Perfekte Menschen -  Andrea Grill

Perfekte Menschen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Leykam Buchverlag
978-3-7011-8345-6 (ISBN)
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Ein Zukunftsroman über einen Jungen, der Gärtner werden wollte, aber Krieger werden musste   In einer Welt, in der die Technik regiert und die Natur kontrollierbar geworden ist, wird Michael in Mat, einem Dorf in Albanien, geboren. Als Baby ertrinkt er beinahe - ein Vorfall, der zu einem Volksbegehren führt, das die komplette Trockenlegung aller Flüsse fordert, um Kinder vor dem Ertrinken zu schützen. Als Michael acht Jahre alt ist, wird er entführt und seiner Familie entrissen. Ein Schicksal, das viele Kinder in diesem Alter ereilt. Er wird in ein Camp für Jugendliche gebracht, wo ihnen die Erinnerung an ihre Herkunft ausgetrieben werden soll. Sein Name lautet fortan Balaban Badera und er wird zu einem modernen Krieger erzogen. Doch anders als die anderen Jungs widersetzt sich Balaban. Andrea Grill blickt mit ihrer Neuerzählung des albanischen Mythos in eine unsichere Zukunft und erzählt eine dystopisch-fantastische Geschichte des Widerstands, eindringlich und spannungsgeladen. Andrea Grill stand 2019 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Science-Fiction-Neuerzählung des albanischen Mythos von Ballaban Badera, in der Tradition von George Orwell und Margret Atwood Mit Metallic-Papier und Lesebändchen

Andrea Grill lebt als Dichterin und Schriftstellerin in Wien und Amsterdam, sie ist promovierte Evolutionsbiologin und übersetzt aus dem Albanischen. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, Lyrikbände, Erzählungen, Essays und Kinderbücher, zuletzt erschienen »Bio-Diversi-Was? Reise in die fantastische Welt der Artenvielfalt« (Leykam 2023) und »Seepferdchen« (Naturkunden Matthes & Seitz 2023). Sie wurde vielfach aus gezeichnet, u. a. mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis und dem Anton-Wildgans-Preis, ihr Roman »Cherubino« (Zsolnay 2019) war für den Deutschen Buchpreis nominiert.

MICHAEL FIEL. Das würde seine erste Erinnerung sein. Er fiel und landete als silbriger Tropfen im Wasser, plötzlich erstarrt. Eine dieser Figuren aus geschmolzenem Zinn und Blei, die einst zur Jahreswende die Zukunft vorhersagten – das war er. Obwohl kein Jahr begann.

Er atmete nicht mehr. Er sank. So hätte sein Leben enden können.

Da bremste ihn etwas. Es gab wieder Schmerz, Lärm – vor allem das Geschrei der Eltern. Ob er sie als solche erkannte? Er kannte sie als Bewegung, die ihn der Leichtigkeit entriss – das Erstarrtsein war nicht unangenehm gewesen. Etwas warf ihn zurück an die Luft. Ein Naturgesetz? Helena, triefend nass, das grüne Hemd betonte die dunklen Höfe um ihre Brustwarzen, ihre Schuhe schmatzten bei jedem Schritt. Sie drückte den Sohn an sich, er japste nach Luft, erbrach einen Schwall Schlamm auf ihre Schulter, winzige Algen blieben im Stoff des Hemds hängen; sie spürte die Feuchtigkeit nicht. Der Schrei des Säuglings verscheuchte einen Schwarm Krähen auf Nimmerwiedersehen. Vom sandigen Ufer flogen sie an der Steilwand entlang in den Himmel.

»Deine Mutter hat dir das Leben doppelt geschenkt«, sagte Milosh später oft. So formte er Michaels Erinnerung.

Den Fluss hatten Helena und Milosh zuvor nie als Bedrohung betrachtet, eher als dekoratives Accessoire für die Aussicht von ihrem Esstisch aus. Die Wohnung war klein – aber der Blick!

Nun aber erklärte Milosh sich den Unfall nicht mit eigener Unaufmerksamkeit, sondern mit der ungenügenden Regulierung der Natur. »Aus rein ästhetischen Gründen, weil Leute wie du, Helena …« Aber sie hatte das Kind ja herausgeholt. Er legte ihr den Arm um die Schultern, zuckte nicht zurück, als seine Finger den erbrochenen Schlamm berührten. »Wir sollten einen Antrag auf Trockenlegung stellen.«

Milosh war kein guter Schwimmer. Das sah man ihm nicht an, er war kräftig, muskulös. Er boxte, hob Gewichte. Als er das Kind im Fluss bemerkt hatte, hatte er dennoch gezögert, an die Strömung gedacht. Da war Helena schon gesprungen. Wie wasserscheu er wirklich war, wusste nicht einmal sie, die Schwimmerin mit der Olympiamedaille. Er verbarg es gut. Bei Wettbewerben saß er verlässlich auf der Zuschauertribüne.

»Wir sind schuld oder wären schuld gewesen.« Helena reichte ihm das Kind, sie wollte sich die Nase putzen. Michael zappelte, trainierte vergnügt seine Bauchmuskeln, für ihn war der Vorfall schon vergessen, vorläufig, später würde die Erstarrung zurückkehren und das Gefühl, eine Figur aus ungewissem Material zu sein, ihm vertrauter vorkommen als jede Umarmung. Er würde Fragen haben, viele Fragen und niemanden, dem er sie stellen könnte.

Michael hatte ein ebenmäßiges Gesicht. »Es kann nur hässlicher werden.« Jemand murmelte die Worte, als Milosh und Helena vor der Glasscheibe des Geburtshauses auf die Entlassung warteten. Beide hofften, der andere hätte die Bemerkung nicht gehört. Keiner verlor ein Wort darüber. Michael war drei Tage alt und alles an ihm war perfekt.

»Eltern wie Elstern.« Die Notärztin verkniff sich die Bemerkung nicht, als sie zu ihrem Kollegen ins Auto stieg. Diese Leute lebten so weit draußen, ohne jegliches Verantwortungsgefühl. Den Alarm hätten die Nachbarn ausgelöst: Ein Kind sei in den Fluss gefallen. Zum Glück schiene es unversehrt geblieben. Der Notarztwagen konnte wieder fahren, musste fahren, weil die Eltern es ablehnten, den Jungen für eine genauere Untersuchung mitzugeben. Aufgebracht sprach die Ärztin mit ihrem Kollegen, der den Wagen hinaus aus dem flachen Tal lenkte, hinein in einen Landstrich, den sie als innen empfand und folglich als weniger gefahrenbelastet. Die Schlucht mit den dunklen Flecken auf den Felsen ließen sie hinter sich.

Der Vater habe den Säugling schlafend gewähnt. Wer das glaubte! Schlafend scheine überhaupt der bevorzugte Zustand zu sein, in dem Eltern ihre Kinder sehen wollten, wetterte sie ins rechte Ohr ihres schweigenden Kollegen am Lenkrad. Mit geschlossenen Augen, gleichmäßig atmend, so wünschten sie sich ihre Kleinen, wie auf den Werbefotos der Geburtskliniken; statt zu schlafen sei dieser Bub aber über die Wiese gerobbt, ungeachtet dessen, was unter ihm lebte oder zerquetscht wurde, weil er musste, weil es nur eine Richtung gab – vorwärts. Was die Eltern getan hätten, während er aus ihrer Sichtweite gekrochen sei, hätten sie sich nicht die Mühe gemacht oder die Zeit gehabt zu verbergen.

Der verknäulte Slip auf dem zerwühlten Bettzeug, die BHs, ja tatsächlich mehrere, und dann der Geruch, trotz geöffneter Fenster. Die hätten gevögelt, während ihr Kind ertrank.

Als wäre der Kollege nicht dabei gewesen, wiederholte sie alles, was ihr aufgefallen war, als sie die Wohnung betreten hatten, um das Baby zu untersuchen. Das Detail, das ihr am eindrücklichsten vor Augen stand, der offene Zipp an den Jeans der Frau, Schamhaar quoll daraus hervor, erzählte sie nicht.

»Die behandeln ihr Kind wie ein Schmuckstück, um sich selber schöner vorzukommen, weil sie es haben. Eltern wie Elstern.«

Die Wiese war schuld, ihre Verlockung. »Warum musst du nach einem Schuldigen suchen?« Milosh und Helena, Helena und Milosh. Einen Abend lang redeten sie sich um Kopf und Kragen.

Das geschah im Sommer, es musste Sommer gewesen sein, denn Michael war ein Winterkind und mittlerweile acht oder neun Monate alt. Alt genug, um zu robben. Jung genug, um Gefahren nicht wahrzunehmen.

Dabei waren Kinder gar nicht mehr so oft in Gefahr. Sie wurden nicht krank, Ansteckungen mit Viren oder Bakterien gehörten der Vergangenheit an, die höchstens noch die Großeltern kannten, aus einer Zeit, in der man wochenlang das Bett hütete, um zu genesen. Vitamine wurden verehrt wie Götter. Wer nicht sicher war, ausreichend davon zu produzieren oder mit der üblichen Nahrung zu verspeisen, ließ sich einen Dispenser implantieren.

Vor Erdbeben, Stürmen und Überflutungen waren die Häuser in diesem Teil der Erde gefeit. Sie wurden entsprechend gebaut. Für den Fall einer Naturkatastrophe, vor der Häuser nicht schützten, trugen die Menschen Sensoren unter der Haut, die sie alarmierten und ideale Fluchtrouten vorschlugen. Wissenschaftler waren vorrangig damit befasst, Katastrophen vorauszusagen und abzuwenden.

Der Rest, das, was noch vor wenigen Jahrzehnten als Forschung gegolten hatte, waren Kinkerlitzchen, sogenannte Leisurites, sie brachten eine Karriere nicht mehr vorwärts.

Nach Michaels Sturz in den Fluss tat Helena ihr Bestes, um ihm Vorsicht beizubringen. Sie warnte ihn vor Schwerkraft, Beschleunigung und Temperatur, also: Aufprall, Ertrinken, Zerquetscht- oder Auseinandergerissenwerden, Erfrieren, Verbrennen. Zugleich lernte er sprechen.

Und trotz alledem, was nach wie vor Fortschritt genannt wurde, würde er bald mit anderen Kindern auf nackten Füßen über steinigen Grund rennen. Licht, Licht – daran hältst du dich.

In Mat gab es viel Licht. Mat, so hieß das Dorf, in dem sie lebten und das immer noch als solches bezeichnet wurde, obwohl es kaum dem entsprach, was historisch gesehen im Kopf der Menschen auftauchte, wenn Dorf gesagt wurde. Mat fehlte nämlich das, was ein Dorf einst definierte: Abgeschiedenheit. Trotz der geografischen Lage und dem Gefühl der Isoliertheit, das Leute wie die Notärztin noch immer überfiel, wenn sie hierherkamen, wahrscheinlich, weil sich ihnen frühere Gegebenheiten eingeprägt hatten, war Mat unheimlich erreichbar und heillos verbunden mit dem übrigen Europa.

»Und der gesamten Erde«, wie Milosh jedes Mal, wenn die Rede darauf kam, hinzufügte. Abgeschiedenheit fehlte diesem Ort inzwischen ganz und gar und machte vielleicht die größte Sehnsucht aus, die die Bewohner von Mat vereinte: Sie wären gern nicht so im Zentrum von allem gewesen.

Der Vorfall mit dem Sturz in den Fluss erregte Aufsehen. Das würde man dem Wasser so schnell nicht vergessen. Das nahm man ihm übel.

Die kleine Petition für eine Austrocknung des Flusses oder wahlweise Verlegung ins Unterirdische, die Milosh unter dem Eindruck des Unfalls initiiert hatte, erreichte ungeahnten Zuspruch. Helena gehörte zwar zu denen, die dagegen stimmten, aber Land und Stadt sympathisierten mit Mat: Der Fluss musste gedämmt, trockengelegt, abgeschafft werden. Und – so die Sicherheitseuphoriker nach dem Erfolg der ersten Petition – nicht nur dieser eine, nein, Flüsse überhaupt. Nur so würde das Ertrinken von Kindern in Flüssen ein für alle Mal verhindert werden.

Milosh erschrak. So hatte er es nicht gemeint. Eigentlich mochte er den Fluss, er war an ihm aufgewachsen, hatte erste Tränen wegen eines Mädchens in ihn geweint, an seinem Ufer Helena zum ersten Mal geküsst. Sogar den ersten Sex mit ihr hatte er im Fluss gehabt. Eine tiefere Stelle hinter einer Biegung, Polster nannten sie...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7011-8345-7 / 3701183457
ISBN-13 978-3-7011-8345-6 / 9783701183456
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