Eingeschränkte Sicht -  Berthold Ansohn

Eingeschränkte Sicht (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
283 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-6878-9 (ISBN)
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Der Lektor Tim Horwart ist von seinem Berliner Verlag freigestellt worden. In dem Wissen, dass die Freistellung auf Druck von Unternehmern erfolgte, die Enthüllungen in einem von ihm betreuten Buchprojekt fürchten, glaubt Horwart, Ziel einer weitergehenden Kampagne zu sein. Zum Unmut seiner Frau Vera, die diese Einschätzung nicht teilt, reagiert er zunehmend gereizt auf verschiedene Alltagsveränderungen. In ihrem idyllisch gelegenen Haus an der nördlichen Havel beginnt sich Horwart, ungeachtet der ungewissen Situation, mit dem langgehegten Kinderwunsch Veras anzufreunden. Einer, der mehr weiß, ist der junge Kulturwissenschaftler Marten Lobhut, der als Quereinsteiger in der Berliner PR-Agentur C.R.O.O.R.G. als Mitarbeiter der Kampagne gegen Horwart mitwirkt. Seit seinem Einstieg allerdings sieht sich Marten zunehmend verunsichert durch die dubiosen Methoden seines Chefs C. F. Kainz, der ihn nicht nur über den Zweck der Kampagne im Unklaren, sondern auch zunehmend mit manipuliertem Material arbeiten lässt und offensichtlich illegal mit sensiblen Daten ausstattet. Der Loyalität zu seinem Vorgesetzten verpflichtet und zunächst überzeugt von einer noch nicht offenbarten Legitimation für die Kampagne, nimmt Marten innerlich zunehmend Abstand zu den fragwürdigen Methoden. Und dann gibt es noch den Cartoon- und Comiczeichner Peter Jakob, der Marten Lobhut für die Firma angeworben hat, dabei aber längst selbst mit seinem Job hadert und neuerdings merkwürdige Dinge erlebt. Erst spät zeichnet sich für beide eine Lösung ab, den Job, an den sie auch als Mitwisser gebunden sind, zu beenden. So überrascht Mortons Freundin Ella, deren Vater sich als Diplomat erweist, ihren Partner mit der Nachricht, dass die von ihm betreute Kampagne weit über die Landesgrenzen bereits Kreise gezogen hat. Tim Horwart sei bei einer einflussreichen Person in Ungnade gefallen. Dann wird Kainz entführt. Bald stehen sich Marten Lobhut und Tim Horwart in dessen Haus gegenüber.

In West-Berlin geboren und aufgewachsen, studierte Berthold Ansohn an der Freien Universität Berlin Germanistik und an der Universität Hildesheim Angewandte Kulturwissenschaften, war dort Lehrbeauftragter, arbeitete in verschiedenen niedersächsischen und Bremer Kultureinrichtungen und als freier Kulturjournalist. Er lebt mit seiner Familie in Bremen. 'Eingeschränkte Sicht' ist sein erster Roman.

In West-Berlin geboren und aufgewachsen, studierte Berthold Ansohn an der Freien Universität Berlin Germanistik und an der Universität Hildesheim Angewandte Kulturwissenschaften, war dort Lehrbeauftragter, arbeitete in verschiedenen niedersächsischen und Bremer Kultureinrichtungen und als freier Kulturjournalist. Er lebt mit seiner Familie in Bremen. "Eingeschränkte Sicht" ist sein erster Roman.

Die Drohne



Vera kam spät nach Hause. Als sie den Wagen vor dem Haus parkte, war es kurz vor zehn. Auf dem Heimweg hatte sie den rötlich-blauen Abendhimmel genossen und aus den hellen Vierecken in der Silhouette ihres Hauses geschlossen, dass Tim noch wach war. Vera hatte sich, nachdem sie das Büro verlassen hatte, von Marliese zu einem alkoholfreien Hefeweizen überreden lassen und merkte jetzt, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. Sie hatte nicht daran gedacht, vielleicht auch nicht daran denken wollen, dass Tim zuhause mit großer Wahrscheinlichkeit auf sie wartete und hoffte, die Sache von heute Morgen zu bereinigen. Wäre es ihm allerdings wichtig gewesen, hätte er sie auf dem Handy anrufen können. Aber, und das wusste sie auch, war er besser darin, vorwurfsvoll zu Hause zu warten und dann die ganze Palette des Beleidigtseins gegen ihr ja nun offensichtlich unverzeihliches Verhalten aufzufahren. Da aber er wegen heute Morgen in ihrer Schuld war, betrat Vera ihr Grundstück nach Abschütteln aller Bedenken mit der Leichtigkeit, zu der ihr die zwei Stunden mit Marliese verholfen hatten.

Wie oft an milden Abenden betrat Vera das Haus nicht sofort, sondern ging den kleinen Pfad, der in einem Bogen um das Haus führte, in Richtung des Flusses. Sie ging zur gläsernen Terrassentür, um zu sehen, ob Tim im schwach beleuchteten Wohnzimmer war. Als erstes sah sie das Flimmern des Fernsehers, dessen Licht auf das Sofa fiel und auf Tim, der in Schräglage eingeschlafen war. Sie beobachtete ihn, ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen und merkte, dass sie zufrieden war. Zufrieden in der Weise, dass sie alle Gedanken nun darauf konzentrieren konnte, was es war, das ihnen vielleicht noch fehlte. Etwas zwischen ihr und Tim, das in den letzten Jahren zu kurz gekommen war. Sie verdrängte den Gedanken. Es war gut. Sie atmete tief durch, ging den Rasen entlang bis ans Flussufer und hörte die Nacht mit der Vielfalt ihrer Laute. Sie hielt einige Minuten inne und ging über den Pfad zurück zur Haustür.

Tim musste schon eine Weile schlafend auf dem Sofa gelegen haben, denn was seit einer Stunde auf dem Bildschirm lief, hatte ihn in all den Jahren nicht interessiert. Sie setzte sich zu ihm, beugte sich über ihn und betrachtete, wie er schlief. Zu schade zum Wecken, dachte sie sich. Doch dann weckte sie ihn sanft und fragte ihn, ob er nicht am nächsten Tag früh herausmüsse. „Hab‘ für die ganze Woche Urlaub genommen“, antwortete Tim im Halbschlaf, wach genug, um aufzustehen und sich auf den Weg ins Bett zu machen. „Hallo Schmusewolke“, sagte er zu Vera und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Wenn er „Schmusewolke“ sagte, was seit Jahren nur sehr selten vorkam, musste es ihm gutgehen. Im Schlafzimmer angekommen, fiel er gleich ins Bett. Wenig später folgte ihm Vera. Sie kuschelte sich an Tim, der bereits eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen stand Tim mit Vera auf. Tim deckte den Frühstückstisch und bereitete den Kaffee vor, während Vera duschte. Tim war um diese Uhrzeit noch nicht zu Gesprächen aufgelegt, im Gegensatz zu Vera, die vergnügt schien.

„Marliese hat mir ihre Methode verraten, in kurzer Zeit fünf Pfund abzunehmen. Sie hat herausgefunden, dass ihr Übergewicht nur von Süßigkeiten kommt.“

„Ach so“, knurrte Tim.

„Ich weiß, das ist keine besonders weltbewegende Einsicht.“

„Das wollte ich in etwa sagen.“

„Dabei isst sie nicht diese ganzen Extrem-Dickmacher. Nein, es sind Kekse.“

Tim blickte abwartend.

„Das heißt, sie hat lange Zeit nachmittags zu viele Kekse gegessen. Wenn sie abends ihre Rohkost und Salate aus dem Kühlschrank nahm, dachte sie, es wäre ja das Erste, das sie seit dem Frühstück zu sich genommen hätte.“

„Du meinst, sie leidet unter Gedächtnisstörungen.“

„Nein, sie ist sich nur darüber bewusst geworden, dass sie einfach weniger Kekse essen muss.“

„Vera, ich unterhalte mich gerne mit dir. Aber entweder es kommt jetzt eine Pointe, oder ich lese lieber in deiner Illustrierten.“

„Illustrierten“, zitierte Vera anklagend.

„Also gut. Lifestyle-Magazin für die Frau von heute.“

„Die Pointe ist: Sie hat einen Weg gefunden, weniger Kekse zu essen. Statt einer ganzen Packung isst sie jetzt nur noch zwei Kekse. Dann packt sie die Packung wieder weg. Und weißt du, wie sie das macht? Also: Sie isst die zwei Kekse, und dann sagt sie: `Mmh, war das gut´. Fertig.“

Tim schwieg ernst und versuchte, eine gestische Entsprechung für den Begriff Ungeduld zu finden.

„Verstehst du? Sie sagt: `Mmh, war das gut´. Damit ist das Thema erledigt. Sie kann sich jetzt auf etwas anderes konzentrieren. Auf diesem Weg hat sie fünf Pfund Gewicht verloren.“

„Selten so gelacht.“

„Jetzt schau nicht so humorlos. Es ist ernst gemeint.“

„Vera, es ist Quatsch.“

„Wenn du es nur Quatsch finden würdest, dann würdest du lachen. Und selbst Quatsch machen. So wie früher.“

„Du hast Recht. Das ist kein wirklicher Quatsch. Das ist eine Methode der Infantilisierung, die Erwachsene zu Kleinkindern macht. Mit `Mmh, war das gut´ fängt es an, und als Nächstes versucht man, dich lebenslang an ein Schaukelpferd zu ketten. `Kinder an die Macht´? Unbedingt. Denn die Erwachsenen drehen alle durch. `Mmh, war das gut´. Vera, das ist Blödsinn. Vollkommener Blödsinn.“

„Versuch es doch selbst mal.“

„Vera, ich bitte dich! Wie kommst du überhaupt darauf, mir das zu erzählen?“

„Ich dachte, da du auch so ein Keks-Esser bist, könntest du vielleicht auch etwas gegen deinen Bauchansatz tun.“

„`Ansatz´. Du bist nett. Danke.“ Tims Ausdruck nahm bei aller Ironie wieder Leben an. „Aber seit Jahren lobst du meinen Bauch.“

„Das stimmt. Ich liebe ihn. Aber manchmal erinnere ich mich an die ersten Jahre. Und dann denke ich mir: warum nicht mal wieder an diese Zeit anknüpfen? Einen Bauch bekommen können wir in zwanzig Jahren immer noch.“

Tim blickte nachdenklich und biss in sein Marmeladentoast.

„Tim“, begann Vera, „warum hast du heute Urlaub genommen? Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, ich muss heute erst gegen neun Uhr los. Aber…war irgendwas?“

Tim schaute Vera kauend ins Gesicht, dann zur Seite und ließ erkennen, dass er nachdachte.

„Ja, es war irgendwas. Es mehren sich die Anzeichen, dass das Projekt, du weißt, dass dieses Projekt nicht stattfinden wird.“

Veras Blick nahm einen besorgten Ausdruck an. „Weil du nicht mehr dahinterstehst?“

„Nein, Vera. Ich stehe mehr dahinter als je zuvor. Aber eine wachsende Mehrheit von Zweiflern formiert sich gerade, Macht des Faktischen zu werden.“

Beide schwiegen.

„Aus dem Verlag sind Einzelheiten über das Buch nach außen gedrungen. Eine Bürgerinitiative hat unserem Chef einen Brief geschickt. Die Leute behaupten, es würden bewusst unbequeme Fakten wider besseres Wissen verschwiegen. Kurze Zeit später hat der Direktor der Firma, die in einem der Kapitel erwähnt wird, mit Konsequenzen gedroht, wenn das Kapitel erscheint. Der Direktor scheint gut vernetzt. Seine Drohung scheint so viel Gewicht zu haben, dass im Verlag jetzt ein neuer Wind weht. Keine Konfrontation. Aber auch kein Buch. Ich habe für das Buch gekämpft. Ich stehe dumm da, wenn es sich jetzt in Luft auflöst.“

„Aber wer hat Recht? Wenn die Leute von der Initiative die Wahrheit sagen, müsstest du vielleicht mal mit dem Autor ein Wörtchen reden.“

„An Aussprachen hat es nicht gemangelt. Er sagt, die Vorwürfe gingen am Thema des Buches vorbei. Wenn es erscheint, sind Proteste vorprogrammiert. Das wäre die Antiwerbung, die der Direktor verhindern will.“

„Aber würde der Direktor mit derartigem Aufwand das Buch verhindern wollen, wenn nichts an den Vorwürfen dran wäre?“

„Kann sein, muss aber nicht. Im Augenblick sieht es aber so aus, dass wir es nicht erfahren werden. Wissen wir, ob die Bürgerinitiative nicht im Auftrag einer Konkurrenzfirma agiert? Also: vielleicht wird es Ärger geben, aber dieser Ärger wird mit immer größerer Wahrscheinlichkeit seinen Anlass nicht in dem Buch finden. Weil es, wie es jetzt aussieht, nicht erscheinen wird.“

Vera schaute auf die Uhr. „Ich muss los.“

„Ach, Vera“, sagte Tim und zögerte einen Moment. „Es könnte sein, dass ich bald nicht mehr Lektor in dem Verlag sein werde.“

Einen Augenblick lang meinte Tim in Veras Gesichtsausdruck eine Regung der Freude erkannt zu haben. Aber als sie das Haus verließ und sich noch einmal zu Tim umdrehte, stand ihr die Sorge ins Gesicht geschrieben. Tim hörte, wie die Tür zufiel. Und sich wieder öffnete. Herein trat Vera, sah Tim an, formte ihr Gesicht zu einer Grimasse, die einen Hund darstellte, und bellte. Dann miaute sie auf eine Weise, die an Huckleberry Finn erinnerte, ließ ein aufrechtes Lächeln folgen, drehte sich um und ging.

Veras Lächeln hatte sich auf Tim übertragen. Er spürte, wie Tränen seine Augen benetzten. Gerade hatte sie ihn an einen Moment ihrer ersten Wochen erinnert. Tim ging mit langsamen Schritten zum Sofa und fläzte sich hin. Eine Viertelstunde schaute er regungslos aus dem Fenster, wohin der Sturm den Ast der Eiche befördert hatte, der immer noch darauf wartete, entsorgt zu werden. Er stand auf, ging zur Terrassentür, öffnete sie und ging in aller Ruhe an das Flussufer, wo er eine kleine Hand voll Ewigkeit lang verharrte. Er ließ den Blick den Horizont entlangwandern und fühlte sich auf seinem Boden aufgehoben.

Dann sah er etwas am Himmel. Die Überraschung, die er in diesem Moment...

Erscheint lt. Verlag 12.1.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ambivalenz • Beziehung • Desinformation • Ehe • Emotion • Gewissenskonflikt • Humor • Kampagne • Liebe • Paranoia-Krimi • Satire
ISBN-10 3-7565-6878-4 / 3756568784
ISBN-13 978-3-7565-6878-9 / 9783756568789
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