Das kann immer noch in Wien passieren -

Das kann immer noch in Wien passieren (eBook)

Alltagsgeschichten

Ruth Wodak (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
250 Seiten
Czernin Verlag
978-3-7076-0833-5 (ISBN)
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Antisemitische Beleidigungen auf offener Straße, Diskriminierung im Beruf oder der Kampf um staatliche Wiedergutmachung: Die »Alltagsgeschichten « sammeln Eindru?cke, Erlebnisse und Geschichten, die viele Ju?d:innen aus drei Generationen erlebt haben und klarmachen: Das kann immer noch in Wien passieren. Diese Geschichten sollen nicht »anklagen«. Sie sind voll Humor, aber auch von Trauer und Wut erfu?llt, sie ironisieren und verfremden. Sie finden in Wien statt, wo sich Kosmopolitisches mit Provinziellem vermischt; wo sich viele so wohlfu?hlen und trotzdem immer vom Auswandern sprechen; wohin viele zuru?ckgekehrt sind, nachdem sie vertrieben worden waren; wo dem Antisemiten Karl Lueger ein großer Platz mit Statue am Ring gewidmet ist, an Sigmund Freud aber nur ein kleiner Park erinnert. Der alltägliche Antisemitismus besitzt auch in Wien eine so lange Tradition, dass er oft gar nicht mehr auffällt. Und genau deshalb soll dieser Band seine Leser:innen zum Nachdenken anregen. Mit Beiträgen von: Robert Schindel, Doron Rabinovici, Anna Goldenberg, Ernst Strouhal, Verena Krausneker, Oscar Bronner, Sophie Lillie, Ariel Muzicant u. v. m.

Ruth Wodak ist Emerita Distinguished Professor of Discourse Studies, Lancaster Univ., und o. Univ.-Prof. i. R. an der Univ. Wien. 1996 Wittgenstein-Preis fu?r Eliteforscher:innen. Ehrendoktorate von der Univ. Örebro 2010, von der Warwick Univ. 2020. Sie ist Mitglied der British Academy of Social Sciences und der Academia Europaea. 2020 Ehrensenatorin der Universität Wien. Rezente Buchveröffentlichung: »Die Politik der Angst. Die schamlose Normalisierung rechtspopulistischer Diskurse« (2021).

PETER WEINBERGER

HILFE! ICH BIN ZEITZEUGE GEWORDEN!


Ab wann und warum ist man Zeitzeuge? Ab dem achtzigsten Lebensjahr? Weil man gerade noch zu den Holocaustopfern1 gezählt wird? Weil man glaubt, (politisch aktiv) Teil der österreichischen Nachkriegsgeschichte gewesen zu sein? Alle, eben gestellten Fragen kann ich für mich mit einem eindeutigen Ja beantworten. Ob ich schon einmal ein »traditioneller« Zeitzeuge gewesen bin? Auch das kann ich mit einem Ja beantworten: vor Kindern in der deutschen Schule2 in White Plains, im Staate New York.

Vorgestern und gestern


Allerdings ganz so einfach ist es nicht, diese Fragen zu beantworten, denn eine Gegenwart existiert im Prinzip nicht, sie ist ein singulärer, sich kontinuierlich auf der Zeitachse verschiebender Punkt. Wir befinden uns stets in der Vergangenheit und können bloß Wünsche oder Absichten an die Zukunft richten. Welche Vergangenheit soll demnach bezeugt werden? Stefan Zweigs »Die Welt von gestern« beschreibt eigentlich »die Welt von vorgestern«, die »Welt von gestern« zu vermitteln liegt an »uns«, an den zu Zeitzeugen Gewordenen. Und schon erhebt sich die nächste Frage, nämlich, wie kann aus »unserer Welt von gestern« berichtet werden?

Am einfachsten geschieht dies »akustisch«, mit Worten. Das entspricht dem bisherigen Bild von Zeitzeugen, nämlich von genügend alten Personen, die Schülern gegenübersitzen und von Ungeheuerlichkeiten während der nationalsozialistischen oder (nur?) austrofaschistischen Zeit berichten. Sie allerdings – wie schon angedeutet – wird es bald nicht mehr geben.

Bilder und das Transportieren von Bildern


Als ich den etwa Zwölfjährigen in der deutschen Schule erzählte, dass es in der Wohnung meiner Eltern im Gegensatz zu anderen Familien keine Fotos oder Bilder von Verwandten an den Wänden gab, dass diese Wände bedrückend leer waren, hat sie das vermutlich tiefer beeindruckt als der eigentliche Grund, nämlich, dass die allermeisten meiner Verwandten in Vernichtungslagern der Nazis ermordet worden sind. Einige Schüler haben sogar in den darauffolgenden Tagen Zeichnungen von leeren Wohnungswänden angefertigt. Das Beispiel zeigt, dass die bildliche Ebene – und sei’s nur fiktiv in Form einer leeren Wand – bestens geeignet ist, »unsere Welt von gestern« aufleben zu lassen.

Dies führt mich zum Porträt von Elisabeth Neumann-Viertel1 aus dem Jahr 1987, angefertigt von Edith Kramer.2 Womit drei berühmte Namen gefallen sind: Elisabeth Neumann-Viertel war eine international bekannte Schauspielerin, ihr Mann, Berthold Viertel,1 ein sehr geachteter Literat, und Edith Kramer, eine hervorragende Malerin, eine Schülerin von Friedl Dicker-Brandeis. Edith malte stets im kräftigen Stil des »social realism« und war die Begründerin der Kunsttherapie in der Kinderpsychiatrie. Es ist nicht das unmittelbare Porträt von Neumann-Viertel, die mit einem Hut hinter einem Frühstücks- oder Jausentisch sitzt, das betroffen macht, es ist die grün-weiß gestreifte Gmundner Keramik auf dem Tisch und das Stück Gugelhupf auf einem Teller. Das Bild vermittelt die Sehnsucht von Emigranten nach eigentlich Nebensächlichkeiten in ihrem »Gestern«. Es ist ein Stück Geschirr, das Geschichten erzählt, das Erinnerungen an das »Gestern« aufrecht erhält. So gesehen, ist auch das Bild von Edith Kramer ein »Zeitzeuge« sogar in unserer Welt von gestern.

Nicht immer geben Bilder ein adäquates Zeitzeugnis ab. Das Staatsvertragsbild2 »Die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags im Oberen Belvedere 1955« von Robert Fuchs ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Nicht nur enthält es »Fakes«, es ist auch im Geiste der nationalsozialistischen Ästhetik konzipiert, was nicht weiter verwundert, da Fuchs bereits ab 1933 der (illegalen) NSDAP angehörte und der Auftraggeber, der damalige Bundeskanzler Julius Raab, ein prominenter Vertreter des Austrofaschismus gewesen ist.

Die Germanistin Barbara Zeisl,3 Tochter des Komponisten Erich Zeisl und Schwiegertochter von Arnold Schönberg, erzählte mir vor etlichen Jahren, dass sie einmal als junges Mädchen mit ihrem Vater einen Ausflug in den Griffith Park,1 Los Angeles, unternommen habe. Sie sei stehen geblieben und habe gemeint: »Schau, Papa, wie schön es hier ist.« Worauf er erwiderte: »Das ist nichts gegen den Wienerwald.« Erich Zeisl hat ein virtuelles Bild vom Wienerwald ein halbes Leben mit sich herumgeschleppt, es war sein Zeitzeuge aus seiner Welt von gestern. Übrigens, zurück nach Wien, in seinen Wienerwald, hat er es nicht geschafft.

Überschneidende Welten von gestern


Der Zugang zu »unserer Welt von gestern« geschah oft reichlich spät, denn die Generation unserer Eltern hat sehr lange beharrlich über ihre Vergangenheit geschwiegen. Erst die mir 1997 zugeschickten Briefe meiner Mutter und die bis zu seinem Tod (2007) von meinem Vater unter Verschluss gehaltenen – zum Teil solche von meinen in Nazi-Lagern verschwundenen direkten Verwandten – machten mich zum Zeitzeugen. Eigentlich zu einem doppelten Zeitzeugen, denn ich versuchte, meine Welt von gestern, die eines Kindes und später Jugendlichen in einem Wiener Außenbezirk, jener vorgefundenen Realität gegenüberzustellen.2 Es war eine Welt auf zwei Ebenen, die mit einem Schock endete, denn plötzlich wurde mir bewusst, dass ich der einzige Überlebende in Wien einer ehemals großen jüdischen Familie war und eigentlich erst herauszufinden hatte, was dies für mich bedeutete.

Und da war noch etwas, das es zu bezeugen galt, die unendlich provinzielle Langweile, die in Österreich jahrzehntelang vorherrschte,3 eine Vergangenheit, in der noch immer »Christlich-Soziale« und ehemalige Nazis die Universitäten, die Bildung schlechthin und die Justiz beherrschten; in der es genügte zu behaupten, »man hätte nur seine Pflicht erfüllt«, um der Vergangenheit zu entkommen. Abhandengekommen ist für Jahrzehnte bloß die Intellektualität gewesen. Es war mühsam, dieser Provinzialität zu entkommen.

Es ist insbesondere die Überschneidung von Generationszeiten, die sehr oft für Überraschungen sorgt. Als 2018 das Elternhaus meiner Frau Kitty, eine Josef-Frank-Villa in Niederösterreich, an sie fiel, war klar, dass dieses Haus vollgefüllt mit »Geschichte« sein muss. Bloß nach den Voreigentümern zu forschen, entpuppte sich als eine umfassende Studie eines der größten Arisierungsfälle in Österreich.1 Die Unverschämtheiten der Arisierung an sich konkurrierten fast auf gleichem Niveau mit der Unwilligkeit zur Restitution in den sogenannten Nachkriegsjahren.

Verbunden mit dem Haus war aber auch die Geschichte einer Familie mit insgesamt sieben Kindern:2 sechs Schwestern und ein Bruder. Eine der Schwestern war Kittys Mutter, deren überlebende Schwestern so ziemlich alle Dokumente, betreffend die Zeiten vor, während und nach der Emigration, aufgehoben haben, sowie alle Briefe untereinander. Beim Durchblättern dieser Dokumente und Briefe konnte man plötzlich die Angst ums Überleben selbst verspüren, Angst, weil sich Fluchtwege noch immer nicht ergeben haben, und Niedergeschlagenheit, aus dem gewohnten Leben ausgeschlossen zu sein. Bilder aus dieser Sammlung bedürfen keiner »erklärenden« Worte, sie sprechen für sich selbst. Warum diese Bilder auch zu meiner Welt von gestern gehören? Weil ich sie alle sehr gut gekannt habe und die jämmerliche Situation nicht vergessen kann, in die einige von ihnen die Emigration gebracht hatte.

Musik


Als Hans Krásas Kinderoper »Brundibar« am 5. Mai 2014 im Rahmen der Befreiungsfeier des KZ Mauthausen im österreichischen Parlament aufgeführt wurde,1 sah man zwar mitunter auch gelangweilte Gesichter unter den Abgeordneten, aber es war offensichtlich, wie sehr Musik als Zeitzeuge dienen kann. Tausende Musiker und Dutzende Komponisten hatten das Land fluchtartig zu verlassen, etliche von ihnen wurden in KZs ermordet. Von Chansons, über Operette bis zur (modernen) klassischen Musik, sozusagen von Hermann Leopoldi bis Hanns Eisler, das gesamte Spektrum der Musik war davon betroffen. Nicht nur Bilder können für sich sprechen, sondern auch Aufführungen »Vertriebener Musik«. Die kreative Leere der Nachkriegszeiten in der Musik beschreibt übrigens Kurt Schwertsik in seiner Autobiografie2. Sie lässt sich unter »Richard Strauss, ja, Gustav Mahler, nein« am besten charakterisieren. Der Untertitel dieser Autobiografie »Erzählung der Lernzeit« impliziert geradezu, Zeugnis der eigenen Vergangenheit zu sein.

Bei einem Hermann-Leopoldi-Abend vor einigen Jahren im Österreichischen Kulturinstitut in New York, stellte sich heraus, dass alle anwesenden...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7076-0833-6 / 3707608336
ISBN-13 978-3-7076-0833-5 / 9783707608335
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