Din(n)er4One -

Din(n)er4One

Incardia to Krax (Herausgeber)

Buch | Softcover
300 Seiten
2024
Alea Libris Verlag
978-3-98827-015-3 (ISBN)
14,90 inkl. MwSt
Willkommen im Roller Gals Diner!
Auf der Speisekarte stehen 18 typische Gerichte mit ihren einzigartigen Geschichten.
Ob direkt aus dem Leben, futuristisch, romantisch, fantastisch, kriminell oder dystopisch - für jeden Geschmack ist etwas dabei.
Und wer Glück hat, bekommt sogar das gekocht, was bestellt wurde.
Willkommen im Roller Gals Diner!
Auf der Speisekarte stehen 18 typische Gerichte mit ihren einzigartigen Geschichten.
Ob direkt aus dem Leben, futuristisch, romantisch, fantastisch, kriminell oder dystopisch - für jeden Geschmack ist etwas dabei.
Und wer Glück hat, bekommt sogar das gekocht, was bestellt wurde.

Raus aus dem Diner!«, schrie eine Dame auf Rollschuhen, die einen älteren Mann aus dem Restaurant scheuchte. Sie drehte sich um und rollte aus meiner Sicht. Der Mann blieb mit eisernem Blick vor dem Eingang stehen. Ich ging an ihm vorbei, ignorierte die Rufe aus dem Inneren und betrat das Lokal. Ich war schon viel zu spät dran! Die Außentür stand offen, dahinter befand sich ein schmaler Eingangsbereich. Bevor man in den Diner selbst eintrat, trennte eine Glaswand mit passender Tür die Sitzbereiche ab. Die Kellnerin, die vor der offenen Glastür stand, trug ihre blonden Haare zu einem geflochtenen Zopf. Ihre vor dem Oberkörper verschränkten Arme verdeckten Teile des roten Diner-Logos auf ihrer Schürze. Ich schielte an ihr vorbei, um mir die Sitzbuchten genauer ansehen zu können. War ich etwa zu spät? Erst, als ich wieder zur Kellnerin blickte, bemerkte ich, dass etwas auf mich zugeflogen kam. Gerade noch rechtzeitig sprang ich zur Seite und sah, wie sich an der Stelle, an der ich zuvor gestanden hatte, eine riesige Säule aus Eis aufbaute. Erschrocken riss ich die Augen auf, presste mich an die Wand hinter mir und beobachtete das eisige Dilemma, in das ich mich gebracht hatte. »Ik wollt dok nur wat essn!« Der Kunde fletschte die Zähne und boxte von außen gegen das Eis, das ihn daran hinderte, wieder hineinzutreten. Aufgrund seiner langgezogenen Gesichtszüge, den breiten Schultern und seiner muskulösen Statur vermutete ich, dass er ein Werwolf war. Als die plötzliche Kälte unter meine Kleidung kroch, durchzog mich ein kurzer Schauer. Ich bemerkte feine Nebelschwaden, die sich knapp über dem Boden gebildet hatten und die Gitter bedeckten, die in der Mitte des Eingangs eingelassen waren. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Wofür brauchte man die denn im Innenbereich? »Aber keine Angestellten!« Die Hände der Kellnerin leuchteten hell. Ich hatte eine unschöne Befürchtung. »Und schon gar keine Kunden!« Oh, oh. Ich hielt die Luft an, kniff die Augen zusammen und hoffte auf das Beste. Haarscharf rauschte die Magie an meiner Nasenspitze vorbei und prallte frontal auf die Eissäule. Der obere Teil zerbarst mit einem lauten Knall, dann formten sich die herumfliegenden Eissplitter zu einer Faust, die den Werwolf im hohen Bogen zwischen die parkenden Autos verfrachtete. Stöhnend landete er auf der schmalen Rasenfläche. »Na, geht doch.« Die Kellnerin klopfte sich zufrieden die Hände ab. Als sie mich erblickte, entspannte sich ihre grimmige Miene binnen weniger Sekunden. Ein breites Grinsen kam zum Vorschein. »Willkommen im Roller Gals Diner! Kann ich Ihnen behilflich sein?« Das Eis knackte leise. Ein kurzer Blick genügte, um zu sehen, dass nicht die nächste Katastrophe auf mich wartete, sondern der Rest der Eissäule, inklusive Eisfaust, langsam schmolz. Die Sommerhitze bahnte sich ihren Weg von draußen in den Eingangsbereich des Diners, wodurch sich erste Wasserperlen lösten, zu Boden rannen und dort versickerten. Es wirkte mit den Ablaufgittern fast so, als würde das öfter passieren. Ich schluckte. »Ich … äh.« Vorsichtig atmete ich aus und ließ von der Wand ab. Ich ging einen Schritt nach vorn und lernte auf die harte Tour, dass das verbliebene Eis, das sich auf dem Parkettboden ausgebreitet hatte, noch nicht vollständig geschmolzen war. Mit einem lauten Rumms landete ich auf meinem Hintern und sog scharf die Luft ein. »Oh, entschuldigen Sie!« Blitzschnell stand sie vor mir, griff nach meiner Hand und zog mich hoch. Ich drohte, erneut zu fallen, doch sie stützte mich. Ein kleines Leuchten umhüllte ihre Finger, dann schoss die Magie auf unsere Füße zu. Erfreut lächelte sie über ihr Werk. »Tada! Hiermit ist es einfacher.« Ich starrte hinab und weitete die Augen. Meine Sneaker waren weißen Schlittschuhen mit hellblauen Strasssteinchen in Form von Schneeflocken gewichen. Eine durchgehende, dünne Schicht Eis zog sich über den Boden und glitzerte im Sonnenlicht. Fast wäre ich noch einmal ausgerutscht, doch ich konnte mich gerade so halten. So schön die Kufen auch waren, sie verbesserten meine Situation leider nur bedingt. Mein Gleichgewicht und ich waren auf dem Eis noch nie Freunde gewesen. Irritiert blickte ich in die eisblauen Augen der Kellnerin. »Ähm … danke?« »Sehr gerne, kommen Sie nur herein!« Lachend drehte sie sich einmal auf der Stelle und schlitterte weiter in den Diner hinein. An der Stelle, an der das Eis aufhörte, zauberte sie in Sekundenschnelle eine Eisbahn herbei, die einmal quer durch den Raum führte. Während sie sich immer weiter von mir entfernte und dabei eine leise Melodie summte, stand ich wackelig im Eingangsbereich herum. Wie bestellt und nicht abgeholt. »Elsa!«, schrie eine tiefe, brummende Stimme durch das gesamte Restaurant. Ein schlaksiger, großer Mann mit blasser Haut trat aus einer unscheinbaren Tür heraus und geriet direkt ins Stolpern. Er schlitterte einen kurzen Moment, dann hielt er genau vor der Kellnerin an. Echt jetzt? Sie war eine Eismagierin namens Elsa? Ich konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen und schob mich vorsichtig zur offenen Glastür, an der ich mich festhielt, um sie genauer zu beobachten. »Ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass das hier keine Eisbahn ist. Sonst hießen wir Ice Gals Diner!« Wie wild fuchtelte er mit den Händen herum und seine Fangzähne kamen zum Vorschein. Ein Vampir also. »Zieh’ deine Schlittschuhe sofort wieder aus! Kein Eis im Diner!« »Aber Chef«, protestierte Elsa und spannte ihre Muskeln an. Sie ballte die Hände zu Fäusten, neue Nebelschwaden bildeten sich um ihre Beine. »Was macht es denn für einen Unterschied, ob ich auf Kufen oder Rollen fahre?« »Die Kunden sollen sich wohlfühlen, nicht hinfallen und vor allem nicht erfrieren! Kein Eis!« Mit diesen Worten stapfte er zurück in das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Ich hörte ein Grollen aus Richtung der Kellnerin. Sie bebte am ganzen Körper, klang fast wie ein Tier. Sie drehte sich in meine Richtung und schloss die Augen, die Nebelschwaden wurden größer. Reflexartig versteckte ich mich hinter der Glastür. In dem schmalen Eingangsbereich fühlte ich mich deutlich wohler, auch wenn ich dabei gekonnt ignorierte, dass sie mich trotzdem sehen konnte. Sollte sie jedoch auf einen Kunden im Laden losgehen, hatte ich zumindest ein bisschen Glas zwischen mir und weiteren Eissäulen. Doch entgegen meinen Erwartungen beruhigte sie sich wieder. Sie atmete tief ein und aus. Ich hörte gemurmelte Worte aus ihrer Richtung und schob mich schließlich doch auf wackeligen Kufen in den inneren Bereich des Diners hinein, damit ich sie besser verstehen konnte. Meine Neugierde war zu groß und innerlich ohrfeigte ich mich dafür, nicht schon längst verschwunden zu sein. »Lass es sie nicht sehen.« Sie flüsterte, dennoch vernahm ich ihren Wortlaut. Und genauso schnell, wie es gekommen war, verschwand das Eis im gesamten Diner wieder – und damit auch die Schlittschuhe an meinen Füßen. Elsa öffnete die Lider, lächelte mir kurz zu und fuhr mit ihren Rollschuhen los. Die große Schwingtür, die sich direkt neben der kleineren Tür des Vampirs befand, gewährte mir einen kurzen Blick auf die Küche und die offene Kochflamme, als die Kellnerin dahinter verschwand. Mit dem vertrauten Gefühl meiner Sneaker an den Füßen wagte ich mich endlich, den Diner weiter zu betreten. Eine weitere Kellnerin fragte mich im Vorbeirollen, ob ich die Glastür schließen könne. Ich kam ihrem Wunsch nach – und mit einem leisen Klacken fiel sie hinter mir ins Schloss. Als es danach ruhig blieb, atmete ich auf. Endlich hatte ich einen Moment, um mir den Innenbereich des Restaurants genauer anzusehen. An der Bar entlang war ein Hocker nach dem anderen aufgereiht. Sie waren mit edlem, rotem Leder bezogen. Die Bänke, die in den Buchten gegenüber der Theke eingelassen waren, hatten einen identischen Stoffbezug. Fast alle Tische waren besetzt, nur einer der Kunden stand allein neben einer der Einbuchtungen und winkte mir verloren zu. Ich war hier also richtig. Verdammt. »Jil!« Der junge Mann mit der großen, runden Brille lächelte mich an. Ich seufzte lautstark. Ich hatte mich auf das Essen mit ihm gefreut, aber nach diesem Erlebnis war ich mir nicht sicher, ob ich hierbleiben wollte. Kurz haderte ich mit mir selbst, doch dann bewegte ich mich langsam auf ihn zu. »Hi, Noah«, begrüßte ich meine Verabredung, als ich an der Einbuchtung ankam, die natürlich am weitesten vom Eingang entfernt war. Flüchtig sah ich mich um, dann ließ ich mich auf der Bank ihm gegenüber nieder. »Schön, dass du hergefunden hast!« Er strahlte über beide Ohren. »Das ist ein richtig schöner und klassischer Diner, findest du nicht auch?« Mit erhobenen Augenbrauen starrte ich ihn an. Die Jukebox stand direkt hinter mir und trällerte fröhlich I’ve had the time of my life. Ja, die beste Zeit des Lebens hatten hier sicher alle. Die Frage war nur: Wie lange? Ob Kunden, die herkamen, auch tatsächlich die Kellnerin überlebten? Es war bestimmt schon gefährlich, nur hier zu sitzen! Ich atmete tief ein und aus. Ignorieren und lächeln, Jil, ermahnte ich mich selbst. »Willkommen im Roller Gals Diner!« Elsa stand plötzlich neben mir und betonte das Roller besonders stark. Mit freundlicher Miene blickte sie mich an, in ihrer Hand ein kleiner Block mit Stift. »Was darf’s denn sein?« »Oh, ich kann dir die vegetarischen Wraps empfehlen, Jil!« Noah rutschte auf der Bank hin und her. Mit einem breiten Grinsen schaute er mir in die Augen. »Wollen wir uns einen teilen? Dann können wir später noch was anderes bestellen!« Ich überlegte kurz. Eigentlich war mir der Appetit vergangen, aber mein Magen knurrte leise. Seufzend nickte ich einmal zu ihm, dann zu Elsa. »Dazu bitte Wasser, zweimal!«, plapperte Noah weiter, ohne auf meine Zustimmung zu warten. Elsa notierte sich ein paar Stichwörter, dann packte sie ihre Utensilien in die kleine Tasche, die sie an ihrer Hüfte trug. »Kommt sofort«, trällerte sie fröhlich und fuhr mit ihren Rollschuhen wieder davon. Neugierig blickte ich ihr hinterher. Sie wirkte wie ausgewechselt. Unweigerlich fragte ich mich, warum Noah unbedingt in diesen Diner wollte. Ob er öfters in diesem Chaosladen verweilte? Bei dem Gedanken an weitere Eisattacken überkam mich das Gefühl, dass ich doch besser ablehnen und zum Fast-Food-Restaurant bei mir um die Ecke hätte gehen sollen. »Entschuldige, Jil.« Mein Gegenüber stand abrupt und mit ernsten Gesichtszügen von der Bank auf. »Ich muss kurz aufs Klo. Ich bin gleich wieder da!« Mit diesen Worten verschwand Noah aus meinem Sichtfeld. Ich atmete laut aus und schaute mich um. Durch das Fenster konnte ich direkt auf den Parkplatz mit der Grünfläche mittendrin blicken. Ich stützte meinen Kopf auf den Handflächen ab und beäugte den roten Ferrari, der unter lautem Brummen angefahren kam. Er parkte in einer Lücke rückwärts ein, den Bass der Musikanlage spürte ich sogar bis zu meinem Sitzplatz hier im Diner. Durch das heruntergelassene Fenster konnte ich einen Blick auf den Fahrer des Wagens erhaschen. Er grinste breit und ich meinte, Vampirzähne in der Sonne blitzen zu sehen. Typisch, die hatten zu viel Geld und gaben es nur zu gern für teuren Schnickschnack aus. Ein Mädchen in einem weißen, sommerlichen Kleid und silbernen, lockigen Haaren stand hinter dem Auto auf dem Rasen und telefonierte. Sie gestikulierte dabei heftig mit der freien Hand und bemerkte den Wagen hinter ihr wohl nicht. Ob der Vampir sie ebenfalls nicht sah oder sie einfach ignorierte, konnte ich nicht sagen. Dann geschah es: Der Fahrer lachte und der Ferrari heulte laut auf. Eine schwarze Rauchwolke schoss aus dem Auspuff und traf zielgenau das Mädchen auf der Grünfläche. Dieses erschrak so stark, dass es hochsprang und sich in der Luft in ein Schaf verwandelte. Meine Gesichtszüge entgleisten, mein Mund stand offen. Sie war eine Gestaltwandlerin? Wie gestraft musste man bloß vom Leben sein, wenn das Alter Ego die Form eines solchen Tieres hatte? Der Ruß legte sich langsam auf ihre Wolle nieder, sie wurde immer dunkler. Ob sie auch in ihrer Familie das schwarze Schaf war? Ein leises Kichern verließ meine Lippen. Ihre verängstigten Augen wanderten wild umher, ihr Handy lag ein paar Meter weiter auf dem Rasen. Ihr Mund ging immer wieder auf und zu. Ich legte den Kopf schief. Irgendwie tat sie mir ja doch leid. Ob ich ihr helfen sollte? Andererseits wusste ich nicht, was ich tun könnte. »Ich freue mich schon so auf das Essen!« Ich erschrak und drehte mich herum. Noah war zurückgekehrt und ließ sich auf die Bank plumpsen. Er grinste mich an und fügte hinzu: »Glaub mir, die Wraps hier sind spitze!« Ich nickte nur und schielte noch einmal auf den Parkplatz. Der Vampir stieg gerade aus dem Wagen und sah das dunkle Schaf hinter sich. Er riss die Augen auf und rannte hin. »Bea!« Eine männliche Person mit tiefer Stimme brummte laut und erschütterte die Wände des Diners. Ich hatte irgendwie ein Déjà-vu. War das wieder der Chef? Ich drehte mich um und blickte am Tresen vorbei in Richtung Küche, aus der die Rufe in den Diner drangen. »Du sollst doch nicht beim Kochen zaubern!« »Aber es ist so viel einfacher und genauso lecker!«, schrie eine ebenso dunkle, jedoch weibliche Stimme zurück. »Wir setzen hier aber auf liebevolle Handarbeit. Also weg mit dem Zauberstab!« Der Chef klang sehr wütend und aufgebracht. Hatte er etwa eine Hexe als Köchin angestellt? Fragend sah ich mich um und hob die Augenbrauen. Niemand schien sich für die Diskussion zu interessieren. Dann ertönte ein hohes Geräusch, das ich nicht zuordnen konnte, und helles Licht blitzte auf. Was passierte denn jetzt schon wieder? »Au!«, schrie die weibliche Stimme. Elsa, die den Radau mitbekommen hatte, kam vor der Schwingtür zur Küche zum Stehen und öffnete sie – dicht gefolgt von einem lauten Kreischen, mit dem sie zur Seite schnellte. »Kommt zurück und gebt mir meinen Zauberstab wieder!« Eine dickliche Person mit schwarzen Haaren, weißer Schürze und Kochmütze stürmte heraus und rannte um den Tresen herum. Keine Sekunde später sah ich, wen sie verfolgte. Beziehungsweise, was. Zwei Wraphälften hüpften durch den Diner und kämpften sich von Tisch zu Tisch. Sie glucksten belustigt herum. Eine der Hälften hatte den Zauberstab zwischen der Hähnchenfüllung stecken, die bei der anderen wild herausflog. Moment. Lebendige Wraps? Irritiert blinzelte ich ein paar Mal und beobachtete weiter das Spektakel. Ich war unsicher, was sich vor meinen Augen abspielte. Aber in solchen Momenten dankte ich dem Himmel, dass ich keine magische Energie bei meiner Geburt bekommen hatte. Sonst müsste ich mich vielleicht auch irgendwann einmal mit Essen herumschlagen, das ich aus Versehen zum Leben erweckt hätte. Die Wraphälften sprangen weiter über die Bänke und begrüßten die Kunden mit lautstarken »Hallööööchen!«-Rufen. Alle Anwesenden im Diner hielten inne und blickten den Wraps entweder mit unterdrücktem Kichern oder vor den Mund gehaltenen Händen hinterher. Die Kunden, die dem Essen im Weg waren, wurden ohne Rücksicht auf Verluste mit Wrapfüllung besprenkelt. Wer den Kopf nicht rechtzeitig einzog, bekam die volle Breitseite ab. Der Zauberstab sprühte dabei immer wieder Funken in die verschiedensten Richtungen. Wie angewurzelt schaute ich zu, wie vermutlich unser Essen vor der Hexe und Elsa floh. Die Wraps waren wie Hänsel und Gretel. Nur, dass sie keine Hilfsspur zurückließen, sondern auf ihrem Weg alles einsauten: Boden, Wände, Tische, Kunden. Erneut fragte ich mich, wo zur Hölle ich hier nur gelandet war. »Nä, nänänää, nääää!« Mit lautem Kichern landeten die Wraps zwischen Noah und mir. Salatblätter und Maiskörner fielen auf unseren Tisch. Schnell griff ich nach dem Zauberstab, aber erneute Funken sprühten aus ihm heraus. Ich duckte mich und konnte der magischen Energie gerade so noch ausweichen, doch Noah hatte nicht so viel Glück. Oder zu lahme Reflexe. Wie auch immer, plötzlich saß vor mir ein kleiner, grüner und glitschiger Frosch. Na super. Nach dem bösen Wolf und Hänsel und Gretel hatte nun auch der Froschkönig seinen Auftritt. Wenn gleich noch die Herzkönigin auftauchte und Köpfe rollen sehen wollte … Ich schauderte. »Eh, das ist schlecht«, kommentierte Elsa, die mit quietschenden Rollen neben unserem Tisch anhielt und den Frosch anstarrte. Ach, wirklich? Sie war wohl eine Blitzmerkerin. »Bea?« Die Köchin hielt nun auch bei uns an und röchelte mir ihren Atem ins Gesicht. Schweißperlen rannten ihre Stirn hinunter. War das Angstschweiß? Vollkommen entsetzt sah sie auf die Wraps und den Frosch. Ich blickte von Elsa und der Hexe zurück auf das wild gewordene Essen. Diese entdeckten ihre Erzfeindin aus der Küche, lachten erneut und sprangen in Richtung Eingang. Genau in diesem Moment öffnete ein Kunde die Glastür und wollte den Diner geduckt – und vermutlich auch ungesehen – verlassen. Die Wraphälften rasten an ihm vorbei in die Freiheit, während er in eine Art Schockstarre verfiel und sich nicht mehr rührte. Als ich dann das Essen auf das schwarze Schaf zuhüpfen sah, das noch immer auf dem Rasen graste, entwich mir ein erstickter Laut. Auch das noch! Quak. Ach ja, der Frosch. Schnell blickte ich auf Noahs neue Gestalt und schaute danach in die grünen Augen der Hexe. »Wird er wieder normal?« »Ja«, keuchte sie und atmete mehrfach laut ein und aus. »Aber nur mit meinem Zauberstab.« Ich ließ die Schultern hängen, mein Mund öffnete sich und verharrte in der Position. Ich musste eine wunderbare Grimasse schneiden, denn die Hexe schnaubte nur und grinste mich schräg an. Die Falten in ihrem Gesicht wurden tiefer. »Dann müssen wir schnell hinterher!« Elsa, die die Lage wohl besser im Griff hatte als die Hexe, rollte los. »Bea, komm! Wir müssen sie aufhalten!« »Aber mein Asthmaspray …« Die Köchin blickte kurz zur Küche, murmelte leise Flüche vor sich hin und lief schließlich hinterher. Der Vampirchef, der nun ebenfalls an unserer Sitzbucht ankam, entdeckte den Frosch auf dem Tisch. Unglaube stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Oh, scheiße«, fluchte auch er und folgte Elsa und Bea ohne weitere Worte hinaus aus dem Diner. Ich schüttelte meinen Kopf, um klare Gedanken zu fassen, dann raste ich ebenfalls los. Wir benötigten dringend diesen Zauberstab! Ich konnte Noah nicht als Frosch zurücklassen. Auf gar keinen Fall! Mit schnellen Schritten stürmte ich hinterher und saugte die frische, wenn auch viel zu warme Luft gierig auf. Ich hielt auf das schwarze Schaf zu, doch die beiden Essenshälften blieben nicht stehen. Sie umrundeten mehrfach den Ferrari, der immer noch in der Parklücke stand. Ein paar der Salatblätter aus der verbleibenden Füllung landeten vor der Gestaltwandlerin, die sich blökend darüber beugte und zu essen begann. Den Tag hatte sie sich bestimmt auch anders vorgestellt. »Bleibt endlich stehen!«, schrie Elsa über den Rasen und schoss immer wieder Eisblitze in Richtung der Wraps. Haarscharf verfehlte sie das Ziel, wodurch die Erde gefror. Wie zuvor im Lokal bildete sich eine dünne Eisschicht auf dem Rasen, worauf der Chef des Diners wenige Sekunden später ausrutschte. Er landete mit einem schmerzvollen Laut auf seinem Hinterteil. Die beiden Hälften liefen zwischen den Autos hin und her. Mal im Zickzack, mal über die Motorhauben, dann wieder zurück. Es war fast unmöglich, ihre Bewegungen vorauszuahnen und sie zu erwischen. Auch der Zauberstab sprühte ab und zu Funken, sodass wir ausweichen mussten. Noch eine Verwandlung in ein Tier konnten wir nicht gebrauchen, davon gab es aktuell schon genügend. Mit dem nächsten Angriff traf Elsa das Schaf, dessen Mund beim Essen des Salats einfror. Es riss die Augen weit auf und meckerte leise vor sich hin. Sein flauschiges Hinterteil hüpfte auf und ab, während der Kopf an Ort und Stelle blieb. Die Wraphälften, die auf das schwarze Tier zusteuerten, entschieden sich dazu, auf seinen Rücken zu springen. Kurz vor der Landung hüpfte das Schaf jedoch hoch, sodass das Essen vom Hinterteil im hohen Bogen auf die Heckscheibe des Ferraris geschleudert wurde. Mit einem lauten Flatsch knallten sie dagegen und der Zauberstab schleuderte in die entgegengesetzte Richtung davon. Elsa schoss eine Eisspitze in die Luft, wodurch der Stab in der Bewegung stoppte und zu Boden fiel – direkt vor das Schaf. Ich blieb stehen und stütze mich auf meinen Knien ab. Während ich nach Luft schnappte, hob die Eismagierin den Zauberstab auf und enteiste ihn. Breit grinsend übergab sie ihn an Bea, die völlig außer Atem neben mir auf den Rasen sank. Und das Essen? Das rutschte gemütlich das Heck des Ferraris hinunter. Die Hexe wischte sich keuchend die Schweißperlen von der Stirn, nahm dann ihren Stab entgegen und wedelte ihn ein paar Mal hin und her. Ein Leuchten ging von der Spitze aus und schwebte auf die Wraphälften zu. Es blitzte hell, dann fielen sie leblos zu Boden. Der Spuk hatte endlich ein Ende. Mit einem lauten Seufzer ließ auch ich mich auf den Rasen fallen und versuchte, mit einer bewussten Atmung meinen rasenden Puls zu beruhigen. »Na endlich«, murmelte der Chefvampir, der sich zu uns gesellte. Seinem verzerrten Gesicht entnahm ich, dass er noch Schmerzen hatte. Mit ernstem Blick sah er jeder einzelnen von uns kurz in die Augen. »Wenn wir uns etwas beruhigt haben, wartet im Diner noch eine weitere Aufgabe auf uns.« Wir erreichten alle gemeinsam die Sitzbucht, in der Noah und ich zuvor gesessen hatten. Der Frosch hockte weiterhin auf dem Tisch und quakte vor sich hin. Eine Fliege summte an meinem Ohr vorbei und binnen weniger Sekunden verschwand sie im Mund des grünen Tieres. Ich verzog das Gesicht. Igitt. Hoffentlich erinnerte sich Noah nachher an nichts. »Bea, du bist dran«, sagte der schlaksige Vampir und trat einen Schritt zur Seite. Seine Stimme wirkte gelassen und ruhig, doch die schmalen Schlitze seiner Augen machten deutlich, wie sauer er sein musste. »Ja, Chef.« Seufzend trat die Hexe vor und wiederholte die Handbewegung von eben. Das Leuchten des Zauberstabs flog auf das Tier zu, es blitzte hell … doch es geschah nichts. »Was ist los?«, fragte ich hektisch und mit lauter Stimme. »Warum ist er noch immer ein Frosch?« »Ich weiß nicht, welchen Zauberspruch der Wrap verwendet hat.« Bea senkte den Kopf und schien über eine mögliche Lösung nachzudenken. »Ohne den kann ich ihn nicht zurückverwandeln. Ich kann es höchstens noch schlimmer machen.« Ich hob die Augenbrauen und starrte sie mit offenem Mund an. »Und was soll ich jetzt tun?« »Keine Ahnung. Küss ihn doch?« »Bea!«, zischte der Vampir neben ihr. »Das kannst du ihr nicht antun!« Sie zuckte nur kurz mit den Schultern. »Wenn ich den falschen Zauberspruch benutze, könnte er vielleicht für immer ein Frosch bleiben. Willst du das, Paul?« Er seufzte. Sie unterhielten sich weiter, doch ich hörte nicht mehr zu. Langsam drehte ich meinen Kopf und schielte das glitschige Wesen vor mir an. Noah könnte für immer im Körper eines Frosches gefangen sein? Das konnte ich nicht zulassen. Ich war immer so dankbar darüber gewesen, zu den wenigen Menschen zu gehören, die keine magischen Fähigkeiten besaßen. Doch in diesem Moment hasste ich es. Ein erneutes Quaken ertönte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich schluckte ihn hinunter. Langsam atmete ich ein und aus, schaute entschlossen in die Augen des Frosches. Vorsichtig umfassten meine Hände das Tier. Ich hob Noah hoch … und küsste ihn. »Das war ein Scherz!«, schrie Bea neben mir fassungslos. Genervt schielte ich zu ihr hinüber und wollte gerade etwas sagen, als der Frosch zu leuchten begann. Schnell setzte ich ihn ab – keine Sekunde zu spät, denn mit einem lauten Plopp erschien Noah in seinem richtigen Körper und schleuderte klirrend das Besteck auf den Boden. Er sah sich hektisch um. »Was mache ich denn hier auf dem Tisch?« Verwirrt starrte er erst mich an, dann wanderte sein Blick zum Personal des Diners. Zuletzt kamen seine Augen wieder bei mir an. Mit einer gezielten Handbewegung schob er seine Brille, die ihm schräg von der Nase hing, an die richtige Position zurück. »Jil?« »Das … willst du nicht wissen.« Erleichtert atmete ich aus und setzte mich auf die Bank. Im Augenwinkel sah ich, wie Bea ohne ein weiteres Wort wegging. Noah kämpfte sich vom Tisch und ließ sich mir gegenüber auf das rote Leder fallen. »Na bitte, alles wieder beim Alten«, ertönte Elsas fröhliche Stimme ein Stück hinter mir. »Ich hatte schon Angst, dass er der erste Kunde sei, den wir nicht zurückverwandeln können.« Mein Puls setzte für einen Schlag aus, dann raste er mit doppelter Geschwindigkeit wieder los. Ich war mir sicher, dass jegliche Farbe aus meinem Gesicht gewichen war. Ungläubig über das, was ich gehört hatte, hob ich den Kopf und schaute zur Kellnerin. »Das«, ich schluckte, »das passiert … öfter hier?« Elsa zuckte nur mit den Schultern und rollte vergnügt davon. Sie öffnete elegant die Tür zur Küche und verschwand. »Es tut mir sehr leid.« Mit sanfter Stimme verbeugte sich der Vampirchef und schaute zu mir herüber. Ein schuldbewusster Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit. Ich nickte ihm nur zu. Er konnte nichts dafür, schön und gut. Aber noch einmal würde ich nicht hierherkommen. Das wusste ich ganz genau. »Da bin ich wieder«, trällerte Elsa und rollte erneut auf unseren Tisch zu. Sie stellte uns einen Teller hin. »Vegetarische Wraps, wie gewünscht. Dieses Mal auch mit viel Liebe – ohne Magie hergestellt. Bea findet die Hähnchenvariante zwar noch immer besser, aber sie hat sich ausnahmsweise mal an die Bestellung gehalten.« Ich starrte auf das Essen vor uns. Mir war der Appetit mehr als nur vergangen. Die Bilder der letzten Minuten spielten sich erneut vor meinem inneren Auge ab. »Die Bestellung geht selbstverständlich aufs Haus«, sprach der Vampir. Mit einem Lächeln nickte er mir zu und ging weg. »Ich … ich habe irgendwie ein unschönes Déjà-vu.« Noah starrte auf die Wraphälften, die vor uns lagen. Sein Gesicht verzog sich. »Guten Appetit«, sagte Elsa kichernd und rollte zum nächsten Tisch. Wie konnte sie nur so gelassen sein? Ich schielte ihr hinterher. Im Augenwinkel sah ich, wie sie über ihre Rollen stolperte und lautstark fluchte. Vollkommen entspannt also. Ich blickte auf das Essen und trotz allem entwich auch mir ein kurzer Lacher. Es gab viele Dinge, die ich in dieser Welt als Lebewesen ohne Magie noch nicht gesehen hatte. Wraps, die lebendig wurden und Menschen in Frösche verwandelten, gehörten definitiv dazu.

Erscheinungsdatum
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte american diner • Fantasy • Grusel • Kurzgeschichten • Liebe • Magie • Sehnsucht • Zeitreise
ISBN-10 3-98827-015-6 / 3988270156
ISBN-13 978-3-98827-015-3 / 9783988270153
Zustand Neuware
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