Vor allem Frauen (eBook)

Über Virginia Woolf, Sylvia Plath, Joan Didion u. a.
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2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61491-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vor allem Frauen -  Connie Palmen
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Schon ihr ganzes Leben ist Connie Palmen fasziniert von weiblichem Künstlertum. Von schöpferischen Frauen wie Virginia Woolf, Sylvia Plath, Olivia Laing oder Joan Didion, die sich, jede auf ihre Art, von den Normen und Konventionen ihrer Zeit emanzipiert haben. In ihren Essays bewundert Palmen die Schaffenskraft, Autonomie und Einzigartigkeit ihrer intellektuellen Gefährtinnen - und eines Gefährten - und erkundet darüber hinaus ihr eigenes Leben als Schriftstellerin.

Connie Palmen, geboren 1955, studierte Philosophie und Niederländische Literatur und lebt in Amsterdam. Ihr erster Roman ?Die Gesetze? erschien 1991 und wurde gleich ein internationaler Bestseller. Sie erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen, z. B. den renommierten AKO-Literaturpreis für den Roman ?Die Freundschaft? und den Libris-Literaturpreis 2016 für ?Du sagst es?.

Wahrhaftig

Am 26. Juni 1953 nimmt Sylvia Plath den Fahrstuhl zur Dachterrasse des Barbizon Hotel an der Ecke Lexington Avenue und 63rd Street. Sie ist zwanzig. Es ist der letzte Tag ihres Aufenthalts in New York, wo sie einen Monat lang Gastredakteurin bei dem Frauenmagazin Mademoiselle sein durfte, ein prestigeträchtiges Praktikum für Studentinnen. Unter ihrem Arm klemmen ein Kleiderbündel, Unterröcke, Korsetts, Strumpfhosen. Oben auf dem Dach des dreiundzwanzigstöckigen Gebäudes, mit Blick auf das nächtliche Manhattan, übergibt sie ihre Kleider Stück für Stück dem Wind. Achtzehn Tage nach diesem Vorfall, zurück im Elternhaus in Wellesley, Massachusetts, entdeckt ihre Mutter Aurelia blutende Schnittwunden an den Beinen ihrer Tochter. Als sie sie bestürzt danach fragt, sagt diese, sie habe nur ausprobieren wollen, ob sie genug Mumm habe. Sie wolle sterben. »Lass uns zusammen sterben!«, ruft sie und weint. Die alarmierte Mutter holt sofort professionelle Hilfe. Plath wird aufgrund einer schweren Depression behandelt, mehrmals wird eine Elektroschocktherapie angewandt – für sie eine traumatische Erfahrung –, und als nichts hilft, unternimmt sie einen ernsthaften Suizidversuch, den sie zu ihrem Entsetzen überlebt. Als sie danach für eine längere Zeit in die Psychiatrie aufgenommen wird, sind zwei Monate vergangen, seit sie ihre Kleider weggeworfen hat.

 

Ein paar Tage bevor sie auf das Dach des Barbizon kletterte, schrieb sie in einem Brief an ihren Bruder, wie viel Kraft sie die Zeit in New York gekostet habe. Sie sei völlig erschöpft von der Stadt, den Lunches, Cocktailpartys, Feiern und Heuchlern, den falschen Frauen, den aalglatten Werbetypen, der Scheinfreundlichkeit. Sie fühle sich schmutzig, schmierig, besudelt, sie wolle gebleicht werden.

 

Besudelt fühlt man sich, wenn man zu viel Falschheit in seinem Leben zugelassen, wenn man zu oft bei dem mitgemacht hat, was man eigentlich verachtet, wenn man anbiedernd und glattzüngig gegenüber Bekannten war, die man eigentlich für dumme Einfaltspinsel hält, wenn man sich den lieben langen Tag von talentfreien Strohköpfen herumkommandieren lassen musste, Kritik runterschluckte, Abneigungen leugnete, Verachtung verbarg, Wut unterdrückte und sich selbst diese ganze mentale Gewalt antat, um Großmäulern und Dumpfbacken zu gefallen. Leuten gefallen zu wollen, die man nicht ansatzweise bewundert oder achtet, vergiftet einen.

Das Wegwerfen von Kleidern ist ein symbolischer Suizid, es ist die Vernichtung des folgsamen, passiven Mitläufers in einem selbst, des schweigenden Kollaborateurs, der sich bereitwillig den Vorschriften einer verhassten Rolle fügt. Nichts von dem, was sich die junge Sylvia Plath vorgestellt hatte, als sie das Elternhaus verließ, um sich in dieses Abenteuer bei einem Magazin zu stürzen – dass sie Geschichten schreiben, investigativen Journalismus betreiben, am laufenden Band berühmten Autoren und Dichtern wie Dylan Thomas in der Redaktion begegnen könnte –, war eingetroffen. Stattdessen war das Praktikum eine enttäuschende, tagtägliche Maskerade. Sie verriet sich selbst, weil sie ihren Kern – die Schriftstellerin – verleugnete, indem sie ihn jeden Morgen in ein Korsett schnürte, ihm Seidenstrümpfe anzog einen Hut aufsetzte, Lippenstift auf‌trug, und ihm den Mund verbot und das dann auch noch den ganzen Tag lang behandschuht abstritt. Ein Frauenmagazin wie Mademoiselle verkaufte in den Fünfzigerjahren den Inbegriff einer Frau, und dieses Ideal erstickte die kreative und talentierte Plath, weil sie ihm perfekt entsprechen konnte, aber das aus tiefstem Herzen nicht wollte.

 

Jeder mit ein bisschen psychologischem Grundverständnis weiß, dass drastische äußerliche Veränderungen alarmierend sind. Ein kahlgeschorener Kopf, plötzlich grünes, gelbes oder ungepflegtes Haar, zu auf‌fällige oder vernachlässigte Kleidung – all das hat eine Signalfunktion. Einschneidende, sichtbare Transformationen sind Ausdruck einer Unzufriedenheit mit der eigenen Identität, sie zeugen von dem gefährlichen Verlangen, verabscheute Eigenschaften auszuradieren und so eine wahrhaftige Seite der Persönlichkeit zu entdecken und zu offenbaren. Es ist auch möglich, dass äußerliche Veränderungen eine noch selbstzerstörerischere Botschaft besitzen, dass die Transformation der verzweifelte Hilfeschrei einer Person ist, die sich selbst und ihr ganzes Leben satthat. Was auch immer Plath wegwerfen wollte – ein erdrückendes Ideal oder ein verachtenswertes Selbst –, sie wird sich oben auf dem Dach des Barbizon die Hoffnung gemacht haben, dem Wind zusammen mit der Kleidung auch ihre Angst, Unsicherheit und Einsamkeit überlassen zu können.

 

Literatur, insbesondere der Roman, bietet Schriftstellern die Möglichkeit einer anderen Transformation, die der künstlerischen Verwandlung autobiografischer Fakten in Fiktion. Verhasste Mütter werden ermordet, diktatorische Väter entthront, heimlich verachtete Freundinnen treten als einfältige Mondkälber auf, plumpe Verehrer als impotente Witzfiguren, das echte Leben wird zum Unterhaltungsstoff. Sylvia Plath machte aus dem Wegwerfen der Kleider eine entscheidende Szene in ihrem Roman Die Glasglocke, der im Januar 1963, einen Monat bevor sie Suizid begehen sollte, in England erschien. Aus Angst vor den Reaktionen aus der echten Welt – von der angeklagten Mutter, den verspotteten Freundinnen, den lächerlich gemachten Liebhabern – verschleierte sie ihre Autorinnenschaft und veröffentlichte das Buch unter dem Pseudonym Victoria Lucas.

Die Glasglocke ist ein weibliches Pendant zu dem von Plath bewunderten Künstlerroman Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce und des Coming-of-Age-Romans Der Fänger im Roggen von J.D. Salinger. Genau wie der junge Künstler Stephen Dedalus bringt sie mit der Befreiung aus der gesellschaftlichen Zwangsjacke ihr non serviam zum Ausdruck, die Weigerung, sich der untertänigen Rolle zu fügen. Und genau wie Salingers pubertierender Holden Caulf‌ield verachtet sie die phoniness, die oberflächliche Affektiertheit einer Gesellschaft, die daran schuld ist, dass ihre Figur Esther Greenwood sich von sich selbst entfremdet.

 

Es ist paradox, dass gerade wir, die Schöpfer von Fiktion und Schein, damit ausgerüstet sind, was Ernest Hemingway den »Bullshit Detektor« nannte: ein fein justierter Sensor für Falschheit und Täuschung, für dreist vorgetragenen Quatsch, für Sentimentalitäten, vorgetäuschte Empathie, für Scheinheilige, die an ihre eigene Sanftmütigkeit glauben, für Quacksalber und Pfuscher, Blender und Hochstapler. Aber genau so ist es, ein guter Schriftsteller hat eine Aversion gegen Überheblichkeit und Unaufrichtigkeit. Gegen richtige Unaufrichtigkeit, muss ich dazusagen, denn der vorsätzliche, sorgfältig konstruierte Betrug, mit dem gespielt und betört wird – die schöpferische Kraft, das enthüllende Als-ob –, ist unsere Festung.

Doch ein Schriftsteller ist wahrhaftig, oder er ist nichts.

Und Sylvia Plath hat ihr ganzes Leben lang danach gestrebt.

Dieses kurze Frauenleben macht vor allem eines deutlich: Ihr Selbstbild wurde von Kindesbeinen an von der Idee untergraben, falsch und unaufrichtig zu sein, sie fürchtete immerzu den Tag, an dem sie als Betrügerin und Hochstaplerin entlarvt werden würde. In der Psychologie ist diese Angst auch als Impostor-Syndrom bekannt, es beschreibt die tiefe Überzeugung einer Person, andere ständig hinters Licht zu führen, vorzugeben, intelligent, nett, liebevoll, talentiert und kompetent zu sein, obwohl man in Wirklichkeit eine leere Hülle ist, jemand, der in nichts brilliert außer im Aufrechterhalten einer Fassade, mit der man der Welt weismacht, gut und begabt zu sein.

 

Über keinen anderen Schriftsteller wurden so viele Biografien veröffentlicht wie über Sylvia Plath. Zu dem Zeitpunkt, als sich die amerikanische Essayistin Janet Malcolm in den 1990er-Jahren dazu entschloss, die Hauptpersonen genauer unter die Lupe zu nehmen, die wie Wölfe um die Nachlassenschaft von Sylvia Plath herumschlichen – entweder, um ihre Lebensgeschichte zu beschützen oder um sich darauf zu stürzen –, waren nach ihrem Suizid bereits fünf große Biografien erschienen.

In Die schweigende Frau beschreibt Malcolm die Machtlosigkeit von Ted Hughes – der Mann von Sylvia Plath und der Vater ihrer Kinder – bei dem Versuch, die gemeinsame Geschichte vor den fremden Eindringlingen, investigativen Journalisten, die sich die wilde Geschichte ihrer Ehe aneignen wollten, zu beschützen. Als Hughes in einem Brief an eine Zeitung auf eine Reihe offenkundiger Lügen in einem Artikel über seine Frau und ihn selbst hinweist und darin die naive Annahme äußert, wir alle seien doch die Eigentümer der Fakten unseres Lebens, sollte er gar nicht erst auf das Verständnis der immerzu scharfsinnigen, wenig sanftmütigen Janet Malcolm hoffen:

»Aber, wie jeder weiß, der je mit Klatsch zu tun hatte, gehören uns die ›Fakten‹ unseres Lebens keineswegs. Das Eigentum wird uns am Tag unserer Geburt aus den Händen genommen, mit dem Moment der ersten Observation.«

Die schweigende Frau von Janet Malcolm ist ein Buch, das »die Biografie« wie kein anderes entmystifiziert. Es beinhaltet unzählige Passagen wie die obenstehende, schmerzliche Beispiele dafür, wie zum Scheitern verurteilte Versuche...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Übersetzer Lisa Mensing
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Voornamelijk vrouwen
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Affären • Autonomie • Didion, Joan • Emanzipation • Essaysammlung • Freiheit • Freud • Freundschaft • Gornick, Vivian • Intimität • Kämpferin • Komplizinnen • Künstler • Malcolm, Janet • Plath, Sylvia • Psychologie • Roth, Philip • Schriftstellerin • Selbsterforschung • wildes Mädchen • Woolf, Virginia
ISBN-10 3-257-61491-8 / 3257614918
ISBN-13 978-3-257-61491-6 / 9783257614916
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