Die flüsternde Muse (eBook)
448 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-109-7 (ISBN)
Die Engländerin Laura Purcell ist fasziniert von der finsteren Seite der königlichen Geschichte. Ihre unheimlichen, historischen Romane haben ihr schnell viele Fans beschert und den Ruf eingebracht, die »neue Königin der Gothic-Thriller« zu sein. Laura lebt mit ihrem Mann und ihren Meerschweinchen in Colchester, der ältesten bekannten Stadt Englands. Sie arbeitete in der Kommunalverwaltung, in der Finanzbranche und in einer Buchhandlung, bevor sie Vollzeitautorin wurde. https://www.laurapurcell.com/
1
Das Angebot war zu schön, um wahr zu sein. Das wusste ich von Anfang an. Solche Gelegenheiten fallen einem nicht einfach so in den Schoß, man muss sie sich hart erkämpfen. Das wusste ich. Ich wünschte mir jedoch, Mrs. Dyer würde mir das Gegenteil beweisen.
An jenem Morgen regnete es ohne Unterlass, die Wolken vergossen Tränen wie ein Säugling, der keine Ruhe geben will. Ich hatte keinen Regenschirm dabei. Der Pferdeomnibus konnte mich nur einen Teil des Weges bringen, sodass ich, als ich auf den Platz mit den hohen, weißen Stadthäusern einbog, bis auf meine Unterröcke durchnässt war.
Mein linker Stiefel quietschte an der Stelle, an der ich zuvor in eine Pfütze getreten war. Ich hielt inne und überprüfte noch einmal die Richtung, aber es war schwierig, im Nieselregen die Hausnummern zu erkennen. Eine Weile taumelte ich dort herum, lauschte dem Wasser, das von den Dachrinnen rieselte, und spielte mit dem Gedanken, wieder umzukehren. Aber meine Familie konnte es sich nicht leisten, diese Leute noch mehr zu verärgern als ohnehin schon. Ich sollte die Dame besser aufsuchen, die mir vielleicht eine Erfrischung anbieten würde, anstatt in unser beengtes Zimmer und zu den anstehenden Hausarbeiten zurückzukehren.
Als ich endlich das Haus Nummer 13 fand, sah es genauso aus wie die Nachbarhäuser: drei Stockwerke aus weißem Backstein mit einem Schieferdach und Mansardenfenstern. Ein engelhaftes Mädchen von etwa sechs Jahren schaute aus dem Kinderzimmer im Dachgeschoss auf mich herab. Aus dieser Entfernung hätten die Regentropfen, die über das Fenster glitten, Tränen sein können, die über ihre prallen Wangen liefen. Ich winkte. Bevor sie meinen Gruß erwidern konnte, erschien eine Hand über ihrer Schulter, die den Vorhang fest zuzog.
Es erstaunte mich nicht. Die Oberschicht lehrte ihre Kinder von klein auf Zurückhaltung, und vielleicht war das auch gut so.
Die Vordertür glänzte so schwarz wie ein frisch polierter Stiefel. Sie war nicht für Leute wie mich bestimmt. Stattdessen griff ich nach dem glatten Eisengeländer und nahm die Treppe in den Keller. Ich würde nicht sagen, dass ich aufgeregt war, denn Aufgeregtheit birgt die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Ich schritt müde hinab, wie ein dämpfiges Pferd auf dem Weg zum Abdecker. Mrs. Dyer hatte ihre Vorladung wohl als Einladung zum Tee getarnt, als Fassade, wie es sich für jemanden mit guten Manieren ziemte. Sie konnte nichts Angenehmes zu sagen haben. Ihr einziger Grund, mich kommen zu lassen, wäre der, mir weitere schlechte Nachrichten zu überbringen.
Ich klopfte am Dienstboteneingang. Nach langem Warten öffnete ein junger Mann mit Pickeln im Gesicht die Tür. »Was willst du?«
»Ich möchte zu Mrs. Dyer.«
Er musterte mich von oben bis unten, von meinem schlappen Kiepenhut bis zu den schlammbespritzten Röcken. »Wohl kaum.«
Meine Wangen erröteten, mehr aus Wut als aus Verlegenheit. Ich war doppelt so gut wie dieser Junge im Dienen ausgebildet – und ich wusste, wie man mit guten Manieren die Tür öffnet. »Dann geh und frag sie. Sag ihr, dass Jenny Wilcox hier ist.«
Er musterte mich erneut. »Bei dem Regen lasse ich dich mal herein. Aber ich behalte dich im Auge.«
Er ließ mich in eine verrauchte Küche mit rußverschmierten Wänden eintreten und setzte sich wieder an einen langen Tisch. Ein Topf blubberte über einem offenen Herd. Ich hatte eine Schar von Dienern erwartet, wie in Mrs. Fieldings Haus, aber es war nur der Junge da, der Messer wetzte und Silberbesteck polierte.
Ich stellte mich vor das Feuer, um trocken zu werden. Meine Kleider begannen zu dampfen, und ich spürte, wie sich meine Haare an den Ohren kräuselten, wie immer, wenn es feucht war. Ich sah bestimmt sehr unordentlich aus. Aber vielleicht war das auch gut so. Mrs. Dyer könnte mit einer verwahrlosten Frau Mitleid haben.
Irgendwo im Haus läutete eine Glocke zur vollen Stunde. Zehn Uhr, die genaue Uhrzeit meiner Verabredung. Wie von Geisterhand erschien ein Diener in einer altmodischen Livree und mit einer gepuderten Perücke.
»Hier entlang bitte.«
Der Regen rauschte im Hintergrund weiter, während er mich aus dem Dienstbotenzimmer in einen langen Flur führte. Alles wirkte elegant und gepflegt. Auf den Pfeilertischchen standen Vasen mit frischen Blumen, und ein Spiegel leuchtete an der Wand. Die monatelange Abwesenheit hatte dazu geführt, dass ich mir in einer feinen Umgebung wie ein Fremdkörper vorkam. Hatte ich wirklich schon mal so viel Platz genossen?
Der Diener glitt zu einer Tür ganz am Ende des Flurs, neben einer Standuhr. Er klopfte einmal und zählte leise bis fünf, bevor er die Tür aufdrückte.
Der Salon im Inneren war mit blassgrünem Chintz dekoriert. Über dem Fenster hingen Farne und ein Käfig mit Wellensittichen. Auf dem Rost brannte kein Feuer – es war schließlich August –, und der Platz wurde stattdessen von einem Paar gleicher Porzellanhunde eingenommen.
Eine Dame saß auf dem Kanapee. Ihr karamellfarbenes Haar war zu einem Turm hochgesteckt und wurde mit Kämmchen in Form gehalten. Sie trug ein hochgeschlossenes blaugrünes Kleid mit modischen Pagodenärmeln. Das war also Mrs. Dyer, meine Korrespondentin. Die Gattin des Eigentümers des Mercury Theatre.
Der Diener räusperte sich. »Miss Wilcox für Sie, Madam.«
Ihr Kopf drehte sich langsam in meine Richtung. Sie sah gut aus, war etwas über 40 Jahre alt. »Aha!«, sagte sie und lächelte mit karminroten Lippen. »Kommen Sie herein. Setzen Sie sich.«
Sie rutschte nach vorn und betätigte sich am silbernen Teeservice auf dem Tischchen vor sich. Ihre Hände zitterten dabei. Die Tasse klirrte gegen die Untertasse, das Porzellan klapperte wie Zähne in der Kälte.
Aber warum? Mrs. Dyer war bei sich zu Hause. Sie hatte mich hergebeten. Es gab doch sicher keinen Grund für sie, nervös zu sein?
Vorsichtig setzte ich mich auf die Kante meines Stuhls und bemühte mich, keinen Wasserfleck zu hinterlassen. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, hielt ich den Mund.
»Das wäre dann alles, James«, sagte sie zum Diener.
Er verbeugte sich tief und wich zurück, als würde er sich aus der Gegenwart einer Königin entfernen.
Mrs. Dyer rührte Milch in den Tee. »Ich bin so froh, dass du meinen Brief erhalten hast, Jennifer. Ich darf dich doch Jennifer nennen?«
Ich nahm die Tasse aus ihren perfekt manikürten Händen entgegen. »Wenn Sie möchten.« Das war die einzig vernünftige Antwort, obwohl es mir lieber gewesen wäre, sie würde es nicht tun. Die Verwendung meines Vornamens implizierte eine gewisse Vertrautheit. Ich kannte sie nicht näher. Sie sah mir zum ersten Mal in die Augen. Ihre waren grün wie Absinth. »Ich kann eine familiäre Ähnlichkeit erkennen. Du kommst nach deinem Bruder.«
Meine Finger krümmten sich um den Henkel. »Verzeihen Sie, Madam, aber … Ich weiß nicht genau, warum Sie mich hierhergebeten haben. Wenn Greg das Theater verlassen hat und Ihnen Geld schuldet, kann ich nicht … Ich habe kein …«
Mrs. Dyer musterte mich über den Rand ihrer Tasse und nahm vorsichtig einen Schluck. Sie musste die Wahrheit meiner Worte erkannt haben. Er hatte uns keinen Penny hinterlassen. »Tatsächlich hat Mr. Wilcox mehr genommen, als ihm zustand. Er wurde bis zum nächsten Zahltag entlohnt. Aber bitte glaube nicht, dass ich dich hergebeten habe, um eine Schuld einzutreiben. Ich möchte mit dir über ein eher … heikles Thema sprechen.«
Mein Puls beschleunigte sich. Jedes Mal wenn ich dachte, ich hätte den Schlamassel meines Bruders beseitigt, schwappte neues Abwasser an die Oberfläche. Hatte er auch seinen früheren Arbeitgeber bestohlen? Vielleicht zitterten Mrs. Dyers Hände aus demselben Grund wie meine? Vielleicht war es die Anstrengung, all die Wut wegen der verletzten Gefühle zurückzuhalten.
Ich trank, um mir etwas Zeit zu verschaffen.
»Gefällt dir das Theater, Jennifer?«
Ihre Frage überraschte mich. »Ja, sehr sogar, wenn ich die Möglichkeit habe hinzugehen. Es ist schon eine Weile her, dass ich etwas gesehen habe … Greg nahm mich ein- oder zweimal in den obersten Rang mit, als er damals anfing, für Sie zu arbeiten. Wir haben East Lynne und Die korsischen Brüder gesehen.« Diese glücklichen Erinnerungen schmerzten nun.
»Ah, ja. So rührselige Stücke.« Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Ich erinnere mich nicht, dich damals gesehen zu haben. Ich hätte nie von eurer Existenz erfahren, aber ich fürchte, der Klatsch hat sich im Theater schnell verbreitet, seitdem euer Bruder verschwunden ist. Als Philanthropin war ich natürlich besorgt, als ich hörte, dass Mr. Wilcox eine bedürftige Familie hinterlassen hat. Wir haben am Mercury einen Maler und eine Soubrette verloren, aber ich fürchte, du hast durch diese traurigen Ereignisse noch viel mehr verloren.«
Sie hatte ja keine Ahnung! »Was ist eine Sou…Soub…?«
»Eine Soubrette? So nennen wir junge Schauspielerinnen, die Nebenrollen spielen. Schauspielerinnen wie Georgiana Mildmay.«
Mir fielen zu ihr noch eine oder zwei andere Bezeichnungen ein.
Der Regen prasselte weiter. Einer der Wellensittiche zwitscherte. Mrs. Dyer nahm noch einen Schluck.
Was konnte sie von mir wollen? Sie schien eine gütigere Dame zu sein, als meine Herrin es gewesen war. Es gab zwar keinen Grund zur Annahme, dass sie mir helfen würde, aber es war eine Frage wert, da ich schon mal hier war. Für dezente Andeutungen war unsere finanzielle Situation zu prekär....
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2024 |
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Übersetzer | Eva Brunner |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
ISBN-10 | 3-98676-109-8 / 3986761098 |
ISBN-13 | 978-3-98676-109-7 / 9783986761097 |
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