wie aber wurde das Schweizer Bergdorf zum Luxusziel der Reichen, Mächtigen und Schönen? Und wie gelangte Thomas Manns fragiler Held Hans Castorp überhaupt ins schwindelerregende Hochgebirge? Diese wahre Vorgeschichte des »Zauberberg« erzählt vom holländischen Kaufmann Willem Jan Holsboer, der 1867 aus Liebe zu seiner lungenkranken Frau Margaret sein abenteuerlichstes Unternehmen wagt: Er verwandelt das unerschlossene Davos in den mondänsten Kurort Europas, baut die Rhätische Bahn und schließlich das legendäre Sanatorium Schatzalp. Davos wird zur Weltbühne, zum schicksalshaften Ort, an dem es um Leben, Liegen, Atmen und Sterben geht - und die Liebe Berge versetzt.

Daniela Holsboer ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Für ihren Debütroman tauchte sie tief in die eigene Familiengeschichte ein, denn Willem Jan Holsboer ist der Urgroßvater ihres Mannes. Als sie hörte, dass dieser aus Liebe alles riskiert und die Schatzalp aus dem »Zauberberg« erbaut hatte, beschloss sie, seine Geschichte niederzuschreiben.

LONDON 1865.
DIE LIEBE.

Willem sperrte sein Büro früher zu als sonst, um in die Stadtbibliothek zu gehen. Von der Londoner Filiale der Twentschen Bank am Trafalgar Square, die er seit einem Jahr als Direktor leitete, war es nur ein Fußmarsch von wenigen Minuten dorthin und er hätte noch gut zwei Stunden Zeit, um sich in Shakespeares Sommernachtstraum zu vertiefen. Er hatte alles mit Benjamin Blijdenstein, seinem Co-Direktor, besprochen: Der Handel mit Textilwaren lief gut, doch er würde noch viel besser laufen, wenn die Stoffe eine Bühne bekämen. Beim gestrigen Afternoon Tea im Claridge’s waren sie übereingekommen, dass diese Bühne die des Globe sein müsse „Wenn wir es schaffen, dass die Schauspieler Kostüme aus den von uns importierten Stoffen tragen“, sagte Willem, „machen wir das richtig große Geschäft.“ Die Zuschauer würden sich in das Gesehene verlieben und es begehren und die Stoffe würden von der Bühne hinabsteigen und Theater und Wirklichkeit würden sich in den Straßen der Stadt vermischen. Willem sagte, im demnächst aufgeführten Sommernachtstraum müsse die Seide glänzen, nichts verführe die Menschen mehr zum Träumen als eben guter Stoff und das im doppelten Sinne, literarisch wie haptisch. Benjamin nickte und sagte, ja, genau, unbedingt. Er wusste, dass es jetzt nicht nur aussichtslos, sondern auch geschäftsschädigend wäre, seinen Freund zu bremsen, denn er handelte ganz im Sinne der Holsboer-Prämisse, die den Umsatz der Bank im letzten Jahr verdoppelt hatte: Das Ziel war Begeisterung. Die Kunden sollten kaufen, was sie faszinierte. Ein Kauf ohne Begeisterung hingegen sei seelen- und somit sinnlos. Damit aber ein Produkt begeistern konnte, musste es eine Geschichte erzählen und zwar eine verdammt gute. Benjamin hatte noch nie einen Menschen mit vergleichbarem wirtschaftlichem Verstand kennengelernt wie diesen Holländer, der alles anders, aber mit einer ihm bis dahin unbekannten Effizienz machte. Sein Gehirn arbeitete schneller, präziser und, auch wenn dieser Begriff ansonsten nicht zu Willem passte, brutaler als das der anderen Kollegen: Er konnte schonungslos sein, wenn es darum ging, Fehler auszumerzen, Konventionen zu hinterfragen und Pläne umzustürzen. Gleichzeitig war er sensibler und penibler als die gesamte Belegschaft und betonte immer wieder, dass erstens Geld nur Geld war und es daher zweitens, einer leeren Leinwand gleich, mit Schönheit und Sinnhaftigkeit aufgeladen werden musste, um drittens Gutes tun zu können. Willem las Geld so wie andere Bücher. Die letzte Kanne Tee samt dazugehöriger Champagnerflasche leerend, vereinbarten sie, dass sich Willem um diesen theatralischen Deal bemühen werde, gleich morgen würde er in die Bibliothek gehen, um Shakespeares Sommernachtstraum nochmals zu studieren, denn natürlich müssten die Stoffe auf den Stoff abgestimmt werden und um Erfolg zu haben, müsse man einfach immer gut, nein, perfekt vorbereitet sein. Und nun war er hier. Er wollte ein Gefühl dafür entwickeln, welche Figuren welche Textilien tragen könnten, er wollte sich selbst eine Inszenierung ausmalen, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Er betrat das Gebäude, ging in den Lesesaal, spürte die Stille und den Frieden der Lesenden. Gerade als er die Shakespeare-Abteilung gefunden hatte und nach dem Sommernachtstraum griff, sah er sie: Eine junge Frau stand am benachbarten Bücherregal, ein Sonnenstrahl fiel auf ihr rötlich-blondes Haar, das die Farbe von Stroh in Erdbeerfeldern hatte, sie trug ein langes hochgeschlossenes Kleid mit einem dunkelroten Blumenmuster und als sie umblätterte, da öffnete sich leicht ihr Mund und Willem sah, wie sich, für eine Sekunde nur, ein kleiner Speichelfaden zwischen Ober- und Unterlippe zog, ein kleiner Tropfen ihrer Körperflüssigkeit, der ein Zeichen von Spannung, einer ungezügelten Leselust war. Willem konnte auf dem Buchrücken erkennen, dass sie einen Gedichtband von Edgar Allen Poe las. Er bemerkte, wie ihre Augen begierig über die Zeilen flogen und fühlte sich, als würde er am Tag träumen. „Verzeihen Sie“, sagte er im Flüsterton, der einer Bibliothek angemessen war, „darf ich fragen, welches Gedicht Sie lesen?“ Die junge Frau schaute auf. Eine zarte Röte stieg in ihre Wangen und verlieh ihrem sonst blassen, fast gespenstisch weißen Teint mehr Leben. Ihre Augen waren jadegrün, nur um die Iris herum lag ein dünner brauner Kranz. Ihre Lippen waren hellrosa und aufgeworfen, die Wangen pausbackig, sie wirkte so jung, dass Willem kurz zurückschreckte. Doch dann, als sie zu sprechen begann – ebenfalls im Flüsterton – da lag eine Tiefe in ihrer Stimme, dass er meinte, eine alte Seele hätte sich in ihren jugendlichen Körper verirrt. „Geister der Toten“, sagte sie. „Kennen Sie es?“ Als Kind hatte Willem Poes einzigen Roman Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym geliebt. Er hatte es gelesen, wieder und wieder, bis die Seiten zerfleddert waren. Es hatte seine Gedanken verführt und ihn zu einem ganzen Leben inspiriert: Wie der Held, der mit dem Schiff von der amerikanischen Insel Nantucket aus in die weite Welt aufbrach, hatte er selbst Abenteuer auf See erleben wollen und mit 14 sein Zuhause verlassen, um auf einem Schiff anzuheuern. Und natürlich war es nicht bei der Lektüre des Gordon Pym geblieben (sein abgegriffenes Exemplar lag stets in seiner Kajüte an seinem Bett). Zugegeben, er mochte die Gruselgeschichten am liebsten. Doch auch Poes Gedichte liebte er. Also ja, er kannte dieses Gedicht nicht nur, er konnte es aufsagen:

Dein Seel' wird einstens einsam sein

in grauer Grabsgedanken Schrein –

kein Blick der aus der Menge weit

noch stört deine Abgeschiedenheit.

Sei still in jener Öde Weben,

das nicht Alleinsein ist – es sind

die Geister derer, die im Leben

vor dir gestanden, ganz gelind

nun wieder um dich – und ihr Wille

umschattet dich: darum sei stille …

Margaret hörte ihm zu. Dann fragte sie: „Nun sagen Sie, wie haben Sie’s mit Geistern?" Willem hielt inne. Er hatte als Kapitän die Welt bereist, fremde Länder und Kulturen kennengelernt; er hatte Stürme, Packeis, Sternenhimmel und paradiesische Sonnenuntergänge erlebt, hatte sterbenden Menschen die Hand gehalten und Frauen dabei geholfen, Kinder zu gebären, er hatte Bücher und Schriften studiert. Doch je mehr er beobachtete, desto mehr wusste er, dass es zu vieles gab, was er nicht im Innersten verstehen konnte, dass da ein magischer Rest sein musste, den er mit Verstand allein nicht erfassen konnte. Es war Willems Gespür für das Schicksal zu verdanken, dass er ahnte, wie viel von seiner Antwort abhing, daher sagte er: „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht in Formeln packen können.“

„Also glauben Sie daran?“

„Ja.“

„Dann sind wir schon zwei.“ Sie schloss den Gedichtband. „Margaret“, sagte sie und reichte ihm ihre behandschuhte Hand, „Margaret Elizabeth Newell Jones.“ Und in diesem Augenblick inmitten der Bücher, in dem Willem für immer verweilen wollte, weil er so schön war, verliebten sie sich ineinander.

Sie hatten sich, bis auf ein keusches Händchenhalten, noch nie berührt. Nun lagen sie in den Kensington Gardens auf einer Picknickdecke und schauten in den bewölkten Himmel. Dann, als die Sonne aus den Wolken brach und sie blendete, drehten sie einander das Gesicht zu und schlossen die Augen. Sie lagen Stirn an Stirn, Nase an Nase. Ihre Atemzüge wurden inniger und länger und ruhiger. Sie atmete seinen Atem, er ihren. Sie streichelte sein Gesicht und flüsterte: „Ist es nicht erstaunlich, dass die Menschen die Dinge so kompliziert machen? Da ist der Atem und er ist das Tor zur Seele und unsere Seele ist der Weg zu Gott.“ Sie hatte ihn in den letzten Wochen immer wieder erstaunt. Gleich bei ihrem ersten Treffen hatte sie ihm gesagt, sie sei Spiritistin, glaube also nicht nur daran, dass es ein Leben nach dem Tod gäbe, sondern auch, dass die Lebenden mit den Toten auf ihre eigene intuitive Art kommunizieren könnten. „Ich weiß, das klingt verrückt. Allerdings bin ich für die Rolle der Wahnsinnigen auf dem Dachboden nicht gemacht“, lachte sie. Tatsächlich hatte er noch nie eine so intelligente und klarsichtige Frau kennengelernt und diese gespenstische Facette an ihr empfand er nicht nur als akzeptabel, sondern sogar als reizvoll. Ihre eigenwilligen Ideen forderten ihn heraus und bei jedem Treffen, das meist aus Spaziergängen dieser Art am helllichten Tage bestand, verzauberte sie ihn mehr. Selbst bei regnerischem Wetter trug sie feinste Spitze, ihre hochgeschlossenen Krägen waren stets blütenweiß, die Absätze ihrer Stiefel waren niemals abgelaufen und ihr sorgsam hochgestecktes, ganz selten in Locken gelegtes Haar glänzte. Wenn das Licht sich darin verfing und der Wind damit...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-384-17269-8 / 3384172698
ISBN-13 978-3-384-17269-3 / 9783384172693
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