Böhmerwaldgeraune -  Marianne Brugger

Böhmerwaldgeraune (eBook)

Viktoria im Sturm der Zeiten
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
226 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-6894-9 (ISBN)
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Ein autobiographisch geprägter Roman, der auch bäuerliches Leben und Brauchtum im damaligen Sudetenland aufzeigt. Eingewoben in Viktorias Lebensgeschichte sind geschichtliche Ereignisse wie die Zeit unter der NS-Herrschaft, Kriegsgeschehnisse, Vertreibung und der nachfolgende Neuanfang. Die Bauerntochter Viktoria, Jahrgang 1904, wächst mit ihren Geschwistern in einem böhmischen Dorf auf. Ihr Vater erzieht die Kinder mit harter Hand, was dazu führt, dass einer ihrer Brüder den Freitod wählt. Auch seiner Tochter Viktoria zwingt der Stepaner Bauer unbarmherzig seinen Willen auf. Wissend, dass sie bereits eine Liebschaft mit einem jungen Tschechen unterhält, verspricht er sie dem Nachbarssohn. Auch ihr weiteres Leben ist durch Schicksalsschläge geprägt. Doch aller Unbill zum Trotz gibt Viktoria nie auf...

Marianne Brugger lebt mit ihrer Familie in Aichwald. Mit ihrer ersten Kurzgeschichte 'Reise ins Dunkel der Nacht' gewann sie im Jahr 2008 den überregionalen Schreibwettbewerb 'BahnAugenBlick'. Zwei weitere Kurzgeschichten wurden in einem Autorenportal jeweils zum 'Manuskript der Woche' gekürt. Weitere Veröffentlichungen folgten. Ein Verzeichnis finden Sie auf ihrer Homepage www.MarianneBrugger.de.

Marianne Brugger lebt mit ihrer Familie in Aichwald. Mit ihrer ersten Kurzgeschichte "Reise ins Dunkel der Nacht" gewann sie im Jahr 2008 den überregionalen Schreibwettbewerb "BahnAugenBlick". Zwei weitere Kurzgeschichten wurden in einem Autorenportal jeweils zum "Manuskript der Woche" gekürt. Weitere Veröffentlichungen folgten. Ein Verzeichnis finden Sie auf ihrer Homepage www.MarianneBrugger.de.

Gesen 1913 - Abschied



Viktoria hastete keuchend den Hügel hinauf. Die Stoppeln des abgeernteten Getreidefeldes malträtierten ihre nackten Fußsohlen. Doch das nahm das Mädchen genauso wenig wahr, wie das Gesumms der Wildbienen, die am angrenzenden Waldrand einen abgestorbenen Baum umschwirrten.

„Autsch!“ Abrupt blieb Viktoria stehen, winkelte ihren Fuß an und besah ihre Ferse, bevor ihre Augen den Boden absuchten. Dieser vermaledeite Stein! Hatte der ausgerechnet unter dem einzigen Strohbüschel liegen müssen, das nicht aufgelesen worden war. Und dann auch noch mit der scharfen Kante nach oben. Sie steckte ihren Finger in den Mund und befeuchtete die kleine Schramme, aus der ein winziges Rinnsal sickerte. Augenblicklich nahm ihre Fingerkuppe eine rötliche Färbung an. Ohne lange zu überlegen, beschloss sie, sich nicht darum zu scheren. Im Vergleich zu den harten Fäusten ihres Vaters, die auf sie niederprasseln würden, wenn sie es nicht rechtzeitig nach Hause schaffte, war diese kleine Blessur das weitaus geringere Übel.


Als ob es so einfach gewesen wäre, sich sofort auf den Heimweg zu machen, gleich nachdem sie Tante Mitzi Onkel Vaclavs Lohn ausgehändigt hatte. Tante Mitzi hatte ihr eine von den Buchteln versprochen, die aber leider noch im Rohr gewesen waren. Derweilen hatte ihr Milena ein Lied vorgesungen, das sie vor kurzem in der Schule gelernt hatte. Oh, ihre Cousine hatte es gut! Milena durfte sogar den Sommer über die Schule besuchen und wurde nicht wie sie – auch ihren Geschwistern erging es nicht anders – über Monate hinweg vom Unterricht befreit und währenddessen bei der Feldarbeit eingespannt. Dass Milenas Vater seinen spärlichen Taglöhnerlohn in der Wirtschaft versoff, wenn sie ihn nicht bei Tante Mitzi ablieferten, war gewiss schlimm. Aber waren sie denn so viel besser dran? Schließlich war auch bei ihnen auf dem Stepanerhof hin und wieder Schmalhans Küchenmeister. Und auch sonst bekamen sie oft genug von der Mutter zu hören:


„Der Vater braucht Kraft für die Arbeit, also langts ihr nicht gar so arg zu!“


Pah, wie wenn es stimmen würde, dass es nur daran lag, dass er so viele Mäuler zu stopfen hatte. Es wussten doch alle, dass er Stammgast beim Gesener Wirt war. Und wenn er gar zu heftig über den Durst getrunken hatte, gab er dort auch mal eine Runde nach der anderen aus. Spätestens im August, zu Kaiser Franz Josephs dreiundachtzigstem Geburtstag, würde er wieder alle freihalten. Auch beim letztjährigen Geburtstag des Kaisers war es so gewesen. Einen Monat später war sie acht Jahre alt geworden. Doch da hatte der Vater lediglich „Gratulier“ gemurmelt und ihr die leere Hand hingestreckt.


Nur ein bisserl verschnaufen. Keuchend blieb Viktoria stehen und stützte ihre Hände auf den Knien ab. Obwohl sie immer noch schwer atmete, richtete sie sich wieder auf und sah in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ungeachtet der gebotenen Eile ließ sie ihre Blicke über die artenreiche Landschaft und das dichte Waldgebiet schweifen. Je nach Jahreszeit umschmeichelten sattes Grün, blau blühender Lein und goldgelbes Getreide die sanft geschwungenen Hügel des Böhmerwalds.


Von Seewiesen her drangen dumpfe Glockenschläge herüber. Viktoria erschrak: Schon so spät! Bei ihrer Seel‘, keine Sekunde durfte sie weiter fürs Rasten vergeuden!

Gleich war‘s geschafft! Hinter dem Hügelkamm tauchte das schindelgedeckte Walmdach des Stepanerhofs auf. Wenig später waren auch die hölzernen Stallungen zu sehen, die sich unterhalb des Bauernhauses befanden. Jetzt musste sie nur noch die hofeigene Wiese hinauf und sich, damit die Mutter nicht schimpfte, im klaren Bachwasser den Schmutz von den Füßen waschen!


Viktorias Mutter stand in der dunklen, rußgeschwärzten Küche und knetete mit ihren abgearbeiteten Händen den Brotteig. Ihr nach hinten geknotetes Kopftuch, das sie sommers wie winters trug, hatte sie weit hinter den Haaransatz geschoben. Der Bauch der Stepanerin wölbte sich unter der mehlbestäubten Schürze nun schon zum zehnten Mal. Leider hatten zwei ihrer Kinder die irdische Welt schon bald wieder verlassen müssen.

Als Viktoria neben sie trat, sah die hagere Frau kurz auf.


„Der Vater ist schon auf dem Feld. Hab‘ ihm gesagt, dass er dich nicht mitnehmen kann, weil ich dich fürs Backen brauch‘.“


Innerlich schlug Viktoria drei Kreuzeszeichen. Er hatte also gar nicht gemerkt, dass sie sich verspätet hatte. Hoffentlich hatte er seinen Unmut nicht an der Mutter ausgelassen. Schließlich kam es bei der Feldarbeit auf jede Hand an.


Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trat Elisabeth Kollroß zur Seite und überließ ihrer Tochter die Arbeit am Trog. Viktorias Hände versanken fast bis zum Ellenbogen in der klebrigen Masse. Eifrig, sich die Müdigkeit vom schnellen Heimmarsch nicht anmerken lassend, knetete und walkte sie den Teig fast ebenso kraftvoll wie zuvor ihre Mutter. Viktorias Wangen röteten sich vor Anstrengung. Ohne ihre Arbeit auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, blies sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die sich aus einem ihrer Zöpfe gelöst hatte.


Elisabeth Kollroß schabte Teigreste von ihren Fingern und ließ sie in die Blechwanne fallen. „Und wie geht’s drüben? Was hat meine Schwester zu erzählen gehabt?“


„Sind alle wohlauf! Halt immer das Gleiche, du weißt schon.“


Die Bäuerin nickte. Sie griff sich das große Holzbrett, das neben dem Küchenschrank an der Wand lehnte, und legte es an der Blechwanne an. Das Mädchen hörte auf zu kneten und übergab den runden Laib ihrer Mutter, die den Batzen mit wenigen Handgriffen nochmals in Form walkte. Schon oft hatten sie auf diese Weise zusammengearbeitet, sodass es nun keiner Worte bedurfte.


Viktoria fühlte sich wohl in der Nähe der Mutter, spürte instinktiv die Herzenswärme der vergrämt wirkenden Frau. Elisabeth Kollroß tauschte mit ihren Kindern keine Zärtlichkeiten aus. Alleiniger Ausdruck ihrer Zuneigung war, dass sie ihren Mädchen des Morgens sanft das Haar auskämmte, bevor sie es behutsam in Stränge aufteilte und ohne jedwedes Ziehen und Zerren zu Zöpfen flocht. Vor dem Kirchgang befeuchtete sie bisweilen Zeige- und Mittelfinger und zog mit spuckfeuchten Fingern die Scheitel ihrer Söhne nach. Anders als ihr zum Jähzorn neigender Mann drosch sie nie auf ihre Kinder ein.


Auch beim abendlichen Melken war von Viktorias Besuch „beim Tschechen“ – innerhalb der Familie wurde kaum jemals Vaclavs Vorname genannt – die Rede. Für die drei Schwestern war das Abendmelken die schönste Stunde am Tag. Meist füllten sie diese Zeit mit Singen aus oder erzählten sich, was tagsüber vorgefallen war. Mit ihrer hellen klaren Stimme trug Viktoria das Lied vor, das sie erst wenige Stunden zuvor von Milena gelernt hatte. Doch lediglich Marie stimmte in den Kehrvers mit ein. Johanna saß still auf dem zweibeinigen Melkschemel und zog mechanisch an den Zitzen einer dreckverkrusteten Kuh. Es war nicht ungewöhnlich, dass die älteste der Stepaner Töchter ihre Arbeit still und in sich gekehrt verrichtete. Doch dass sie jetzt bei dieser schwungvollen Melodie nicht einmal mitsummte, wunderte Viktoria dann doch.


„Johanna, was hast du denn?“, fragte sie und sah dabei weiter zu ihr hinüber.


„Ich muss fort. Schon übermorgen. Der Vater hat mich zum Onkel verdingt.“


„Zum Onkel nach Wien?“, fragte Viktoria, obwohl es ja gar nicht anders sein konnte.


Johanna nickte stumm. Dicke Tränen kullerten über ihre Jungmädchenbacken. Marie, in deren Gesicht Bedauern lag, stellte ihren verbeulten Melkeimer so schwungvoll auf dem Boden ab, dass etwas Milch überschwappte und lief zu ihrer Schwester. Mitfühlend legte sie ihre Arme um deren Schultern und schmiegte ihren Kopf an sie.


Viktorias Mitleid hielt sich jedoch in Grenzen. Insgeheim beneidete sie ihre Schwester. Wien! Wenn der Vater sie dorthin schicken würde, sie würde sich mit fliegenden Fahnen fügen. All die Prachtbauten und die Aussicht, auch einmal im Prater zu flanieren. Der Vater hatte erzählt, dass der Gaul seines Bruders den Weg zum Markt alleine fand. Während Onkel Joseph schlafend auf dem Kutschbock saß, zog sein Pferd das gemüsebeladene Fuhrwerk gen Innenstadt. Immer mehr verfielen Viktorias Gedanken ins „Was wäre, wenn?“. Oh, wenn es um sie ginge, sie würde in Wien wunderbar zurechtkommen! Wenn sie dem Onkel genug Honig um den Bart schmierte, dürfte sie bestimmt mit und wahrscheinlich auch am Marktstand verkaufen. Wie man die Stadtfrauen zu behandeln hatte, konnte sie sich beim Onkel abschaun. Sicher hatte er sich nur wegen des Marktgeschäfts diesen Wiener Charme, den der Vater spöttisch als „Schmäh“ abtat, angeeignet.


Am nächsten Tag durfte nur Viktoria die abreisende Schwester zum Bahnhof begleiten. Da es von Gesen bis nach Bayerisch Eisenstein eine beträchtliche Wegstrecke war, brachen sie kurz nach Sonnenaufgang auf. Nicht mal seinen Pappkoffer hatte der Vater hergeben wollen. Stattdessen trug Johanna ihre wenigen Habseligkeiten – in verblichenes Linnen gewickelt und zu einem Bündel geschnürt – auf dem Rücken.


Auch Viktoria war klamm ums Herz. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie es ohne ihre Schwester sein würde. Seit sie denken konnte, waren sie fast immer beieinander gewesen, hatten auch gemeinsam in einem Bett geschlafen. Fast die halbe gestrige Nacht hatten sie sich vagen Hoffnungskeimen hingegeben. Hatten bei ihren...

Erscheint lt. Verlag 25.12.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bauernleben • Böhmerwald • Brauchtum • Erinnerungen • Flucht • Frauenschicksal • Krieg • NS-Zeit • Sudetenland • Vertreibung
ISBN-10 3-7565-6894-6 / 3756568946
ISBN-13 978-3-7565-6894-9 / 9783756568949
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