Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts -  Frank Witzel

Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
229 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0975-7 (ISBN)
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Zu den großen Wundern des Literaturbetriebs zählt die grandiose Wiederentdeckung eines übersehenen Genies, einer zu Unrecht Vergessenen, eines verfemten oder verdrängten Künstlers, dessen Werk unter den Augen der Nachgeborenen plötzlich in ganz neuem Licht erscheint und uns Heutigen etwas zu sagen hat. Frank Witzel hat sich auf die Suche nach solchen ins Dunkel der Geschichte gefallenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern begeben und erstaunliche Entdeckungen gemacht. Dabei geht es ihm aber um mehr als um Wiedergutmachung: Die über hundert Entdeckungen, von denen er in diesem faszinierenden, erstmals in der Zeitschrift Schreibheft veröffentlichten und gefeierten und nun für diese Ausgabe aktualisierten und erweiterten Essay berichtet, umfassen auch Werke von Erfolglosen, Besessenen, Gescheiterten und völlig unbekannten Autoren. Wie nebenbei entsteht in diesem ganz persönlichen Kanon eine Poetik des Literaturbetriebs und seiner Ironien, Albernheiten, enttäuschten Hoffnungen und großen Erwartungen, die auch einen Blick in die Abgründe der Schreibstube erlaubt. Dort lauert die Sehnsucht nach dem vollkommenen Text zusammen mit der drohenden Möglichkeit des Scheiterns, das nie endgültig scheint - denn eine posthume Entdeckung und der große Erfolg in Form von Nachruhm scheinen immer möglich. Oder ist auch das nur ein Phantasma des Marktes? Frank Witzels Essay liefert mehr als eine Antwort und entwirft ein Spiegelkabinett des Autors in all seinen Möglichkeiten.

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein DutzendBücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt. Sein 2020 erschienener Roman Inniger Schiffbruch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.  

MARUSYA MARUSYAYA (1957)

Die nicht negierte Negativität negativer Dialektik

1. Orte I

Leere ist nicht geschmolzener Schnee.

Leere ist nicht verwehter Sand.

Leere ist nicht geschorenes Fell.

Leere ist nicht getrunkener Schnaps.

Leere ist nicht getrocknetes Nass.

Leere ist nicht benetztes Trocken.

Leere ist nicht umsponnenes Loch.

Leere ist nicht ausgefranster Faden.

Leere ist nicht verbranntes Heu.

Leere ist nicht ausgegebenes Geld.

2. Bewegungen

Das Reh rannte vorbei. Erst dann schaute ich auf die Lichtung.

Der Lastwagen fuhr vom Hof. Erst dann öffnete ich das Fenster.

Der Mann nahm das Kind bei der Hand. Erst dann drehte ich mich um.

Die Frau am Fenster im dritten Stock schrie. Erst dann schaute ich nach oben.

Die Hausbewohner versammelten sich auf dem Hof. Erst dann verließ ich meine

Wohnung.

Die Hausbewohner stürmten auf die Straße. Erst dann trat ich aus dem Haus.

Die Hausbewohner schrien sich die Lunge aus dem Hals. Erst dann bog ich um die Ecke.

Die Hausbewohner packten den Ersten und schlugen ihn nieder. Erst dann kam ich zum Feld.

Die Hausbewohner packten den Zweiten und schlugen ihn nieder. Erst dann erreichte ich den Bahndamm.

Die Hausbewohner packten den Dritten und schlugen ihn nieder. Erst dann setzte ich mich auf die Stufe.

3. Konsequenzen

Wer keinen Nacken hat, der braucht den Kopf nicht zu heben.

Wer keinen Ellbogen hat, kann die Hand nicht geben.

Wer keine Lunge hat, kann auf die Wunde nicht pusten.

Wer keine Kehle hat, kann weder gurgeln noch husten.

Wer keine Zunge hat, kann weder A sagen noch B.

Wer keine Augen hat, der versinkt tief im Schnee.

Wer kein Herz hat, der verliert nie den Mut.

Wer keinen Magen hat, der produziert keine Wut.

Wer keinen Darm hat, der braucht nichts zu essen.

Wer keine Größe hat, der muss sich nicht messen.

4. Beziehungen

Ich wählte dich.

Du bist nun gewählt und zeigst dich stolz auf dem Balkon.

Ich juble dir zu, mein Gewählter.

Du grüßt in die Menge und siehst mich nicht.

Ich juble lauter, feure damit aber nur die Menge an, die ebenfalls lauter jubelt.

Du nickst und grüßt weiter über die Menge hinweg.

Ich war es, die dich wählte, schreie ich.

Du lächelst in das Nichts.

Ich wählte dich, nun wähle mich.

Du hebst beide Arme in die Luft, schüttelst sie, als wolltest du an etwas rütteln,

drehst dich um und verschwindest im von nun an streng bewachten Haus.

5. Feststellungen

Männer sind alle gleich.

Reiche sind alle reich.

Hirne sind alle weich.

Frauen sind immer nah. Kinder sind immer da.

Wahrheit ist immer wahr.

In der Nacht wird immer gefleht.

Der Morgen kommt immer zu spät.

Am Mittag wird schon wieder gesät.

Man hofft, daß der Tag unauffällig vergeht.

6. Aussichten I

Der Staat wird sich schon zu helfen wissen.

Er wird einen weiteren Stock auf den Palast setzen, womöglich sogar noch einen.

Er wird ein weiteres Dutzend Minister ernennen.

Er wird einen weißen Tiger aus dem Ausland importieren.

Er wird neue Geldscheine entwerfen und drucken und verteilen.

Er wird den Lauf der Moskwa umkehren.

Er wird Kissel und Plombir verbessern.

Er wird den Waisen Vater sein und Mutter.

Er wird Taschentücher verteilen, um alle Tränen zu trocknen.

Er wird uns schon zu helfen wissen.

7. Aussichten II

Es wird Suppen in Tüten geben, bereits heiß.

Es wird Briefmarken geben, die kleben.

Es wird ein Leben nach dem Leben geben.

Und kein Tod vor dem Tod.

Und kein Schwarz vor dem Rot.

Und keine Not in der Not.

Und keinen Ton.

Und keinen Laut.

Nur ein Knall manchmal, jedoch selten.

Von irgendwoher.

8. Orte II

Leere findet sich nicht im Riss.

Leere findet sich nicht im Schlitz.

Leere findet sich nicht in der Spalte.

Leere findet sich nicht in der Öffnung.

Leere findet sich nicht in der Lücke.

Leere findet sich nicht im Leck.

Leere findet sich nicht in der Mulde.

Leere findet sich nicht in der Kerbe.

Leere findet sich nicht in der Kuhle.

Leere findet sich nicht in der Ritze.

ANASTASIA KOMSOMOLYA (1963)

Die Winternächte mit überfrorenen Fensterscheiben, in denen ich mit unbeschrifteten Tablettenröhrchen in den Taschen auf unbequemen Stühlen saß und zusah, wie Menschen, die ich nur flüchtig kannte, immer wieder ihre Hände auf ein Blatt drückten und die Konturen abzeichneten und mit groben Strichen die Spanne zwischen Daumen und kleinem Finger markierten, lagen noch vor mir.

Im Grunde ist die Herausforderung des Teufels an Gott, einen so schweren Felsen zu erschaffen, daß er selbst ihn nicht mehr zu heben vermag, allein eine Erfindung des noch philosophisch ungeschult denkenden scholastischen Hirns. Natürlich besteht das Problem der Allmacht in nichts anderem, als widersprüchliche Kräfte in sich vereinigen zu können. Und geht dahin nicht unser Streben: etwas zu erschaffen, das größer ist als wir selbst, das wir nicht mehr bewältigen können, das in der Lage ist, uns zu vernichten?

Begegnen wir unserem Gefühl der Allmacht nicht im Erschaffen des eigenen Todes?

Ist dieser Felsen, dessen Erschaffung der Teufel Gott als Aufgabe gibt, nicht in Wirklichkeit der Mensch in seinem Versuch, sich von Gott abzulösen, indem er ihn auf die Widersprüche der eigenen Göttlichkeit hinweist?

Das Gottesbild des Menschen schafft Gott und schafft ihn in diesem Schaffen wieder ab. Gerade die Zuschreibung einer Allmacht verurteilt Gott zur Ohnmacht.

Es scheint ein verstecktes Prinzip zu existieren, das in allem Geschaffenen, jedem Kunstwerk, jeglicher Theorie, gleichzeitig die eigene Vernichtung miteinschreibt. Vielleicht liegt die Kraft der Ideen darin, die eigene Vernichtung schon immer als Kern in sich zu tragen.

So sagt die Idee, wenn ich sie auflöse, als letztes: »Habe ich dir diese Möglichkeit nicht schon von Anfang an gewiesen?«

Das Konzept der Allmacht bildet ein unentrinnbares System, weniger für den, der es ersinnt, als vielmehr für die, denen es verkündet wird.

Ich erklärte meine Theorie, immer um eine praktische Umsetzung bemüht, zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Männern, die vorgaben, sich für meine Gedanken zu interessieren, deren Umsetzung jedoch durch Bereitstellung neuerlicher Ablenkungen verhinderten.

Daß das englische to put, so wie wir es in der Schule lernten, setzen, stellen, legen heißt, ist natürlich demagogischer Unsinn. Es heißt nichts von all den dreien. Gerade weil es für alle drei stehen kann, muß es sich um ein völlig anderes Denksystem handeln, ein System, das die tatsächliche Stellung oder Lage verschweigt. Deshalb auch der Ausdruck: to stay put.

In Kulturen, in denen man auf Stühlen sitzt, ist jegliches Tun Arbeit, selbst das Nichtstun. Immer muß ich zuvor etwas herbeischaffen, mich zu etwas hinbewegen, als könnte immer nur ein Gegenstand mein Sein garantieren.

Ein Bett, um zu schlafen, ein Stuhl, um zu sitzen, ein Kamm, um mich zu kämmen, Seife, um mich zu waschen, wo überlasse ich mich noch dem Sein, der nicht durch Werkzeuge vermittelten und angeeigneten Welt?

Wer stehen muß, der ist bestellt.

Über Lagen diskutiert man. Man »versetzt« sich in Lagen, ist das kein Widerspruch?

Der schwarze Wind der Krypten fegt über das Gitterrost und fällt durch bebende Fenster auf verstümmelte Parkanlagen. Einmal dasselbe wie ich trinkst du im Café am verschobenen Tisch zwischen Tür und Gang. Der karierte Rock fällt mir zwischen die offenen Beine, du lachst und führst meine Hand. Mein Museum der Angst, das ausgebeinte Schaf hinter scharfgestellter Elektrozaunanlage, der zottelige Hund vor schwarzer Vitrinenmadonna.

Im Laufe der Jahre bin ich in Antiquariaten, auf Flohmärkten und bei Haushaltsauflösungen immer wieder auf durchaus interessante Dokumente, Aufzeichnungen und Tagebücher gestoßen, darunter die Handschriftenanalyse von Briefen eines Mannes, zusammen mit dem Bericht eines Privatdetektivs, der diesen Mann über gut drei Wochen beobachtete, beides von einer wohl unsicheren Partnerin in Auftrag gegeben, die Aufzeichnungen einer Tochter über die letzten Wochen ihres Vaters und akribische Tagesprotokolle über Mahlzeiten und Besamung, die ich erst nach einer Weile als Notizen eines Falkners entschlüsseln konnte. Den einzigen wirklich literarischen Fund machte ich im Jahr 2007 in einem Antiquariat in Birmingham: ein dicker DIN-A4-Umschlag mit einem beinahe zweihundert Seiten starken, auf Schreibmaschine getippten Manuskript, den ich für zwei Pfund bekam, ohne dass der Antiquar noch einen Blick hineingeworfen...

Erscheint lt. Verlag 28.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7518-0975-9 / 3751809759
ISBN-13 978-3-7518-0975-7 / 9783751809757
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