Aufbruch und Verwandlung (eBook)

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2024 | 1. Auflage
376 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-9471-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aufbruch und Verwandlung -  Martina Scheible,  Samira Belmonte,  Claudia Liersch
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Das Thema "Aufbruch und Verwandlung" weckt den Gedanken an frühlingshaft sprießendes Grün und biographische Neuanfänge persönlicher oder beruflicher Art. Doch die Kehrseite dieser heiteren Bilder liegt in dem Wort "Bruch", das untrennbar mit dem "Aufbruch" verbunden ist. Menschliche Verluste, zerstörte Dinge, politische Umwälzungen kommen in den Blick, rufen Angst und Traurigkeit hervor. Wie diese beiden Seiten des Themas miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden können, erkunden die Geschichten und Gedichte unseres Bandes auf ganz unterschiedliche Weise.

Leitung von Senioren-Kursen zur Neueren deutschen Literatur und zum Kreativen Schreiben im Rahmen der Universität des Dritten Lebensalters Göttingen (UDL), Veröffentlichung einer Anthologie mit Texten des 18. Jahrhunderts im Universitätsverlag Göttingen: Das Universitätsmamsellen-Lesebuch. Fünf gelehrte Frauenzimmer, vorgestellt in eigenen Werken. Das Buch entstand unter Mitarbeit einer Seniorengruppe als honorarfreies Projekt im Rahmen der UDL.

Lore I. Lehmann

Nora lügt doch nicht


Seit ihrem 81. Geburtstag hatte sie mehrfach darum gebeten, ihr nur noch solche Geschenke mitzubringen, die sich essen oder trinken lassen. Vor allem keine Topfpflanzen und keine Bücher. Flapsig hatte sie in diesem Jahr, vor ihrem vierundachtzigsten, die matte Witzelei hinzugefügt, dass sie sowieso bereits ein Zweitbuch besäße. Doch es hatte wieder nichts genützt.

Am Abend nach dem Kaffeeklatsch betrachtete sie den Stapel der vier neuen Bücher – eins interessanter als das andere – , die aber wohl erst einmal auf der Halde der noch ungelesenen Bücher landen mussten. In einer Mischung aus Neugier und gespielter Resignation – mit den dazugehörigen Seufzern – entschied sie, sich, wenigstens schon mal den dünnsten Band anzusehen. Das war „Die Scham“ von Annie Ernaux, nur 110 Seiten.

Der Titel war ihr allerdings unangenehm. Er versprach nichts Leichtes, Witziges. Hoffentlich nichts über sexuellen Missbrauch. Oder Emanzipatorisches über den weiblichen Körper. Über diese Themen hatte sie gelesen und diskutiert – vorläufig wollte sie das aber nicht schon wieder. Doch bereits der Klappentext machte ihr klar, dass es um völlig Anderes ging: Eine Zwölfjährige erlebt, wie ihr Vater eines Tages im Zorn seine Frau, ihre Mutter, mit einem Beil bedroht. Für das Mädchen nicht nur ein schreckliches Familiendrama, sondern auch ein starkes Zeichen dafür, dass ihre Familie hoffnungslos dem Milieu der Unterschicht verhaftet ist, dem sie unbedingt entrinnen möchte. Und ihre Scham darüber begleitet die Protagonistin bis ins Alter. So ähnlich, in etwa.

Die Beschenkte hielt das Buch in den Händen, und doch mochte sie es nicht durchblättern und nicht anfangen, darin zu lesen. Eine Unruhe hatte sie erfasst. Nein, etwas Vergleichbares wie diesem Mädchen war ihr nie passiert. Kein Gewaltexzess zwischen ihren Eltern, kaum demütigende Erfahrungen durch missglückte Anpassung an Standards einer anderen Schicht. Und ein quälendes Familiengeheimnis sowieso nicht. Oder?

Allerdings hatte es wohl etwas gegeben, dessen sie sich als Kind geschämt hatte. Aber sie war noch recht klein gewesen, und nie hatte jemand davon erfahren. Auch als Erwachsene hatte sie bisher nie darüber gesprochen, das fiel ihr jetzt erst auf. Erstaunlich, sehr erstaunlich, denn eigentlich hatte es sich doch wohl gar nicht um wirklich Schlimmes gehandelt. Ein kindliches Fehlverhalten, ein ziemlich normales.

Erstaunlich aber vor allem, wie mulmig ihr jetzt zumute war! Es war um eine Waschschüssel aus Porzellan gegangen, daran erinnerte sie sich, allerdings auch um Schuld und um Scham wegen dieser Schuld. Anscheinend eine jahrzehntelange Scham für etwas eher Harmloses – konnte das sein?

Der Versuch einer Erinnerung

Anfang Juni 1945, gleich nach Kriegsende, findet Noras Vater eine kleine Wohnung in Hannover für seine Familie. Zwar noch ohne Glasscheiben in den Fenstern, im Übrigen jedoch unbeschädigt. Aus der zerbombten alten Wohnung hat er die Schlafzimmermöbel retten können, aber sonst nichts. In dieser Küche hier steht anfangs nur ein Herd, ein Kohleherd mit einer praktischen Reling drumherum, auf der man nasse Tücher zum Trocknen aufhängen kann. Auf einen alten Kinderwagen wird ein Brett montiert, als Tisch und Arbeitsfläche. Von Verwandten und Bekannten kommen einige gebrauchte Tassen, Teller und etwas Besteck zusammen. Das sind gewissermaßen Kostbarkeiten.

Eines Tages lässt Edeltraud, die Hausgehilfin, in der Küche die Blechschüssel mit dem gesamten gerade abgewaschenen Geschirr fallen. Alles, alles ist kaputt. Das junge Mädchen wird durch den Schock blau im Gesicht wegen ihres Herzens, jedenfalls wird das so gesagt. Noras Eltern sind erschrocken, versuchen, Edeltraud zu beruhigen, doch sie muss für längere Zeit ins Krankenhaus. Die Eltern jammern nicht, aber es wird schwierig, wieder Ersatz für das Geschirr zu beschaffen. Nora ist sechs Jahre alt und versteht das Problem. Auch sie muss sehr behutsam mit jeder Tasse umgehen. Allerdings ist ihr noch nie etwas kaputt gegangen, sie ist immer vorsichtig. Von ihrer Oma Marie kommt eine große altmodische Waschschüssel aus Porzellan, und die Eltern freuen sich sehr darüber. Die Schüssel ist cremefarben mit einem Goldrand und hat einen Durchmesser von etwa 40 Zentimetern. Sie steht wegen ihrer Größe meistens geschützt in der Badewanne und wartet dann dort auf ihre Einsätze in der Küche. Gebadet wird in der Wanne ja nur samstags.

Die neue Hausgehilfin heißt Elli. Sie ist eine große und starke junge Frau, die gegen Kriegsende mit ihrer Mutter von Ostpreußen aus zum Ural verschleppt wurde und dort Bäume fällen musste. Beide sind dann nach Deutschland entlassen worden. Von Elli wird gesagt, dass sie sehr zuverlässig und tüchtig sei. Ihre Mutter, Frau Schröder, lebt immer wieder für einige Wochen in Noras Familie, weil sie noch keine Bleibe hat. Sie schläft dann wie Elli und Nora in den ursprünglichen Ehebetten, und zwar auf der Besucherritze zwischen den beiden.

An einem Tag, der durch die Ereignisse des Nachmittags schließlich zu einem ganz besonderen wird, hebt Nora im Badezimmer die schöne große Schüssel etwas an, doch die entgleitet ihr und fällt zurück auf den harten Wannenboden. Dabei bricht an einer Stelle des Übergangs zwischen dem runden Boden und der Wand der Schüssel ein kleines Stück heraus. Man sieht es nicht gleich, doch die Schüssel ist kaputt! Sie ist kaputt! Jede Flüssigkeit wird herauslaufen, sie ist einfach unbrauchbar geworden.

Nora erstarrt. Schließlich verlässt sie den Raum. Anscheinend hat niemand bemerkt, dass sie überhaupt im Badezimmer gewesen ist. Sie setzt sich still an den neuen Esstisch in der Stube und macht Schulaufgaben.

Es dauert nicht lange, und Elli entdeckt den Schaden. Sie zeigt ihn aufgeregt Noras Mutter. Jetzt wird erst einmal Nora befragt, und die sagt tatsächlich, dass sie nichts davon wisse. So sagt sie das! Und damit beginnt nun ihre persönliche Not.

Elli glaubt ihr anscheinend nicht, daher nimmt die Mutter ihre Tochter allein mit ins Schlafzimmer und setzt sich neben sie auf ihr Bett. Sie sagt, dass außer ihr schließlich nur Elli oder deren Mutter in Frage kämen; Noras kleiner Bruder ist ja noch ein Baby. Dass es daher ganz wichtig sei, die Wahrheit zu sagen. Es solle doch niemand fälschlich beschuldigt werden. Dabei nimmt die Mutter Nora auf den Schoß. Sie umarmt sie und sagt, sie brauche keine Angst zu haben, falls ihr das Missgeschick passiert sein sollte. Sie müsse es nur sagen.

Nora ist innerlich immer noch ganz erstarrt. Sie verneint wieder, etwas mit dem Schaden zu tun zu haben. Sie kann einfach nicht mehr zurück. Wie eine Puppe fühlt sie sich, als wäre sie gar nicht mehr lebendig. Die Mutter redet noch einmal mit Elli und Frau Schröder, und beide wiederholen, dass sie an diesem Tag die Schüssel überhaupt nicht angefasst haben.

Als gegen Abend Noras Vater aus seinem Büro kommt, erfährt er nun ebenfalls, dass die Schüssel seiner Mutter kaputt ist. Auch er befragt noch einmal Elli und ihre Mutter und dann eindringlich seine kleine Tochter. Doch als Nora ganz ernst und mit klarer Stimme sagt: „Nein, ich habe das nicht gemacht!“ entscheidet er sofort: „Nora lügt doch nicht! Sie war es nicht!“

Und dann? Die Anzahl der Verdächtigen war ja überschaubar. Was passierte damals denn nun? Die schon so lange erwachsene Nora erinnerte sich heute, an ihrem 84. Geburtstag, nicht mehr an Einzelheiten. Die Eltern waren wahrscheinlich enttäuscht, dass weder Elli noch ihre Mutter zur Verursachung des Schadens stehen mochten. Elli blieb jedenfalls trotzdem noch mehrere Jahre in Noras Familie, aber Frau Schröder suchte sich von da an häufiger Schlafmöglichkeiten woanders. Vermutlich galt sie als die Hauptverdächtige. Natürlich wussten diese beiden, dass nur das Kind als Verursacherin in Frage kam. Nora wurde dann jahrelang ziemlich unfreundlich von Elli behandelt, aber erst jetzt, nach all diesen Jahrzehnten, sieht sie darin einen Zusammenhang. Als Kind hatte sie immer der Erklärung ihrer Mutter geglaubt, sie sei in Ellis Augen eben nicht so niedlich und liebenswert wie ein Baby, also wie ihr kleiner Bruder. Als Nora bereits erwachsen war und sich gelegentlich daran erinnerte, wie kalt und ungeduldig Elli immer zu ihr gewesen war, fiel ihr noch eine andere Erklärung ein: Sie war zwischen ihrem sechsten und neunten Lebensjahr ein Bettnässerkind gewesen und hatte damit natürlich unangenehme Mehrarbeit verursacht.

Oder hatte sie, vergraben im tiefen Inneren, immer eine Ahnung gehabt, dass ihr etwas ganz anderes von Elli nicht verziehen werden konnte?

Über die ruinierte Schüssel wurde nie mehr gesprochen.

Doch Nora, die Schuldige, vergaß diesen Tag nicht, und sie redete mit niemandem darüber. Nicht die Schüssel selbst lag ihr für immer auf der Seele – nein, sie hatte durch ihre Lüge den zwei Frauen, die anscheinend zuvor ganz Schreckliches durchlitten hatten, großes Unrecht getan. Und etwas anderes war für Nora vielleicht noch viel schlimmer: Ihre Eltern glaubten so...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Schlagworte Angst • Aufbruch • Bruch • Verluste • Verwandlung
ISBN-10 3-7583-9471-6 / 3758394716
ISBN-13 978-3-7583-9471-3 / 9783758394713
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