Plötzlich kehrt Stille ein, Band 1 -  Rainer Popp

Plötzlich kehrt Stille ein, Band 1 (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
447 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7584-6306-8 (ISBN)
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Zwei Männer und deren Lebensläufe, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, durchziehen den ersten Band dieses dramatischen und erotisch aufreizenden Romans - der eine wird, erst wenige Stunden alt, als Frühgeburt weggeworfen wie ein Sack Müll zwischen die vereisten Schienenstränge eines Kleinstadt-Bahnhofs in Süddeutschland; der andere wächst als einziger Sohn in der Obhut einer wohlhabenden Berliner Familie auf: geliebt, verwöhnt und umsorgt von einem Kindermädchen aus Kenia. Der Findeljunge jedoch, der verbringt seine Jahre bis zur Pubertät in verschiedenen Waisenhäusern, in denen er mal von evangelischen Erziehern, mal von katholischen Nonnen geschlagen, mit Essensentzug bestraft, in Dunkelkammern gesperrt, tagtäglich in seiner Würde erniedrigt und sexuell ausgebeutet wird. Eine zufällige Begegnung jedoch besiegelt ihr beider Schicksal.

Rainer Popp ist ein deutscher Schriftsteller, Journalist und TV-Manager.

1. Kapitel


 

Ohne das Wimmern, das aus der Tiefe kommt, hätte es auch ein Laib Brot sein können oder der Kadaver einer Katze oder ein Klumpen Aas. Aber es ist ein Säugling; eingewickelt in eine Mülltüte und eingerollt in Zeitungspapier zu einem Bündel und verschnürt mit dem Stück blauer Plastik-Schnur einer Wäscheleine. Er liegt, erst wenige Stunden alt und nicht einmal 2000 Gramm schwer, im verschneiten Schotterbett des Bahnhofs der Gemarkung Karlsburg - fast zwei Meter unterhalb der Bahnsteigkante und nur eine Handbreite neben dem vereisten Eisenstrang der Schienen.

Das Gesicht des Babys ist bis zum Mund freigelegt, und auch die Nasenspitze, die lugt hervor. Im gelben Schein der Dachlampen sind seine Augen zu erkennen; sie sind geöffnet und sie schließen sich wieder und sie blinzeln und sie ziehen sich zusammen und sie weiten sich und sie flimmern und sie flackern und sie zucken immerfort und sie bleiben für Sekunden zu vor panischer Angst.

Ein sehr später Abend im Dezember. Die Uhr zeigt auf wenige Minuten nach Mitternacht. Der 25. Tag des Monats hat gerade begonnen. Es ist kalt; minus sechs Grad unter Null. Ein Wind, wie aus vereisten Kieselsteinen gefertigt, fegt und heult über den Bahnsteig. Schneefahnen wirbeln auf und schrauben sich hoch zu gedrehten Schwüngen.

Drei Fahrgäste, zwei Männer und eine Frau, warten auf ihren Zug; einer, der auf Gleis 3, der rast heran mit hoher Geschwindigkeit, fährt aber durch. Es sind mehrere Dutzend Kesselwagen von einem halben Kilometer Länge. Funken sprühen auf. Es dröhnt und es rasselt und es röhrt und es quietscht und es hört sich an wie der Gefangenen-Chor des Teufels aus Sterbensgebrüll und Schmerzensschreien und es mutet an wie bewusst in kauf genommenes Gottesurteil über Leben und Tod.

Der Lärm ist ohrenbetäubend, der Geruch übel; eine Mischung aus Chlorwasserstoff und Kohle. So mag es zugehen zur Begrüßung der für alle Ewigkeit verdammten Logiergäste am Eingangstor des Fegefeuers.

Der starke Luftzug, den die Radreifen der Lokomotive und der Waggons erzeugen, der verfängt sich in dem runden Packen Papier, dreht ihn mehrmals um, rollt ihn hin und her und schüttelt ihn immer wieder durch. Jeden Moment droht das Neugeborene unter die Räder zu geraten und von den tonnenschweren Gewichten zerquetscht zu werden. Zwei weitere Eisenbahnen, die dicht nacheinander heranbrausen, halten ebenfalls nicht an; die dritte jedoch, die stoppt auf der Höhe des Prellbocks auf einem Nebengleis.

Niemand steigt aus, zwei Fahrgäste steigen ein und nehmen Platz im Abteil und fahren nur ein paar Dutzend Sekunden später davon; die dritte Person bleibt stehen, schaut nach links und blickt nach rechts, schlägt die Füße mehrfach aneinander, schiebt den Mantelkragen höher, klatscht in die Hände. Es ist ein Mann. Er setzt ein paar Schritte nach links und dann wieder nach rechts. Er geht zwei Meter geradeaus. Er bleibt stehen.

Auf einmal, so als hätte ein Dirigent sein Handzeichen gesetzt für den brachialen Schlussakkord des Konzerts, verebbt der Sturm. Und es hört für eine kurze Weile zu schneien auf. Und plötzlich und unerwartet und nicht vorhersehbar kehrt Stille ein. Für einige Sekunden ist kein Laut, kein Geräusch ist zu hören. Die Mäuse verharren unter der Schneedecke in ihrem Lauf, und der Lärm der Kfz-Motoren verstummt in Echo der Böen. Es ist so still, als hielte die Welt den Atem an. Das Licht des Halbmonds hellt sich auf für wenige Momente. Und die paar Sterne, die zu sehen sind am schwarzen Himmel, die scheinen magisch zu blinken.

Der Mann verharrt, beugt sich nach vorn. Er zögert, sieht sich um. Er geht in die Knie. Er lauscht und senkt seinen Kopf. Er dreht seinen Körper und lässt sich, in dem er sich abstützt an der Kante des Bahnsteigs, mit der Brust und dem Bauch langsam ins Gleisbett herabsinken. Er bückt sich, greift nach dem Bündel zu seinen Füßen, hebt es auf, reckt seine Arme hoch, legt das Neugeborene ab über sich auf den Steinplatten. Er hangelt sich hoch, nimmt das Knäuel mit dem Baby an sich, öffnet seinen Mantel, schiebt es darunter, um es zu wärmen und läuft dem Ausgang zu. Er strauchelt, rutscht aus, fällt hin. Er steht wieder auf und rennt zu seinem Auto, das neben dem Bahnhofsgebäude geparkt ist. Er steigt ein, legt keinen Sicherheitsgurt um.

Der einen Tag alte Säugling liegt auf seiner Brust. Er steuert das Lenkrad nur mit einer Hand; mit der anderen hält er ihn fest an sich gepresst. Und in diesem Moment fallen ihm die ersten Textzeilen des Goethe-Gedichts vom Erlkönig ein, die er sich zuflüstert: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hält den Knaben wohl in dem Arm. Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm …«

Er haucht dem Baby von oben herab mehrmals seinen Atem zu. Es hat die Augen wieder geöffnet. Seine Sicht ist geradeaus gerichtet durch die beschlagene Windschutzscheibe, und es sieht, ohne sich dessen gewahr zu werden, mit getrübter Sicht wie verschwommen Schwärme weißer Flocken herumwirbeln im Licht der Scheinwerfer. Es wimmert nicht mehr. Es friert entsetzlich. Es ist nass. Es ist zum Sterben hungrig. Und es hat schmerzhaften Durst. Es ist bereits halbtot. Niemand hätte für sein Leben jetzt noch einen Cent auf den Tisch geworfen.

Das Baby, das keinen Laut mehr von sich gibt, es weiß nicht, was mit ihm gerade geschieht. Es weiß nicht, wer seine Mutter ist, die ihn am Vortag geboren hat und wer sein Vater. Es weiß nicht, wo es hingehört. Es weiß nicht, was aus ihm werden wird und was das Schicksal noch vorgesehen hat für die Zukunft. Es ist hineingeschleudert in seine Existenz wie ein Stein, der irgendwo aufschlägt in den Schneefeldern eines zugefrorenen Sees. Und es weiß nicht, wer der Fahrer ist, der das Gaspedal des Wagens bedient, in dem es durch die Nacht fährt.

Der Mercedes fährt mit hohem Tempo; trotz der glatten Straße. Der Mann, der die betagte Limousine steuert, will, so schnell wie es möglich ist bei dieser bedrohlichen Witterung, zurück fahren in das Dorf, in dem er wohnt. Er hat die Heizung ganz aufgedreht und das Gebläse ebenso. Ihm ist bewusst, dass jetzt jede halbe Minute zählt, soll der Tod noch abgewendet werden von diesem Kind in seinem Arm. Einen Arzt, den gibt es nicht in der Einöd-Gemeinde, auch keinen Pfarrer und keine Kirche und keine Polizeistation. Es stehen nur ein paar Bauernhäuser in der Ebene, drei Schober für Heu und zwei Ställe für das Vieh.

Vor dem Eingangstor seines Hauses bremst er das Auto so stark ab, dass die Räder blockieren und das Fahrzeug zu rutschen beginnt. Es stellt sich quer und bleibt dann stehen. Der Mann springt heraus und trägt das Papierknäuel mit dem Baby ins Haus und dort die Treppe hoch ins Badezimmer. Er dreht das Licht an und einen Glühfaden-Ventilator, legt das Neugeborene auf einer Kommode ab, nimmt eine Plastikschüssel und füllt sie mit warmem Wasser. Danach schneidet er die Plastiktüte auf und die Schnur des Pakets durch, wickelt die Schichten der Zeitungen ab, die mehrere hundert Kilometer entfernt in München gedruckt wurden und befreit den Säugling aus seinem durchnässten Packen Papier.

Es ist ein Junge. Seine Haut fasst sich so eisig an wie ein Ball aus gefrorenem Schnee. Er ist nass und er hat volle Windeln, die aus einem Frotteehandtuch bestehen. Sein Atem ist nur noch ein Hauch. Er beginnt wieder ganz leise zu wimmern, als er abgespült wird. Er macht die Augen auf und erkennt ein Gesicht, das sich über ihn beugt und ihn anlächelt.

»Na du … du … du Sohn von irgendjemandem … von einer unbekannten Mutter und von einem Vater, den keiner kennt … Du … du … du bist aber klein, siehst ja aus wie ein Frühchen. Sei mir herzlich willkommen in der Welt«, vernimmt er eine Stimme flüstern. »Gott sei Dank, dass ich dich Winzling gehört habe … da unten neben den Gleisen … bei dieser furchtbaren Kälte. Wer dort abgelegt wird wie Abfall und dann doch gerettet in letzter Minute, der ist auserwählt von seinem Schicksal … ja auserwählt, so kann man sagen. Du bist ein Wunder … ein großes Wunder. Dein Leben, das ist ein Wunder.«

Er fühlt das warme Wasser auf seinem Leib und er fühlt die Kälte entweichen aus ihm und er fühlt die behutsamen Berührungen einer Hand und er hört den Lauten dieser Worte zu, die an ihn gerichtet sind. »Deine Bestimmung, die hat es sehr, sehr … sehr gut gemeint mir dir. Und das hat bestimmt einen Sinn … einen wichtigen Grund. Wer weiß schon, was aus dir noch werden wird. Vielleicht musst du einen Opfergang gehen, einen mit Leid und Elend. Und du musst all das ertragen. Oder du bist ein neuer Messias … ein Heiland … eine neue Hoffnung für unsere Welt … ein wahrer Erlöser, der endlich zu uns gekommen ist …«

Und er denkt in diesem Moment nur so für sich ganz leise im Stillen und er glaubt fest daran und er wünscht es sich so sehr, dass dieses wundersame Ereignis, an dem er gerade teilnimmt und das er bezeugen kann, einen historischen Wert hat und es eines jenes vom Schicksal bestimmten Ereignisses ist, wie es in tausend Jahren nur ein- oder nur zweimal geschieht.

Der Mann, der den winzigen Buben gerade wäscht und der auf ihn einredet, ist 41 Jahre alt, unverheiratet; von Beruf Vertreter für erlesene Frucht-Konfitüren. Er ist stämmig von Statur, schwarzhaarig. Sein Gesicht ist grob geschnitten. Sein Name: Hubertus Holl.

»Du hast doch … du kleiner Spatz … hast doch stimmt einen Riesenkohldampf … und großen Durst, den hast du ganz sicher auch«, setzt er seine Ansprache fort. »Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Dich stillen mit der Brust, das geht nicht. Ich hab’ keine, die Milch gibt. Und eine Babyflasche, die hab’ ich auch nicht … Und Marmelade,...

Erscheint lt. Verlag 22.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-7584-6306-8 / 3758463068
ISBN-13 978-3-7584-6306-8 / 9783758463068
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