So ist das nie passiert (eBook)
400 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31018-9 (ISBN)
Als Willa ein Teenager war, verschwand ihre kleine Schwester Laika spurlos. Auch über zwanzig Jahre später hat Willa die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Laika noch lebt. Hartnäckig sucht sie weiter nach ihr. Sie sehnt sich nach der Familienidylle, die mit Laika verloren zu sein scheint. Darüber vernachlässigt sie die Beziehungen zu den Menschen, die tatsächlich noch Teil ihres Lebens sind. Dann trifft sie auf einer Dinnerparty eine Frau, in der sie endlich ihre verlorene Schwester zu erkennen glaubt. Was als zwangloses Essen beginnt, wird zu einem denkwürdigen Abend, der alles verändert, was Willa von ihrem Leben zu wissen meinte.
Sarah Easter Collins ist in Kent, England, aufgewachsen und hat in Exeter studiert, bevor sie nach Botswana und später nach Thailand und Malawi zog, um dort Kunstunterricht zu geben. Ihre große Leidenschaft neben dem Schreiben ist die Malerei. Für ihre Bilder lässt sie sich von Erinnerungen an Orte inspirieren, die ihr viel bedeuten, sowie von der Landschaft um sich herum: das wunderschöne Exmoor, eine faszinierende Heidelandschaft voller Moore und Wälder, wo sie mit ihrem Sohn Luke, ihrem Mann und ihren Hunden lebt. Hier liebt sie es, durch die unberührte Natur zu laufen und in den wilden Flüssen und Seen schwimmen zu gehen.
3
ABENDESSEN MIT FREUNDEN
ROBYN
Willa kommt in die Küche. Sie schenkt mir ein rasches, unsicheres Lächeln, dann blickt sie zur Diele, wo Stimmen zu hören sind: Jamie unterhält sich mit Cat. Ich ziehe sie an mich. Ihre Haare duften nach Rose und Ambra und noch etwas anderem, etwas Sommerlichem, vielleicht Orangenblüten, Klementinen.
»Wegen heute Vormittag«, sagt sie, und ihre Stimme ist ein tiefes, drängendes Wispern. »Ich …«
Sie bricht ab, als Sophie, unsere Fünfjährige, hereingestürmt kommt, ihre Arme um meine Freundin schlingt und sie beinahe umwirft. Es wird noch warten müssen.
»Lass Willa doch erst ihren Mantel ausziehen«, sage ich lächelnd, als Willa sich graziös wie eine Tänzerin vor Sophie verbeugt und ihr ein Buch und ein Kuscheltier, ein graues Kaninchen in einer Paisley-Weste, überreicht. Sie fährt mit einer Hand über die dunklen Haare unserer Tochter und streichelt ihre Wange. In dem dunkelgrünen Wickelkleid, das wunderbar mit ihren rötlichen Haaren kontrastiert, sieht Willa atemberaubend, wahrhaft schön aus. Große Brillanten funkeln an ihren Ohrläppchen. Sie scheint absolut perfekt: hohe Wangenknochen, schmale Hüften und lange Beine.
»Wow«, sage ich. »Du siehst fantastisch aus.«
»Seht euch die mal an«, sagt Cat, die mit einem riesigen Strauß aus Rosen, Pfingströschen, Disteln und Eukalyptuszweigen in den Händen die Küche betritt. Ihr folgt Jamie, der zwei teuer aussehende Weinflaschen im Arm hält. Er beugt sich herab und küsst mich mit einer für einen Mann von seiner Größe unerwarteten Zartheit auf die Wange, seinem warmen Atem auf meiner Haut haftet der süßsaure Geruch eines vor Aufbruch eingenommenen Drinks an.
»Robyn«, sagt er geschmeidig im tiefen Tonfall eines Radiomoderators einer Late-Night-Show, »es ist immer so schön, dich zu sehen.«
Willa bietet an, Sophie nach oben ins Bett zu bringen, sodass wir Jamie unterhalten müssen. Neben ihm sieht meine feingliedrige Ehefrau wie eine Zwergin aus. In unserer vollgestopften viktorianischen Küche wirkt er zu breit, zu groß, wie ein Luxus-Kreuzfahrtschiff eingezwängt in einen schmalen venezianischen Kanal, und augenblicklich keimt in mir der Wunsch, er möge sich hinsetzen. Ich ziehe einen Stuhl vor und lächle Cat kurz zu, als er sich darauf niederlässt. Er schlägt ein Bein übers andere, Fußknöchel aufs Knie, und schaufelt sich aus einer Schale eine Handvoll Mandeln in den Mund. Ich mache einen Bogen und setze mich neben Jamie, während Cat die Blumen in eine Vase stellt. Er lehnt sich zurück und legt schwerfällig einen Arm auf meine Stuhllehne, worauf ich mich nach vorne beuge und die Ellbogen auf dem Tisch abstütze.
»Warum kümmere ich mich nicht um den Wein?«, sagt er. »Und mache mich nützlich.« Er mustert das Etikett auf einer der Weinflaschen. »Gib mir einen Korkenzieher, dann öffne ich die hier, wenn du willst.«
»Wir haben auch Schampus«, sage ich. »Oder vielleicht magst du einen Aperitif? Wodka? Gin? Ich mixe einen großartigen Martini.«
»Schon gut«, erwidert er, zieht den Korken heraus und schenkt sich ein großes Glas von dem samtigen Wein ein. »Das hier genügt.« Für den Bruchteil einer Sekunde fällt mir nichts ein, was ich zu Jamie sagen könnte, einem Mann, den ich seit beinahe zwei Jahren kenne. Willa soll wieder zurückkommen, ich brauche diese anmutige, schöne, vertraute Frau als unsere gemeinsame Basis. Er nimmt einen großen Schluck Wein, und ich folge seinem Blick, als dieser einmal langsam durch unsere Küche mit den Überbleibseln unseres Familienlebens wandert – über die Zeichnungen und Fotos am Kühlschrank, die Elternbriefe vom Kindergarten hin zu dem Haufen kleiner Schuhe an der Hintertür und einem herrenlosen, vergessenen Teddybär. Ich schiebe einen Teller mit Kanapees in seine Richtung, und er wählt ein quadratisches Häppchen Roggenbrot mit Frischkäse, roter Paprika und Kaviar. Ein Fischei bleibt an seiner Unterlippe kleben, und als er wieder zu sprechen beginnt, muss ich immerzu auf diesen kleinen schwarzen Fleck schauen.
»Interessante Art der Reparatur«, sagt er und fährt mit einem Finger über die silbernen Linien unserer Lieblingsschale. Ein breites Grinsen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. »Konntet ihr euch keine neue leisten?«
Ich lächele. »Es nennt sich Kintsugi. Diese Technik steht für Heilung und Vergebung. Dinge mit Liebe auszubessern. Meine Eltern haben sie Cat und mir zur Hochzeit geschenkt.«
»Ach, du liebe Güte.« Sein Tonfall klingt amüsiert. »Sie gehen wohl davon aus, dass ihr beide euch streitet, oder? Dann pass auf dich auf, Robyn, wahrscheinlich kann Cat ziemlich gut mit einem Speer umgehen.«
Mir fällt die Kinnlade herunter, und Cat wendet sich so schnell vom Herd um, dass sie einen kleinen Teller von der Arbeitsplatte fegt. Mit einem lauten Knall schlägt er auf dem Boden auf.
»Entschuldigung«, sagt sie, »wie bitte?«
»Habe ich was verpasst?«, fragt Willa, die wieder in die Küche zurückkehrt.
Ein kurzer Moment des Schweigens. Einer der vielen Gründe, aus denen ich meine Frau liebe, ist ihr Mut. Sie lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, besonders, wenn sie das Verhalten anderer nicht in Ordnung findet. Sie steht ein für das, was sie für richtig hält. Noch nie habe ich erlebt, dass sie den Mund hält, wenn jemand einen rassistischen Kommentar abgibt. Sie sagt immer, was sie denkt, immer. Aber nun wirft sie Willa einen kurzen Blick zu und sieht mir dann direkt in die Augen. »Nein«, antwortet sie, »nichts.« Ein kleines, aber unmissverständliches Zeichen, nicht weiter zu bohren.
»Mit dem solltet ihr auch dieses Kin-Dingsda machen«, schlägt Jamie vor. Cat sammelt die Scherben auf und wirft die Bruchstücke in den Tretmülleimer. Man könnte denken, sie hätte ihn nicht gehört.
»Ich bring dir was zu trinken«, sage ich zu Willa. »Einen Gin Tonic?«
Mit Wolfsaugen blickt Jamie auf das Tablett mit den Kanapees. »Sie trinkt nichts«, sagt er. »Sie nimmt Wasser.«
»Aber ich möchte einen«, sagt Cat. »Wenn ich’s mir recht überlege, warum machst du nicht gleich einen doppelten draus?« Sie dreht sich wieder zum Herd, und die Küche füllt sich mit dem wärmenden Duft von Ingwer und Limette. Ich stelle ein großes Glas in ihre Reichweite, und als ich ihre Wange liebkose, wirft sie mir einen vielsagenden Blick zu und murmelt: »Heilige Scheiße.«
Ich tätschle ihren Arm und kümmere mich wieder um unsere Gäste. »Ich dachte, du würdest heute Abend vielleicht gern neben Michael sitzen«, sage ich zu Willa. »Er erkundigt sich immer nach dir.«
»Der Intelligenzbolzen, eh? Ihr beide seid also dicke Freunde? Liebling, davon hast du mir noch nie was erzählt.« Jamie füllt sein Glas nach und knurrt mit einem breiten Grinsen: »Sollte ich eifersüchtig sein?«
»Wen bringt er mit?«, fragt Willa.
»Sie heißt Liv, sonst weiß ich nicht viel von ihr. Meinem Eindruck nach ist sie etwas jünger als wir. Er hat gesagt, sie erinnert ihn ein bisschen an dich.«
»An mich?« Überrascht reißt Willa die Augen auf. »In welcher Hinsicht?«
»Keine Ahnung. Seine Nachrichten sind immer im Telegrammstil, als ob er für jedes Wort bezahlen müsste.«
»Es klingelt«, verkündet Cat. »Ich mach auf.«
Die Wangen von der Kälte gerötet und eine schlanke Frau vor sich her dirigierend, kommt leicht hinkend mein Bruder in die Küche. »Liv, das hier ist meine kleine Schwester«, stellt er mich vor, »und das ist die reizende Cat.« Mit aufrichtiger Herzenswärme umarmt Michael meine Frau und küsst sie auf beide Wangen, bevor er mich fest in die Arme schließt. Ich vergrabe meinen Kopf in seinem braunen Wollpullover, schlinge die Arme um seinen Körper und atme tief ein. Wie schafft Michael es, immer nach unserem Zuhause zu riechen? Heidekraut und Apfelholz; Torf, Weideland, nasser Hund. Auch Willa umarmt er und drückt ihr unbeholfen einen Kuss nahe dem Ohr auf, bevor er sie hastig Liv vorstellt. Dann wendet er sich an Jamie.
»Jamie«, sagt Michael. »Schön, dich zu sehen.«
»Der Mann der Stunde«, entgegnet Jamie und wirft Willa einen amüsierten Blick zu. Er lehnt sich über den Tisch und schüttelt Michael die Hand, dann erhebt er sich von seinem Stuhl, um Liv zu begrüßen, ein liebenswürdiges Lächeln auf seinem breiten, gut aussehenden Gesicht. Nach einem Wangenküsschen bietet er an, ihr den Mantel abzunehmen, bewundert die mitgebrachten Blumen und erkundigt sich interessiert nach ihrer Fahrt in die Stadt. Liv antwortet freundlich, aber ich denke, diese ganze Aufmerksamkeit kommt ihr wie ein Angriff aus dem Hinterhalt vor: Mir fällt auf, wie sie Michael ein leicht fragendes Lächeln zuwirft. Sie ist jung, nun, zumindest jünger als ich – vielleicht Anfang bis Mitte dreißig. Und ja, ich kann sehen, warum Michael gesagt hat, sie erinnere ihn an Willa. Vom Typ her ist Liv dunkler, und sie ist auch nicht so groß wie Willa, aber sie hat Willas schlanke Statur und ihre feinen Haare. Sie besitzt eine ähnliche Schönheit, volle Lippen und ein ovalförmiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Dann blicke ich zu Willa, die still abseits steht, so unbeweglich wie eine Figur in einem Gemälde. Aufmerksam betrachtet sie Liv, ihre eindringlichen grauen Augen nehmen jedes Detail von ihr auf.
Willa ist offensichtlich fasziniert.
»Nate und Claudette kommen zu spät«, sagt Cat, als sie von ihrem Handy aufblickt.
»Claudette?«, fragt Jamie.
»Französin«, erwidert Cat. »Sie spricht kein Wort Englisch.«
»Wie bitte?«, schalte ich mich ein....
Erscheint lt. Verlag | 1.5.2024 |
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Übersetzer | Carola Fischer, Beate Brammertz, Ute Brammertz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Things Don´t Break On Their Own |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • 22 Bahnen • Anika Landsteiner • Caroline Wahl • Celeste Ng • Der Papierpalast • eBooks • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Kristina Pfister • London • Miranda Cowley Heller • Neuerscheinung • Roman • Romane • Schwestern • vermisste Tochter • verschwundene Tochter |
ISBN-10 | 3-641-31018-0 / 3641310180 |
ISBN-13 | 978-3-641-31018-9 / 9783641310189 |
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