»Tot und dennoch quicklebendig« -  Aimo Nyland

»Tot und dennoch quicklebendig« (eBook)

Es ist nicht immer so wie es scheint

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
180 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-4301-8 (ISBN)
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Wer sich auf Nylands Lebensgeschichte einlässt, erkennt, dass das auf den ersten Blick Widersprüchliche bei ihm zugleich etwas zutiefst Menschliches ist. Für den von ADHS betroffenen (Lebens-)Künstler und chronischen »Depressionar« gibt es kaum einen Mittelweg, sondern sein Leben flimmert wie Wechselstrom zwischen den Extremen. Innerlich fühlt er sich phasenweise wie tot, um dann doch wieder hemmungslos inspiriert und überwältigt zu sein von diesem ebenso wundervollen wie schrecklichen, so eintönigen wie überraschenden Leben. Aimo, der auch unter dem Pseudonym »Vierbuchstabler« agiert, erzählt von seinem lebenslangen Tanz auf dem Rand des Vulkans: von einem Leben zwischen Entmutigung und Todessehnsucht einerseits und unbändiger Begeisterungsfähigkeit andererseits. Schonungslos offen beschreibt er das Versagen von Familie und Gesellschaft im Umgang mit einem ADHSler. Die Tücke dabei ist, dass infolge seiner vier Jahrzehnte lang unentdeckten Neurodivergenz ein Tross weiterer psychischer Probleme entstand. Und dies bedeutet nicht nur eine konstante Addition von Mühsal, Konflikt und Kummer, sondern ebenso, dass seine vielschichtigen Talente für Außenstehende, aber kurioserweise auch für ihn selbst jahrelang komplett verschleiert blieben. Nyland beleuchtet authentisch, selbstironisch, mit schriftsprachlicher Fantasie und Humor sein ganz persönliches Unglück, seine Defizite und »Macken«, schlicht seine bunten Lebenskontraste. Und aus jenen erschließt sich in der Summe dann auch nachvollziehbar die Wahl des Buchtitels. Ein auch für »Normalos« bewegendes und bedeutsames Buch. Denn was unter dem Brennglas des ADHS wie ein Destillat aufscheint, offenbart vielleicht den Wahnsinn jedes Lebens, sobald man die Konvention, das Bürgerliche, die scheinbaren Sicherheiten wegsubtrahiert. Zugleich wächst das Verständnis für Menschen, deren Anderssein die Gesellschaft extrem bereichern könnte wenn es gelingt, hinter ihren fremd und manchmal plump wirkenden Verhaltensweisen, aber auch hinter ihrer oft gut gelungenen Maskerade das oftmals riesige Potenzial zu entdecken und zu fördern. Mitfühlen, schmunzeln, sich mit unsichtbaren Erkrankungen auseinandersetzen, Erkenntnis und Verständnis schaffen. Aus diesem selbstauferlegten Auftrag des Autors geht als nunmehr drittes Werk diese außergewöhnliche und lesenswerte »Diskrepanz« in Gestalt einer schicksalhaften Biografie hervor.

Aimo Nyland alias Vierbuchstabler ist schon über 4 Jahrzehnte ein kreativer Freak, »Dopadürrling« und mental selten lahm. Vielmehr lebhaftungeduldiger Clown, wenngleich distanziert, ab und zu sehr produktiv, fantasiereich, direkt, grenzwertig naiv, durchaus keck und auch mal jeck. Seriosität und Stil findet man eher in seiner feminin-besseren Hälfte. In ihm selbst nur, wenn konkret Notwendigkeit besteht. Er lebt eher zurückgezogen im nordöstlichen Berliner Stadtrand mit Frau und Katz´ und widmet sich nach vielen unschönen Fehlversuchen im gesellschaftlich-diktierenden Korsett nun seinen lang vergrabenen, künstlerischen Begabungen und Interessen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis er seinen Platz im System fand und damit »d´accord« ging. Aber mit seinem Buchdebüt »Skurrilchaotische Existenz ohne Effizienz« und einer neuen Einstellung läutete er 2020 den vielversprechenden Start ein, seine kreativen Energien und Synästhesien endlich in die richtigen Bahnen zu lenken und der Erfolg hat Bestand. Denn mittlerweile bringt er mit Stolz sein drittes Buch heraus. Und es ist natürlich - wie die zwei Bücher zuvor ebenso schon, wieder einmal ein absolut außergewöhnliches Machwerk jenseits des »neurotypischen« Standards! Der Vierbuchstabler - eine skurrilchaotische Essenz trifft Eloquenz und ergibt die Tatsache, sich bei aller Ernsthaftigkeit dennoch nicht allzu ernst zu nehmen. Ein Lebensmotto, welches dem Autor sein Leben lang schon anhaftet wie eine Klette. Nyland wäre aber nicht Nyland, würde er aus eigentlich konträren Attributen nicht doch eine gelungene Fusion erschaffen: seine ernsthaften Memoiren, kombiniert mit kapriziösem Humor und gar einem Appell an die Gesellschaft. Voila! »Tot und dennoch quicklebendig« Ein interessanter Kontrast, der aber keineswegs verwirrt, sondern Spaß macht und zum Nachdenken und Mitfühlen anregt! If there´s one thing that truly rocks, then the fact of being a human paradox!

Reflexion des Seins und ein Erklärungsversuch


Sobald irgendetwas abseits der Norm stattfindet, ist man ja meist versucht, dafür Erklärungen zu finden, denn Norm entsteht schlicht aus dem durchschnittlichen Verhalten der Mehrheit. Ich möchte mal versuchen, meinen durch das ADHS bedingten psychischen Zustand zu erklären, sodass er auch für psychisch gesunde Menschen bestenfalls ein wenig nachzuvollziehen ist. Und zwar als ganz eigenen, unabhängigen Teil meiner bisher geschilderten Biografie.

Erst einmal erscheint es natürlich logisch, dass vieles aus der Kindheit und einer schwierigen Familiendynamik stammt. Und wenn ihr meine Schilderungen bezüglich meines Elternhauses bereits gelesen habt, dann habt ihr eine erste Ahnung, warum ich in diesem Buch generell von »tot« (hinsichtlich der Seele) spreche. Wenn man zum einen erfolglos und unter permanenter Unterdrückung seiner Wünsche und Bedürfnisse jahrzehntelang auf der Suche nach sich selbst ist, und man zum anderen sein Lebenselexier Musik an eine Erkrankung verliert, potenziert dies den »Seelentod« natürlich auf ein eklatantes Ausmaß.

Dass ich heute nur noch eine leere Hülle meiner Selbst bin, daran hat aber vor allem das ADHS einen erheblichen Anteil. Es mag für viele vielleicht lächerlich klingen, dass eine »einfache« Aufmerksamkeitsdefizit-Hyp(er/o)aktivitätsstörung, wie sie ja im Volksmund, aber auch leider offiziell nach Vorgabe der Weltgesundheitsorganisation genannt wird, Anteil an der Zerstörung eines menschlichen Lebens haben kann. Aber zweifellos ist es so. Denn das, was die Gesellschaft über dieses Defizit weiß, ist nur ein sehr kleiner Teil. Es sind quasi immer dieselben Begriffe, die in Bezug auf ADHS fallen: fehlende Aufmerksamkeit, fehlende Konzentration, Hyperaktivität, Impulsivität, Chaos, Wut … Bähm! Das reicht für die meisten aus, um sich ein Bild zu machen – natürlich ein völlig unzureichendes, welches nicht selten mit einer allgemeinen Anti-Haltung einhergeht nach dem Motto: »Der is' mir zu anstrengend!«. Doch der Rattenschwanz dieses Handicaps ist lang und zieht weite Kreise.

Damit ihr Leser einen Einblick in die spontanen und direkten Gedanken eines Betroffenen bekommt, lasse ich selbigen einfach mal freien Lauf:

Seit drei Jahrzehnten herrscht tief in mir ein einziges dominierendes Gefühl: für nichts und niemanden zu genügen, irgendwie unterentwickelt (das ist ja sogar biologischer Fakt), falsch, zu kompliziert und chancenlos ( scheinbar auf allen Ebenen) zu sein.

Man kann verflucht nochmal niemandem erklären, wie sich so etwas anfühlt, es gibt keine passenden Worte dafür. Abgesehen davon würde so ein Gefühl auch eh keiner verstehen, der es nicht selbst kennt. Keine Mutter, kein Freund, kein Therapeut oder Arzt, und auch kein Gott. Einfach niemand. Nie.

Impulsivität, Sprunghaftigkeit, Misserfolge, Chaos, Selbstzweifel, massive Trotteligkeit, Ängste oder Naivität – das sind alles Dinge, die natürlich sehr unschön sind, mit denen man aber mit Training und Disziplin durchaus noch irgendwie umgehen kann. Aber ein erdrückendes Gefühl der Unzugehörigkeit in sich zu tragen und das niemandem begreiflich machen zu können, sondern es stattdessen dauerhaft zu verstecken, das ist für mich das Allerschlimmste an meinem Handicap. Diese Gefühle hinzunehmen, also mehr wie ein dienender Roboter zu funktionieren als wie ein Mensch mit Bedürfnissen, Träumen und einer Seele – das ist es, was mich psychisch so chronisch krank und vielleicht ein Stück weit auch »verrückt« gemacht hat, ohne jegliche Hoffnung, jemals ein »normal funktionierender« Mensch zu werden.

Hinzu kommt die Überanpassung, um überhaupt ein irgendwie angenommener Teil dieser Gesellschaft sein zu können.

Anpassung, Anpassung, Anpassung – ein Leben lang. Sie führt irgendwann dazu, dass man es sogar schafft, selbst schwere Depressionen über Jahre hinweg zu verbergen, Leid wegzulächeln und jegliches Übel fast schon zwanghaft zu verharmlosen.

Ich will fast sagen, man verliert irgendwann auch die Fähigkeit, seine Traurigkeit, Not und seinen Kummer überhaupt noch zuzulassen. Speziell natürlich, wenn man so erzogen wurde, dass man nur dann ein vollkommener Mensch sei, wenn man tadellos funktioniere. Man fühlt sich wie eine hübsche, aber triviale Filmkulisse aus Pappe: nach außen repräsentativ mit Haltung, Charme, Harmonie und zweckmäßiger Funktion. Dahinter aber ist das Nichts. Die Leere. Die Kälte. Die Langeweile. Die Nutzlosigkeit. Die Einsamkeit und der Schmerz.

Und so sehr man anderen gern auch mal zeigen würde, dass es hinter der Kulisse eben gänzlich anders aussieht als wie sie es von außen wahrnehmen – es geht nicht! Es geht nicht, weil ein automatisiertes Anpassungsprogramm viele von uns Betroffenen zu einem elendigen, nahezu emotionslosen Etwas macht, das kurioserweise scheinbar perfekt funktioniert, obwohl alles gespielt ist. Und zwar so gut, dass man bekloppterweise fast schon selbst glaubt, man wäre gesund.

Ich bin quasi ein humanes Paradoxon, ein Funktionieren ohne Funktion. Ziemlich crazy und auch bewundernswert auf der einen Seite, aber eben auch ziemlich unbequem, ermüdend und farb- sowie freudlos auf der anderen. Für mich fühlt sich das fast schon an wie eine Art hochstaplerische, multiple Persönlichkeit. Die böse und leicht naive Seite wirkt bestimmend und gibt Gefühle und Handeln stets vor. Die andere, hochintelligente und gute führt eigentlich nur aus, um andere unter »Vorspiegelung falscher Tatsachen« zu täuschen.

Vielleicht ist das für Außenstehende eine etwas wirre und wenig greifbare Analyse eines verkorksten ADHS-Kopfs mit beeindruckendem »Bla-Bla-Charakter«. Hätte ich ein neurotypisches Gehirn, hätte ich es vermutlich einfach wie folgt erklärt: »Viele ADHSler sind einfach die besseren Schauspieler!«

Ich möchte mich aber nochmals bemühen und eine vielleicht noch etwas nachvollziehbarere Beschreibung anbieten. Ich switche hierzu einfach mal in eine gängige Erzählform und schaffe so eine hoffentlich gute Zusammenfassung davon, was mich und mein Handicap ausmacht, wie es mich einschränkt, aber auch unterstützt.

Als Kind war es mir egal, wenn andere Kinder mich doof fanden. Minutiöses Waschmaschinegucken oblag eben gänzlich nur meinem Interesse. Und das war voll in Ordnung. Erst in der Schulzeit begann ich langsam zu begreifen, dass ich anders ticke. Plötzlich kam es nämlich weniger auf das Ausleben von absurden Hirngespinsten, Quatsch und Remmidemmi an, sondern nur noch auf eines: Leistung! Auf Lernen, Aufmerksamkeit, das zügige Verstehen von Zusammenhängen, das Treffen von Entscheidungen. All das gelang mir einfach nicht. Mir wurde zu dieser Zeit dann zum ersten Mal bewusst, dass ich nicht ins System passte und mir auch keiner helfen konnte. Denn die Anforderungen da draußen fühlten sich stets komisch an und passten

a) nicht zu meinen Ansprüchen und

b) nicht zu meinem Leistungsvermögen.

Ich fühlte mich total alleingelassen und haderte mit nahezu jedem Menschen und jeder Situation.

Die einzige Frage, die stetig in meinem Kopf kreiste, war: Warum konnten die anderen immer alles besser als ich? Egal, was ich auch anfing oder anfasste, ich scheiterte. Es fühlte sich an wie die Hölle auf Erden. Das Krankheitsbild ADHS war in den Achtzigerjahren längst nicht so präsent wie heute. Zudem wäre man nie auf die Idee gekommen, einem Kind eine Diagnose aufzudrücken, nur weil es vielleicht laut und nervig war oder einen gewissen Dauertrotz, vielleicht auch Missmut an den Tag legte. Einmal nahm mich meine Mutter mit zu einem Psychologen. Er sagte ihr, sie müsse sich keine großen Sorgen machen, die Pädagogen in Kita und Schule wüssten mit kleinen Außenseitern oder leichten Abnormitäten im Verhalten umzugehen.

Letztlich vertraute sie dieser »professionellen« Meinung. Und so blieb dieser Besuch beim Psychologen auch der einzige, und mein Schicksal von jahrzehntelangem Trial and Error sowie zermürbenden Depressionen war besiegelt.

Nach der Schule brach ich, wie schon geschrieben, mehrere Ausbildungen ab und lebte gut zwanzig Jahre lang sehr zurückgezogen, inklusive permanenter Zukunftsängste und Selbstzweifel hoch zehn.

Eine verlorene Zeit, die mich seelisch quasi unumkehrbar zerstörte. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Nicht nur darauf, dass sich die Welt irgendwann für mich öffnen würde und ich ein anständiges, wertgeschätztes und glückliches Leben führen könnte, sondern auch die Hoffnung darauf, irgendwann mal ein »richtiger« Mensch und kein erschöpfter »UHU« (Undefinierter, humaner Umweltverpeiler) zu sein.

Als ich mit Ende dreißig im Internet auf die Diagnose ADHS stieß, fühlte sich das zunächst an wie ein Märchen. Kurz danach allerdings wie ein Hauptgewinn. Ich freute mich wahnsinnig, als Google mir Symptome und Verhaltensweisen ausspuckte, die so verdammt...

Erscheint lt. Verlag 5.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7583-4301-1 / 3758343011
ISBN-13 978-3-7583-4301-8 / 9783758343018
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