Stanleyville -  Richard Hayer

Stanleyville (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
360 Seiten
Buch&Media (Verlag)
978-3-95780-305-4 (ISBN)
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Das Jahr 1964. In dem von Belgien unabhängig gewordenen Kongo tobt ein Bürgerkrieg. Zauberer, die Unverwundbarkeit versprechen, führen die Rebellen an. Menschen werden massakriert, tausende als Geiseln verschleppt. Mehr als drei Monate wird die kleine Kim Lacquemont in der Stadt in der Mitte des endlosen Regenwaldes mit ihrer Familie in einem Keller gefangen gehalten. Sie überlebt, scheinbar unter dem Schutz einer rätselhaften hölzernen Maske, dem Abbild eines entsetzlichen dämonischen Mischwesens aus Mensch und Insekt. Fünfundvierzig Jahre später: Dutzende Exemplare der gleichen Maske tauchen in einem stillgelegten Parkhaus im Stadtzentrum von Brüssel auf. Täglich verschwinden Kinder spurlos, die Zahl wächst rasant, ein Ende ist nicht abzusehen. Die Polizei steht vor einem Rätsel, manche sprechen gar von einem Krieg. Kim ist mittlerweile Ärztin. Auf der verzweifelten Suche nach ihrer verschwundenen siebzehnjährigen Nichte ist sie gezwungen, an den Ort zurückzukehren, an den sie sich ihr Leben lang nicht denken konnte, ohne das Bewusstsein zu verlieren zurück in den Kongo, zurück in die Erinnerungen an das Jahr 1964, zurück nach Stanleyville.

Richard Hayer wurde 1947 auf einer Insel in der Ostsee geboren. Er ist promovierter Physiker und hat als Theatermann, Autor, Manager, Lobbyist und Berater gearbeitet. Er lebt in Berlin, in Mecklenburg und auf Reisen. Sein erster Roman »Palmer Land« erschien 2002 bei Ullstein und wurde ein Erfolg. Sein zweiter Roman »Visus« erschien 2007 ebenfalls bei Ullstein, war ebenfalls ein Bestseller und wurde 2011 von RTL verfilmt. Richard Hayer ist verheiratet und hat eine Tochter und einen Sohn.

1

FREITAG, 26. JUNI

Kim Lacquemont erwachte mit der Karte eines Taxiunternehmens in der Hand. Es war sieben Uhr, und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie sie gestern Nacht nach Hause gekommen war. Je genauer sie darüber nachdachte, desto deutlicher tat sich ein Loch von einigen Stunden auf.

Sie schlug die Bettdecke mit dem blassblauen Blütenmuster zurück und sprang auf. Farben in hellen Mustern, schoss es ihr durch den Kopf, wie komme ich immer wieder zu der unbeschwerten Schmetterlingswelt eines kleinen Mädchens? Mit Bedacht setzte sie ihre Schritte. Der Fußboden war mit Reisegepäck, Impfbescheinigungen, Pass und Flugtickets übersät.

Sie streckte sich in ihrem blassroten Schlafanzug, der blassrot gepunkteten Jacke über blassrot karierter Hose aus einem warmen, weichen Baumwollstoff, und legte eine CD mit Klaviertrios von Mozart in ihre Stereoanlage. Als es an der Tür klingelte, warf sie sich einen Mantel über.

Mit den Spediteuren, die kamen, um die Praxiseinrichtung ihrer verstorbenen Mutter abzutransportieren, strömte ein Schwall frischer Sommerluft ins Haus. Der Chef der Truppe, ein massiger Mann von fast siebzig Jahren, der einen altmodischen Filzhut wie angewachsen auf dem Hinterkopf trug, trat als Letzter ein.

Eine Weile blieb Kim vor der Rückseite ihres Hauses in Ukkel stehen. Noch war die Luft frühlingshaft warm, bald würde es unter dem strahlend blauen Himmel so heiß werden wie all die Tage zuvor. Achtunddreißig Grad im Schatten waren keine Seltenheit, jedermann in Brüssel ächzte unter der staubtrockenen Hitze. In den Straßen sah man Passanten, die sich Mineralwasserflaschen über den Köpfen entleerten, manche unternahmen leichtsinnige Aktionen auf den Dächern ihrer Häuser, doch die meisten Menschen bewegten sich schneckenhaft träge in ihren abgedunkelten Wohnungen. Kim erschien es wie ein Menetekel, dass ausgerechnet jetzt, kurz vor ihrer Abreise auf die Antillen, tropische Glut Einzug hielt. Als wollte eine höhere Macht sie zwingen, es sich noch einmal zu überlegen. Ein weißer Mercedes mit Weißwandreifen, Baujahr 1976, rollte vor ihr aus.

Kim hatte den ehemaligen Kollegen ihrer Mutter, der die Praxiseinrichtung übernehmen und das Verpacken beaufsichtigen wollte, erwartet. Mit festem Händedruck begrüßte sie einen großen Mann, in dessen Gesicht unter einem dichten weißen Haarschopf sich auffallend fröhliche Augen bewegten. Kim führte ihn zu den Umzugsarbeitern im Haus und ging dann in ihr Bad. Unter der Regendusche öffnete sie den Mund und trank, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Sie sehnte sich danach, etwas anderes als heißes Wasser auf ihrer Haut zu spüren. Warum war Warren jetzt nicht in ihrer Nähe? Jetzt, wo sie ihn verdammt noch mal brauchte.

Das Wasser ließ ihre Haare im Nacken zusammenfließen. Sie liebte Warren. Selten gestand sie es sich ein, vor allem aber liebte sie die Distanz. Was ihr zu nahe kam, erdrückte sie, aber wenn sie sich alleingelassen fühlte, belebte sich ihr Innenleben mit unerträglichen Ameisenvölkern unruhiger Ideen. Wie wollen wir auf diesem schmalen Grat gemeinsam ein Haus bewohnen?

Eine Musik war in ihrem Ohr, ein melancholisches Lied, das sie gestern gehört haben musste, gesungen von einer Frau. Weder konnte sie sich an den Text noch an die genaue Melodie erinnern, mehr als eine harmonische Wehmut in ihrem Kopf war davon nicht übrig geblieben.

Plötzlich traf es sie wie ein Schlag ins Genick. Der Betonboden zu ihren Füßen war mit Dingen bedeckt, die in flackerndem Licht schwarzen Schildkröten glichen. Herden großer, wie abgewetztes Leder glänzender, regloser Tiere.

Kim schaffte es, den Kaltwasserhahn ihrer Dusche aufzudrehen. Der Schwall verscheuchte die Illusion. Sie stand sicher auf dem weißen Fliesenboden der Dusche. Was war das? Erinnerungen an die letzte Nacht? Unmöglich. Was sie soeben gesehen hatte, war zu abstrus und surreal. Ein Albtraum, Nachwirkungen eines Films. Vielleicht die Panik vor dem aufwendigen Renovierungsprogramm des alten Hauses, das sie sich vorgenommen hatte.

Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam.

Eingewickelt in einen flauschigen, viel zu großen gelben Bademantel, den ihr Warren irgendwann in London gekauft hatte, trocknete sie sich die Haare. Kurz nach acht saß sie vor einer Tasse Kaffee und einem großen Glas Leitungswasser in der Küche. Einige ihrer Lebensgeister waren wieder geweckt. Appetit hatte sie höchstens auf eine einzige rostbraun getoastete Scheibe Brot mit einem hauchdünnen Butteraufstrich. Sie liebte das Geräusch, wenn das Messer über die krosse Oberfläche knisterte, sie liebte den Biss hinein, den zarten Hauch von Butter. Eine Scheibe sollte ihr für die morgendliche Meditation über die einfachen Dinge des Lebens reichen. Mehr war nicht nötig.

Sie wendete die Karte von »Taxi Orange« in der Hand. Wie war sie in der Nacht heimgekommen?

Die Straße vor der Vorderseite ihres Hauses wirkte wie ausgestorben. Im Bademantel trat sie einige Schritte vor die Tür. Inzwischen herrschte auf der Straße wieder die drückende, staubtrockene Hitze, die jeder seit Wochen kannte. Eine Wüste musste sich der Brüsseler Stadtgrenze genähert haben.

Ihr Auto war nirgends zu sehen. Sie brauchte nicht lange, um festzustellen, dass es auch nicht in der Garage stand.

Wie konnten mehrere Nachtstunden und ein rotes Auto abhandenkommen? Hatte sie selbst es irgendwo in der Stadt gelassen, weil sie schon in der Nacht nicht mehr wusste, wo es war? War sie betrunken gewesen? Unmöglich. Nach zu viel Alkohol fühlte sich in ihrem Innern nichts an.

Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war eine Verabredung mit ihrer Nichte im Zentrum der Stadt. Vielleicht fand sich im Haus etwas, das ihrer Erinnerung auf die Sprünge half.

An der Flurgarderobe hing der Rucksack ihrer Nichte Caline. Sie tastete mit der Hand hinein. Eine leere Champagnerflasche, ein abgebrochenes Stück Holz. Nichts klingelte in ihrer Erinnerung.

Das Haus, vor ihrem geistigen Auge schon ausgeräumt, erschien Kim größer denn je. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie seine Dimensionen als selbstverständlich hingenommen, jetzt wirkten sie bedrohlich.

Sie ging hinüber in den hinteren Teil des Hauses, das 1910 an einem Hang errichtet worden war. Als ihr Großvater es bauen ließ, hatte er das Ziel verfolgt, den ganzen Clan unter einem Dach zu versammeln. Die große Anwaltskanzlei Boerrinck & Boerrinck wurde im Hochparterre auf der Rückseite untergebracht, wo es zwei Stockwerke mehr gab als auf der vorderen Seite. Am Anfang der Avenue d’Orbaix, die sich in einer schmalen Haarnadelkurve krümmte, machte das Haus Nummer 3 den Eindruck eines blendend weißen englischen Landhauses. Wer sich vom Ende her näherte, meinte, mit der Nummer 14 ein großes städtisches Wohn- und Geschäftshaus vor sich zu haben.

Von unten drangen laute Rufe herauf, als die Männer der Spedition weißlackierte Blechschränke durch die Türen jonglierten.

Am hinteren Eingang erkannte sie einen Lieferwagen der Firma, der sie das gesamte Ausräumen, Einlagern und das genau geplante Wiedereinräumen ihres Hauses vor, während und nach der Renovierung übertragen hatte. »Transporteur Jucquois« verkündete die gelbe Aufschrift auf hellblauem Grund.

Kim rief bei »Taxi Orange« an. Der Abbruch der Verbindung erlöste sie aus einer endlosen Warteschleife. Dann wählte sie die Nummer der Polizei. Bis sie Gelegenheit bekam, zu melden, dass ihr roter Saab letzte Nacht von seinem Platz vor ihrem Haus verschwunden war, wurde sie mehrfach von einem Beamten zum nächsten weitervermittelt.

»Gestohlen?«, wiederholte sie die Frage des Beamten, »ich habe keine Ahnung. Vielleicht von Jugendlichen für eine Spritztour genutzt.«

»Also gestohlen.«

»Wohl ja.«

»Oder haben Sie vergessen, wo Sie ihn geparkt haben?« Sie konnte förmlich sehen, wie er einen Kollegen angrinste, der in einem anderen Gespräch zu hören war.

»Ich weiß genau, wo er war«, sagte sie fest, »vor meinem Haus. Dort ist er nicht mehr. Gestohlene Wagen dienen, wie Sie wissen, der Vorbereitung weiterer Straftaten. Helfen Sie mit, die zu verhindern, indem Sie meinen roten Saab finden.« Armleuchter. Sie gab alle nötigen Daten an den Beamten weiter und beendete das Gespräch.

In der oberen Etage wartete sie vor Calines geschlossener Zimmertür, hinter der sich früher die kleine Einliegerwohnung ihrer Großmutter befunden hatte. Noch schlief ihre Nichte. Um zwölf Uhr sollten in ihrer Schule bei einer großen Zeremonie in der Aula Abschlusszeugnisse und die Zeugnisse der jüngeren Jahrgangsbesten übergeben werden. Caline war eine von ihnen.

Für dieses stolze Ereignis hatten sie am letzten Samstag ein elegantes, dunkelblaues Kostüm beschafft. Caline hatte sich darin vor dem Spiegel mit allen Grimassen, die ihr Gesicht hergab, überprüft und war ausnahmsweise nicht in nervendes Gejammer ausgebrochen. Ein Zeichen für allerhöchste Zufriedenheit. Sie hatte zauberhaft in diesem Kostüm ausgesehen, fand Kim.

Sie zögerte eine Weile. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie jetzt nachsehen sollte. Vielleicht wusste Caline, was gestern Nacht geschehen war – und wo sich der Saab befand.

Es war noch mehr als eine Stunde Zeit, bis sie sie wecken musste. Sollte sie noch ausschlafen. Vorher war der Dachboden an der Reihe.

Seit ihren Kindertagen hatte Kim den Speicher nicht mehr betreten. Sie musste endlich mit ihren Aufräumarbeiten beginnen, damit die Handwerker am Sonntagnachmittag, wenn sie das Haus zwei Wochen lang für sich allein...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95780-305-5 / 3957803055
ISBN-13 978-3-95780-305-4 / 9783957803054
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