River und Avo -  Christine Keller

River und Avo (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
410 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-6732-3 (ISBN)
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Mit River und Avo treffen zwei vollkommen verschiedene Parallelwelten aufeinander. Sie kennt nur ihre Kuppel in der Eiswüste einer zerstörten Welt. Er lebt unter den Baummenschen in einem Naturparadies. Die jungen Menschen fühlen sich magisch voneinander angezogen. Doch sie scheinen Teil eines viel größeren Prozesses zu sein, denn Avos Welt wird immer mehr bedroht. Auf unheimliche Weise nährt sie sich Rivers dystopischer Kuppelwelt. Um in ferner Vergangenheit Heilung für sich und ihre Welten zu finden, müssen River und Avo eine gewagte Zeitreise unternehmen. Werden sie es schaffen oder sind alle Hoffnungen umsonst?

Christine Keller (*1959) wuchs in Zürich auf, ist Mutter eines Sohnes und lebt heute mit ihrem Mann in der deutschsprachigen Schweiz. Nach langjährigen pädagogischen und beratenden Tätigkeiten wandte sie sich vermehrt der Kunst zu. Sie realisierte zahlreiche Bilderausstellungen und forschte intensiv über Farben. Neben dieser Neuedition ihrer Farbenlehre erobert sie seit 2010 als experimentierfreudige Autorin immer neue Genres. Egal ob Lyrik, Kurzgeschichten oder Romane: In ihren Büchern verbinden sich Spannung und Humor mit einer Prise Philosophie. Facebook: Christine Keller: Bilder & Texte

1


AVO

Avo war der Erste, der sie erblickte: hunderte von Fischen, die mit nach oben gedrehten perlmuttfarbenen Bäuchen den Atacafluss hinabtrieben. Zuerst glaubte er an eine Vision, rieb sich die Augen.

Hier war sein Kraftplatz und vor ihm schlängelte sich der Ataca blaugrün durch Buschland und Baumgruppen. Er streckte eine Hand ins Wasser und hielt bald einen der leblosen Fischkörper in der Hand.

Kein Geruch verriet den Tod, der wahrscheinlich erst vor Kurzem eingetreten war. Das Rauschen des Ataca tönte wie immer in seinen Ohren. Die Wellen jagten wie immer vorbei.

Rasch ließ er den Fisch wieder ins Wasser gleiten. In einem Atemzug trug ihn die Strömung fort und gliederte ihn in den toten Schwarm ein.

Eigentlich war Avo doppelt verwirrt: Kurz vor seiner Entdeckung hatte ihn ein leichter Schwindel erfasst. Ein seltsames und ihm unbekanntes Phänomen, denn eigentlich verfügte er über eine gute Kondition und Körperbeherrschung.

Er hatte nicht einmal meditiert, hatte ganz einfach dagesessen, den Fluss beobachtet, als er sich plötzlich fühlte wie ein schwankendes Schiff bei hohem Wellengang.

Den Schwindel verdrängte er rasch wieder, doch das Bild der toten Fische hatte sich auf seiner Netzhaut eingebrannt. Nur am Rande bemerkte Avo, dass sich der Horizont bereits rosa verfärbte und es Zeit wurde, seinem Baumfreund Oiom flussaufwärts einen Besuch abzustatten.

In der Höhle zwischen Oioms riesigen Wurzeln meditierte Avo bereits, seit er sieben Jahre alt war. Oiom hatte ihn damals im Traum dazu aufgefordert, denn es waren immer die Bäume, welche die Menschen unter ihren Schutz nahmen.

Eine Wahl, die zu einer engen Verbindung wurde von Jahrring zu Jahrring. So war das bei ihnen, den Baummenschen. Jetzt zählte Avo zwanzig Jahre und war geistig regelrecht mit Oiom verwachsen.

Die Baummenschen sahen in den Bäumen ihre wahren Ältesten, denn Bäume streckten ihre Wurzeln in den Boden der Kraft und teilten mit ihren Ästen den Himmel des Wissens.

Sie verbanden die Zeiten und halfen, das Gleichgewicht des Zusammenlebens immer wieder neu zu finden. Avo empfand es jeden neuen Tag als eine Ehre, zu den Baummenschen zu gehören.

Ungewohnt rasch beendete Avo diesmal seine Meditation. Im Schutz von Oiom strich er seine langen schwarzen Haare nach hinten. Eine typische Geste von ihm, für die er oft geneckt wurde. Seine Haare fielen ihm über den ganzen Rücken. Lange Haare galten bei den Baummenschen als Zeichen von großem Charisma.

Aber jetzt war keine Zeit für Haare und Heiterkeit. Gerade an diesem Abend beschlich Avo erstmals das Gefühl, Oiom wäre beunruhigt. Ein leichtes Zittern, das sein Baumfreund vor ihm zu verbergen versuchte, wie er selbst den Schwindelanfall, den er vor Kurzem durchlebt hatte.

Avo hoffte, dass ihm seine Sorge nicht zu sehr ins Gesicht geschrieben stand. Seine Augen waren honigbraun und klar. Sie verrieten jedem, Mensch und Baum, seine Gefühle.

Avo ließ seinen Blick hinabwandern: Er war nackt bis auf einen Umhang um die Hüften. Auf dem rechten Oberarm war das traditionelle Zeichen seiner Gruppe eingeritzt: das längliche Blatt eines Veerbaumes, wie Oiom einer war. Avo lebte in einer Gegend, die vom blassgrünen Rascheln und vom herben Duft der Veerbäume beherrscht wurde.

Sein höchstpersönliches Zeichen war auf dem linken Oberarm zu sehen: zwei Kreise, die in einer fließenden Bewegung ineinander übergingen. Alle Baummenschen trugen zwei Zeichen, doch über das persönliche Zeichen wurde nie gesprochen.

Zwei verbundene Kreise bedeuteten die Verbindung von Gegensätzen. Es war ein wichtiges Zeichen, denn war die Welt nicht geprägt von Gegensätzen? Avos Zeichen besaß eine große Heilkraft. Mit einem geweihten Messer hatte er es sich eigenhändig in die leicht grünliche Haut geritzt.

Grünlich waren alle Baummenschen. Kein Mensch wusste, wie es geschehen war, aber ihre Körper hatten vor Urzeiten begonnen, sich der Lebensart ihrer Baumfreunde anzunähern. Diese Veränderung im Plan des Lebens ermöglichte ihnen, die Aktivität ihrer Organe zu reduzieren und im Licht des Tages Energie zu produzieren.

Ihr grüner Körper verlieh ihnen psychische Stabilität und reduzierte die Nahrungsaufnahme. Das war gut so, denn kein Lebewesen sollte sinnlos sterben. Die Verwandlung in Baummenschen hatte ihre Lebensweise verändert.

Um ihre Kräfte optimal einzusetzen, folgten sie dem Rhythmus des Lichtes. Am Tag waren sie aktiv und die Nachtruhe wurde streng eingehalten.

Aber die Bäume hatten die Menschen nicht nur einen klügeren Umgang mit Energie gelehrt, sondern auch geholfen, besser mit allen Lebewesen zu kommunizieren.

Baummenschen waren Sprachtalente. Sie nahmen Schwingungen anderer Wesen wahr und konnten sich blitzschnell in deren Sprachen einklinken.

Alles in dieser Welt schwang ineinander. Darum war Gesang als Ausdruck des Mitschwingens wichtiger als Sprechen, sogar wichtiger als Gedankenlesen.

Baummenschen lebten in sogenannten »Melodien« zusammen. Die Tonfolge einer Melodie war das wichtigste Erkennungszeichen der Gruppe, in die ein Baummensch hineingeboren wurde. Unzählige Wiederholungen verankerten diese Melodie tief in seiner Seele. Ein Baummensch wechselte die Melodie nur bei Heirat oder aufgrund schwerer Konflikte.

An diesem Tag war Avos Haut von den reifen Beeren der Uncupflanze noch leuchtender als sonst. Am frühen Morgen hatte er zusammen mit seinen Eltern einige davon eingenommen.

Vor den Ratsversammlungen bei Neumond aßen die Mitglieder ihrer Melodie die lila Beeren, die im Körper zu fluoreszieren begannen und ihre Sinne erweiterten.

Jetzt gerade sang Avo die ersten Töne seiner Melodie vor sich hin. Seine Melodie fühlte sich ein wenig bitter und süß zugleich an, genau wie die Uncubeeren. Avo liebte diesen Vergleich, den er aber noch nie jemand anderem mitgeteilt hatte. Ja, Baummenschen konnten nicht nur verstehen, sie konnten, wenn sie wollten, auch ihre Gedanken verbergen.

Ganz leicht streiften Oioms Blätter Avos Schulter, bis er aufsah. Es dämmerte bereits und die fernen Hügelzüge verschwanden nach und nach in einem leichten Nebel. Avo wünschte mit einer ihm unbekannten Ungeduld, dass er den anderen endlich von seinem schlimmen Fund erzählen konnte.

»Avo!«

Der Ruf wirkte wie gesungen. Ein Junge und ein etwas älteres Mädchen rannten auf ihn zu, als er sich dem Lager näherte. Runu und Ita. Sie waren ebenfalls schwarzhaarig und trugen die gelbgrün gestreiften Kleider der Kleinkinder, in denen sie optisch nahezu mit ihrer Umgebung verschmolzen.

Runu umklammerte mit wichtiger Miene ein längliches Stück Holz. Dieses ließ er nun fallen und Ita schleuderte ihren Spielbeutel zur Seite. Dann hängten sich die beiden an Avo. Sie liebten ihn, ihren jungen Onkel, doch heute machte er keine Späße wie sonst. Seine Augen blieben ernst, auch wenn sein Mund ihnen kurz zulächelte.

Avo sandte Ita und Runu seine Gedanken, was einfacher war als Reden. Wie unnötig, ja, schädlich war Reden, wenn die falschen Worte gewählt wurden! Denn alles, was geäußert wurde, näherte sich der heiligen Macht des Singens. Mit Singen konnte man heilen, aber auch töten.

Wenn Avo mit Ita und Runu in Gedanken sprach, funkelte es zwischen ihnen wie üblich. Doch diesmal huschten Schatten durch dieses Funkeln und Avo gab sich Mühe, den Kleinen nicht die Bilder der toten Fische zu schicken.

Ita warf ihre mit Bändern umwundenen Haare zur Seite, schaute Avo an und versenkte ihre nussbraunen Augen in seine. Es war etwas nicht in Ordnung, doch ihr Onkel wollte den Grund nicht verraten. Runu war nicht so nachdenklich, zog Ita ein wenig an ihren kunstvoll gedrillten Zöpfen. Dann bückte er sich und hielt Avo die Schlange hin, die er direkt aus einem Wurzelstück geschnitzt hatte.

Avo strich mit der einen Hand abwechselnd Ita und Runu über den Kopf, in der anderen hielt er die Wurzelschlange und bewunderte sie. Heute Abend in der Ratsversammlung würden Ita und Runu mehr erfahren, wenn sie an der Seite ihrer Mütter zuhörten.

»Also gut, mach es spannend.« Das war Ita in seinem Kopf. Sie war verflixt schnell im Lesen und Übermitteln von Gedanken.

Das Zusammensein mit den Kindern hatte Avo gutgetan. Etwas gefasster lief er den Kleinen nach, die seine Ankunft mit schnellen Hüpfern im Lager verkündeten.

Mitten im Lager stand Peerdi und warf einen Blick aus ihren grünen Augen zu Avo hinüber. Sie war dabei, mit Ronio den Lagerplatz für die Zeremonie vorzubereiten.

Die sehr selbstbewusste Peerdi war zwei Jahre jünger als Avo, aber ebenso zäh wie dieser und genauso mutwillig wie Ronio. Ihre Haare trug sie wie Avo. Sie fielen wie ein blauschwarzer Schleier weit über ihre Schultern.

Peerdi war sehr geschickt mit ihren Händen. Ihr Kleid war zwar einfach geschnitten, das olivfarbene Geflecht war aber mit aufwendigen Mustern aus weißen Wurzelfasern der Sumpflilien durchsetzt. In der Taille wurde es von einem kunstvoll geflochtenen Gürtel zusammengefasst.

Alle Kleider der Baumleute, auch die...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7562-6732-6 / 3756267326
ISBN-13 978-3-7562-6732-3 / 9783756267323
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