Der kleine Idiot (eBook)
176 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-4684-2 (ISBN)
Geboren in Bielefeld, lebt derzeit in Bonn. Romane, Kurzgeschichten, Lyrik, Theaterstücke. Studienjahre in Cambridge, London und Paris. Amerika-Aufenthalte. Cambridge University Certificate of Proficiency in English. Cambridge Diploma in English Language. Sorbonne Diplôme de langue et civilisation françaises. Student trainee der Fa. Selfridges Ltd. London. 3 x Granta-Preis für die Short Stories Purgatory, The Witness und Blue Glass. Prix Littéraire Européen Arthur Rimbaud 2000 für die unveröffentlichten Manuskripte Sophie fatale ... (Roman) und Die blaue Provinz (Gedichte). Mitarbeit an die horen, The London Magazine, Lyrik-Anthologien, sowie an Rowohlts Don-Juan-Anthologie, Geschichten zwischen Liebe und Tod. Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften, Rezensionen usw. Buch-Publikationen: 1988: Die Sonntage des Herrn Kopanski, Roman, Benziger Verlag/Zürich. 1995: Der Rücken des Vaters, Roman, Avlos Verlag. 1997: Vor(w)orte der Liebe, Gedichte, Avlos Verlag. 2002: Sweet Home, Kurzgeschichten, bei Ango Boy. 2012: Berni, Bastian und Therese, Novelle, Bouvier Verlag. Sowie 11 Romane bei Andiamo.
ZWEITER MONAT
Samstag, 7. 4. 1945
Am Abend zieht die Haushaltshilfe Therese Kallweit zu uns. Sie hat ihre Wohnung verloren. Sie ist allein, ohne jeden Anhang. Sie wird bei uns leben und Antonia zur Hand gehen, die nicht mehr die Stärkste ist. Die Sache mit Berni zeigt uns, dass sie das alles auf Dauer nicht schafft. Außerdem ist Josefs Vater bis auf weiteres bei uns. In seiner alten Wohnung. So wird es, nach langer Zeit, wieder so etwas wie eine Hilfe im Haus geben. Therese wird ein Dachzimmer haben. Sie ist achtunddreißig, genauso so alt wie Berni.
Der heutige Samstag war ein unruhiger Tag. Die Ausgabe der Lebensmittelkarten stand an zweiter Stelle.
Alles lief zuerst nach Brot, um alte Karten loszuwerden. Die Bäcker gaben aber nur auf neue Karten ab, so dass man zurück zum Amt musste, um dort eineinhalb Stunden anzustehen. Als ich bei Flory noch eine Stunde nach Brot anstehen musste, war schon alles ausverkauft. Neues Brot gab es erst um fünfzehn Uhr. Ich war zwar um 13.30 Uhr dort, aber lange nicht der Erste. Das Geschäft schleppte sich hin, da zuerst Ausländer bedient werden mussten. Die neuen Karten zeigen nicht mehr einzelne Lebensmittel an. Sie tragen jetzt die Aufschrift Bonn-Land und haben Nummern. Diese Nummern werden angeschlagen und dadurch erfährt man, was zu haben ist.
Nr. 2 1500 gr. Roggenbrot
Nr. 3 500 gr. Weißbrot
Nr. 4 50 gr. Fett
Nr. 5 175 gr. Fleisch
Nr. 6 175 gr. Nährmittel
Nr. 7 1 Stück Einheitsseife
Das alles gibt es für Erwachsene, für Kinder und Selbstversorger andere Mengen. Nach eineinhalb Stunden erhalte ich ein Feinbrot, auf die Krankenkarte ein Grahambrot für Josefs Vater. Antonia besorgt die anderen Sachen, die alle heute noch abgeholt werden müssen, was erheblichen Protest hervorruft. Mit Kerns Wagen hole ich einen Zentner Briketts, mit dem wir vierzehn Tage auskommen müssen. Schönes Wetter. Auf der Koblenzerstraße rollt unter Staubwolken amerikanisches Material heran; neben Panzern sehr hohe Wagen, andere mit Säulen aus Eisendraht, fast zwei Meter lang, siebzig bis achtzig Zentimeter im Durchmesser; anscheinend sind sie, mit Betonmasse gefüllt, zum Versenken bestimmt. Kein Licht.
Weißer Sonntag, 8. 4. 1945, schön, etwas kälter.
Ruhige Nacht. Siegburg ist heute Nacht gefallen. In der Kirche Sankt Marien gehen sechsundvierzig Jungen und Mädchen zur Ersten Kommunion. An der Kirche und am Markusstift hängen Kirchenfahnen, auch einige bisher verbotene Jugendgruppen beteiligen sich am Umzug. Gegen vierzehn Uhr überfliegen starke Verbände, circa 45 Flugzeuge, die Stadt von Ost nach West. Therese hilft Antonia. Mit den Karten für fünf Personen werden wir es schon schaffen. Die Moltkestraße ist seit gestern wieder befahrbar. Bürgermeister Zander fordert die Rückgabe entwendeter Elektromotoren. Die Amerikaner fahren den großen Lichtmasten auf dem Moltkeplatz um. Auch in der Stadt sind einige Bäume und Masten auf diese Weise gefällt worden. Bei einem Gewitter gehen Fesselballons in Flammen auf.
Der Weg zum Friedhof ist wieder frei. Berni weiß nicht worüber er mehr staunen soll, über diese neue Therese oder das unfreiwillige Feuerwerk. Sie steht mit Antonia und mir am Dachfenster. Berni beäugt sie skeptisch und ist merkwürdig still.
Am Abend besuchen wir kurz die Rickerts zum Bohnenkaffee. Auf dem Rückweg lesen wir, dass der Ausgang ab dem 9. 4., auf von sechs Uhr früh bis zwanzig Uhr erweitert wurde. Antonia schenkt Therese ein paar Kleider von sich. Sie hat die gleiche Größe, ist nur ein wenig fülliger. Berni will beim Anprobieren dabei sein. Mit dem Radio im Treppenhaus lenke ich ihn ab.
Montag, 9. 4. 1945, schön.
Ruhige Nacht. Vereinzelt Artillerie. Um achtuhrfünfzehn erglänzt für kurze Zeit helles Licht in den Häusern. Ein Wunder. Am Morgen hört man vereinzelt Schüsse. In der Stadt sind kaum noch Truppen und Wagen zu sehen. In Gotha sollen nach Rundfunkmeldungen, Amerikaner 100 Tonnen Gold in Barren und ungezählte Devisen und Kunstgegenstände in einem Salzbergwerk erbeutet haben. Ein Beamter der Reichsbank wird verhaftet. Kein Licht.
Berni bleibt den ganzen Tag im Keller. Antonia muss ihm das Essen nach unten bringen. Er liegt auf dem Bett und beschreibt mit seinen Händen unerkennbare Bilder und Figuren. Er war seit gestern nicht mehr auf dem Dachboden. Hat erwartet, dass Therese wieder geht. Er versteht nicht, dass sie genauso selbstverständlich durchs Haus läuft wie Antonia und offensichtlich dableiben will.
Dienstag, 10. 4. 1945, schön.
Während der ganzen Nacht starke Artillerietätigkeit. Um acht Uhr früh künstlicher Nebel. Josefs Vater hat einen plötzlichen Herzanfall. Zu dritt kümmern wir uns um ihn. Seine Tropfen stabilisieren die Lage. Er hat sie wieder einmal vergessen. Bisher lebte er, seit dem Tod seiner Frau Katharina 1943, bei Grete dem früheren Mädchen. Doch dort war es viel zu eng, viele Familienmitglieder waren ausgebombt und bei ihr untergekommen, andere mussten kurzfristig ihre Häuser räumen. Thereses Hände sind schnell. Sie scheinen ruhige Worte zu sagen, die der unruhige Mann klaglos annimmt. In kurzer Zeit scheint Josefs Vater wieder ganz in Schuss.
Die Lebensmittelkarten gelten gleichermaßen in Stadt und Land, und zwar für die ganze Versorgungsperiode. Hinzu kommen 50 gr. Käse und 100 gr. Marmelade. John und Düren geben erste Kartoffeln aus. Therese macht jetzt viele Besorgungen. Sie hat sich unhörbar, unmerklich, in den Rhythmus eingefunden. Und oft nimmt sie der überforderten Antonia Dinge aus der Hand, aber es wirkt, als gäbe Antonia sie freiwillig ab. Therese ist eine stille bescheidene Person.
Seit einigen Tagen müssen Nazis im öffentlichen Dienst arbeiten. So sieht man nun gewisse Leute bei ganz ungewohnter Arbeit, etwa beim Reinigen der Volksküche. Auch Schuttstellen werden endlich entfernt. Unser Radio, in sehr kurzer Zeit repariert, läuft wieder. Königswinter ist endgültig gefallen. Amerikaner sind in Essen und auch vor Hannover, die Engländer vor Bremen, Meppen und Emden. Nachschub auf allen Straßen. Starke Fliegertätigkeit.
Berni nennt Therese Rese. Jedoch nur widerwillig. Er bestaunt, er beschnuppert sie. Niemand kann ihm erklären warum sie eigentlich hier ist. Er will es wohl nicht verstehen.
Berni alles machen, Berni. Alles.
Er rennt ziellos umher. Hin und wieder streicht er über Thereses Wangen. Er tut es beiläufig, so als wolle er testen, ob man sich an ihr verbrennt. Besonders interessiert er sich für die unter hochgestecktem Haar entstehenden kleinen Locken an ihrem weißen Hals.
Tagtäglich sind wir nun auf der Suche nach etwas Essbarem. Die Rationen reichen vorn und hinten nicht. Gut, dass man von früher viele Freunde hat. Antonia, Therese und ich, durchstreifen getrennt die Stadt um etwas aufzutreiben. Ich besuche die Gärten Richtung Rhein, wo ich diesen oder jenen treffe, der mir Obst oder Gemüse überlässt. Eine frühere Mitarbeiterin, der ich einmal geholfen habe, schenkt mir spontan drei Konserven mit grünen Bohnen. Ein Bündel Brennholz bringe ich heim wie eine Trophäe.
Mittwoch, 11. 4. schön.
Berni will sein Frühstück im Keller. Antonia ermahnt ihn, nicht so fordernd zu sein und Therese freundlich zu begegnen.
Berni, das ist also Therese. Du kennst doch Therese schon. Therese hilft Antonia. Doch er nimmt Brot und Kathreiner nur von Antonia.
Berni hilft Berni alles machen. Kleiner Idiot, ja. Hitler großer Idiot.
Er schreit es heraus, als sie beide schon fort sind.
Kein Geschützdonner in der Nacht. Jedoch unablässig Nachschub, so dass das Haus erzittert. Maler K. bringt am Rheinhotel in sechs Meter Höhe eine riesige Schrift an: Master of Military Government Training Center. Als das Schild hängt, wird Herrn Dreesen erklärt, er könne doch wieder einziehen. Aber für wie lange? Die Sperre am Parkhotel ist wieder beseitigt. Bei herrlichem Wetter spaziere ich am Nachmittag über die Landstraße nach Bonn. An der Post werden amerikanische Briefe auf große Kastenwagen geladen. Bonn ist im Vergleich zu Godesberg tot. In den Ruinen ist kaum ein Mensch. Soweit noch Häuser stehen, sind sie von Amerikanern besetzt. Bei Erlenbach ist niemand anwesend. Die Wohnung ist bis auf einige Möbelstücke geräumt. Scheiben sind zersprungen. Wind bewegt graue Gardinen. An den Wänden hängen noch Bilder. Ein Familienfoto, auf denen zwölf Personen lächeln. Man weiß nicht, wer von ihnen noch lebt. Bücher sind aus den Regalen gerissen worden, sie liegen aufgehäuft in der Diele unter Staub.
Am Hochkreuz, stehen zwei Züge mit deutschen Kriegsgefangenen. Überall zischt es und dampft. Es geht ihnen soweit gut, nur das Brot sei knapp. Sie fragen, ob denn wirklich Menschen verschleppt werden, wie die Propaganda behauptet und sind erfreut zu hören, dass man die Besatzung kaum merke.
Eine Frau aus Muffendorf, die ihren Mann unerwartet unter den Gefangenen findet, bricht plötzlich zusammen und stirbt...
Erscheint lt. Verlag | 12.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
ISBN-10 | 3-7583-4684-3 / 3758346843 |
ISBN-13 | 978-3-7583-4684-2 / 9783758346842 |
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