Oktoberrevolution 1967 (eBook)

Science-Fiction-Erzählungen
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2024 | 1. Auflage
270 Seiten
Memoranda Verlag
978-3-948616-91-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Oktoberrevolution 1967 -  Kir Bulytschow
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Vom Autor vorsichtshalber vernichtet, aber nach Jahrzehnten als Abschrift im Nachlass eines Freundes wieder aufgetaucht: Die aberwitzige Titelnovelle aus dem Jahr 1968 schildert den erstaunlichen Verlauf einer fiktiven Re-Inszenierung der Erstürmung des Winterpalais anlässlich des 50. Jahrestages. »Oktoberrevolution 1967« und acht weitere meisterhafte Science-Fiction- und Phantastik-Erzählungen Kir Bulytschows aus der Zeit bis 1977 - alle in deutscher Erstveröffentlichung - machen den vorliegenden Band zu einer wahren Freude für Freunde einer SF-Literatur, in der das Fühlen, das Denken und die Motivation der in besondere Umstände geratenen normalen Menschen nicht vernachlässigt wird.

Kir Bulytschow (1934-2003) war einer der besten und beliebtesten sowjetischen und russischen Science-Fiction-Autoren. Bis zu seinem Tode sind von Bulytschow - Nachauflagen und Übersetzungen mitgerechnet - mehr als 550 belletristische Bücher in 24 Sprachen erschienen. Auf dem Gebiet der Science Fiction hat sich Bulytschow als Verfasser humoristischer Erzählungen etabliert.

Kir Bulytschow (1934–2003) war einer der besten und beliebtesten sowjetischen und russischen Science-Fiction-Autoren. Bis zu seinem Tode sind von Bulytschow – Nachauflagen und Übersetzungen mitgerechnet – mehr als 550 belletristische Bücher in 24 Sprachen erschienen. Auf dem Gebiet der Science Fiction hat sich Bulytschow als Verfasser humoristischer Erzählungen etabliert.

2

Bereits mehrere Wochen lang war das Stadtbezirkskomitee von einer stumpfsinnigen Vorfeiertagsstimmung erfasst, derart unwirklich und andauernd, dass sie inzwischen zur Norm geworden war und eine Rückkehr zum normalen Leben fast unmöglich schien. Und sie äußerte sich seltsamerweise bei fast allen Mitarbeitern des Stadtbezirkskomitees auf ein und dieselbe Art. »Wenn das hier vorbei ist«, sagten sie im engen Kreis, »dann gehe ich in Urlaub. Ich lasse mich vierundzwanzig Tage in ­Sotschi nieder und spiele Préference.«

Aber noch war nicht die Zeit für Préference.

Kolobok bemerkte den Milizionär an der Treppe nicht sofort. Der Milizionär war vollständig durch einen Berg von Blech-­ und Sperrholzschildern mit Firmennamen und Reklame verdeckt, die, so sollte man meinen, im Stadtbezirkskomitee fehl am Platze waren.

»Zu wem wollen Sie?«, erklang eine Stimme hinter einer orangefarbenen Tafel mit der Aufschrift »Schustow-­Kognak«.

»Zu Gruschew«, antwortete Kolobok und holte seinen Parteiausweis hervor.

»Den habe ich heute eigentlich noch gar nicht gesehen«, sagte der Sergeant, während er einen Aushang mit der Aufschrift »Wirtshaus« an die Wand schob. »Das haben sie gerade hier abgeladen, aber keiner kümmert sich ums Anbringen. Dieses hier«, er zeigte auf »Wirtshaus«, »soll über unserer Tür hängen. Ich habe schon gesagt, dass mir das nicht gefällt.«

»Unsolide«, stimmte Kolobok zu. »Haben die denn nichts anderes gefunden?«

»Der Chefarchitekt hat uns das eingebrockt«, sagte der Sergeant. »Er hat in einem alten Plan nachgeschaut. Und da hat sich gezeigt, dass es so der historischen Wahrheit entspricht.«

Zwei Instrukteure der Industrieabteilung kamen gebeugt unter der Last eines vergoldeten doppelköpfigen Adlers die Treppe herunter.

Die Instrukteure drehten ihn hochkant, wie einen Flügel, und versuchten ungeschickt, ihn durch die Tür zu bringen. Der Sergeant vergaß Kolobok und eilte mit dem Ruf »Links! Links! Links!« den Instrukteuren zu Hilfe.

Kolobok stieg in den ersten Stock hinauf. Instinktiv drückte er sich mit dem Rücken an die Wand, als ihm gemessenen Schrittes ein großer Mann entgegen kam, der mit schwarzen Adlern geschmückte Epauletten trug. Beim Anblick des beiseite gesprungenen Kolobok seufzte der Mann, zog seinen Backenbart teils nach links und teils nach rechts weg, und Kolobok erkannte den Dritten Sekretär.

»Ich probiere, wie es sich anfühlt«, sagte der Sekretär. »Du hast mich nicht erkannt?«

»Nein. Sie waren sehr überzeugend. Wessen Uniform ist das?«

»Ich bin noch nicht eingeteilt. Aber ich gehe mal die Flottenuniformen durch. Ich denke, ich kriege eine Einheit Seekadetten. Willst du zu Gruschew? Er empfängt nicht. Ist beschäf­tigt.«

»Ich versuche es mal.«

Die Tür zum Arbeitszimmer des Ersten Sekretärs stand offen. Tabakqualm strömte heraus und sammelte sich im Vorzimmer. Kolobok trat ins Arbeitszimmer und schaute sich etwa eine Minute angestrengt um, um herauszufinden, wo in dem hellblauen Dunst sich denn der Genosse Gruschew befand.

Schließlich erblickte er das Grün der Tischdecke des Sekretärs und begann sich in diese Richtung voranzutasten. Im Nebel über dem Tisch bewegte sich die kräftige Gestalt des Sekretärs hin und her. Der Sekretär trug ein gestreiftes Matrosenhemd und eine Matrosenmütze, auf der in goldenen Lettern der Name »Aurora« prangte.

Ein Glückspilz, dachte Kolobok. Er wird sich im Epizentrum der Ereignisse befinden. Zwei ältere Gentlemen mit ungeschickt angeklebten Spitzbärten und identischen schwarzen Westen breiteten rhythmisch die Arme aus in dem Bemühen, den Matrosen zur Unterschrift auf im Qualm schwer erkennbaren Papieren zu bewegen.

Der Matrose telefonierte währenddessen an zwei Telefonen gleichzeitig, deckte von Zeit zu Zeit eine Sprechmuschel ab und erteilte irgendwelche Befehle an einen Rotarmisten mit Budjonny-­Mütze mit dunkelblauem Stern.

Man muss darauf hinweisen, dass sich da ein Fehler einge­­schlichen hat, dachte Kolobok. 1917 gab es noch keine Budjonny-­Mützen. Es gab noch nicht einmal Budjonny, selbst bei den Roten. Der Westen wird sich amüsieren.

Die letzten Worte hatte er unbeabsichtigt laut ausgesprochen, und sie ertönten in einem der raren Momente, in dem im Raum einmal kurzzeitig Stille eingetreten war.

»Was?«, fragte der Matrose Gruschew, während er sich erhob, über den Tisch beugte und dabei die Telefonhörer auf die grüne Wolldecke drückte. »Wer sagt da was über den Westen?«

Dann erkannte Gruschew Kolobok aus der Ermitage. »Ach, grüß dich!«, sagte er. »Was hast du da vom Westen schwadroniert?«

Kolobok dachte bei sich, dass es für Gruschew nicht leicht sein würde, sich in einen einfachen Mann, einen Seewolf, hineinzuversetzen.

»Guten Tag, Genosse Gruschew«, antwortete Kolobok. »Wa­rum haben Sie dem Kämpfer eine Budjonny-­Mütze aufgesetzt? Das ist doch eine Erfindung der 1. Reiterarmee, sozusagen in den Flammen des Bürgerkriegs.«

»Dummkopf«, sagte Gruschew. »Landratte. Glaubst du, wir haben keine Konsultanten? Das ist doch Tematjan. Er wird an der Theateraufführung nach unserem Sieg teilnehmen. Hast du etwa Fünfzig Jahre an einem Abend nicht gelesen? Da haben wir sowohl die rechten Abweichler dabei als auch die Erbauer des Weißmeer-­Ostsee-­Kanals. Warum bist du gekommen?«

Nachdem er das gefragt hatte, führte Gruschew, ohne auf die Antwort zu warten, die Telefonhörer an die Ohren und wehrte mit den Ellenbogen die beiden Gentlemen in den Westen ab.

Kolobok nahm sich einen freien Stuhl und setzte sich.

»Ich bin wegen der Miliz da«, sagte er.

Gruschew hatte nicht zugehört. Kolobok beschloss zu warten.

»Petropawlowka!«, schrie der Sekretär ins Telefon. »Petro­pawlowka! Gleich werden die politischen Gefangenen zu dir gebracht! Nicht doch, keine antisowjetischen! Unsere Leute, Proletariat! Aus der Verwaltung der Jagdwirtschaft und der Fischereiaufsicht. Verteile sie auf die Zellen … Nun warte doch! (Ins zweite Telefon: »Das ist nicht für dich …«) Also, Bettzeug händigst du nicht aus. Die Genossen sind vorgewarnt. Sie werden zwei Tage auf der harten Pritsche schlafen. So wie ihre Großväter litten … Litten, sage ich! Verpflegung? Verpflegung gibt es. Aus der Selbstbedienungsgaststätte ›Weiße Nächte‹. Die wissen Bescheid. Nein, sperr sie ein, sperr sie ein, damit keiner etwas zum Herummäkeln findet. Die historische Wahrhaftigkeit steht an erster Stelle. Wärter sind unterwegs! Bis dahin setz die Museumswächter ein. Wie – die wollen nicht? Versprich ihnen Überstundenvergütung! Wiederhören!«

Gruschew ließ den Telefonhörer auf die Gabel fallen und schrie in den zweiten: »Bist du das, Kogan? Kogan, hör zu!«

Das erste Telefon klingelte. Gruschew nahm den Hörer ab, bellte: »Gleich!«, und warf ihn fort, als ob er irrtümlich nach einer Schlange gegriffen hätte.

Kolobok zog den verwaisten Hörer zu sich herauf.

»Ist dort das Stadtbezirkskomitee?«, fragte eine bebende Frauenstimme.

»Am Apparat der ehrenamtliche Instrukteur Kolobok.«

»Hören Sie, Genosse ehrenamtlicher Instrukteur«, zwitscherte die Frauenstimme. »Ist der blaue Streifen oben oder unten?«

»Was für ein Streifen?«

»Auf der russischen Nationalflagge. Ich bin Smirnizkaja. Aus dem Kindergarten Nr. 30. Wir machen Kokarden für die Bourgeoisie.«

»Moment. Vielleicht kann Genosse Gruschew Ihnen da helfen.«

Kolobok übergab den Hörer an den Matrosen. Weiß der Teufel, dachte er, ich habe keine Ahnung, wie die Flagge aussehen muss. Ich bin irgendwie daran gewöhnt, dass sie rot ist.

»Einen Augenblick«, sagte Gruschew zum Hörer und schrie dann weiter in den anderen: »Also, Kogan, hör auf, hier so eine Welle zu machen! Dein ›Bund‹ kommt mit einem Raum aus. Soll ich dir etwa das Taurische Palais geben, oder was? Ihr habt euch doch nicht einmal aktiv beteiligt. Marx? Was hat Marx damit zu tun? Weißt du was: Ende der Veranstaltung. Dafür wirst du dich vor der Partei verantworten müssen. Jawohl, wegen Demagogie. Marx hat keine nationale Zugehörigkeit. Er ist der große Lehrer der Arbeiterklasse, merk dir das. Und überhaupt, ich werde dir jetzt ein paar ukrainische Genossen schicken, sonst versammelst du, so habe ich den Eindruck, nur Juden in deinem ›Bund‹. Du willst keine Ukrainer? Dann nimm Armenier auf. Die sind auch brünett.«

»Junge Frau!« Gruschew hatte den anderen Hörer ergriffen. »Was gibt es? Blau, meinst du? Schau doch in der Enzyklopädie nach. In der Großen. Hast du nicht? Dann ruf bei den Historikern an. Was? Weißt du, Smirnizkaja, grundsätzliche Bedeutung hat das nicht. Wer wird das unterscheiden können, was oben und was unten ist? Im Fernsehen ist sowieso alles grau.«

»Du bist immer noch hier, Kolobok?«, fragte Gruschew, während er den Hörer auflegte. »Lass uns auf den Flur gehen, ich will mal kurz verschnaufen.«

Sie traten in den Flur hinaus. Die Gentlemen mit den an­­geklebten Bärten wollten ihnen nacheilen, verloren sie jedoch in dem Qualm aus den Augen.

»Hierher«, sagte Gruschew. »Sonst finden sie uns.«

Sie gingen in die Herrentoilette. Gruschew öffnete den kleinen Lüftungsflügel im oberen Teil des Fensters. Sofort wehte feuchter Herbstwind herein. Hinter dem Fenster, dessen untere Hälfte mit weißer Farbe gestrichen war, hing ein grauer, trauriger...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Reihe/Serie Memoranda
Übersetzer Ivo Gloss
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Alternativwelten • Ermitage • Fachidiotismus • Gedankenmanipulation • Leningrad • Oktoberrevolution • Parallelwelten • Petrograd • Phantastik • Puschkin • Rollenspiel • Russland • Sankt Petersburg • Satire • Science Fiction • Sowjetunion • Stalinzeit • Strugatzki • Winterpalais • Zeitreise
ISBN-10 3-948616-91-4 / 3948616914
ISBN-13 978-3-948616-91-5 / 9783948616915
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