Flammenschwestern (eBook)
352 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-28641-5 (ISBN)
Als Kinder waren Katja und Vega unzertrennlich. Katja wuchs in einer zerrütteten Familie auf und Vegas Mutter ist viel zu früh verstorben. Die beiden Mädchen waren jedoch stets füreinander da, bis ein schicksalhafter Tag die beiden Freundinnen mit aller Wucht auseinandergerissen hat. Viele Jahre später erhält Vega einen verzweifelten Anruf von Katja, der sie zwingt, in das kleine Dorf ihrer Jugend zurückzukehren. Doch bei ihrer Ankunft fehlt von Katja jede Spur. Sofort kommt die Erinnerung an Katjas Tante zurück, die als Teenager vor mehr als dreißig Jahren verschwand. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Schicksalen? Vega muss Katja finden, bevor es zu spät ist - oder das dunkle Geheimnis, dass sie seit so vielen Jahren hütet, wird ihr Leben für immer zerstören.
Nach Abschluss der erfolgreichen Serie um die Ermittlerin Charlie Lager meldet sich Lina Bengtsdotter mit einem hochatmosphärischen Thriller zurück, den man nicht aus der Hand legen kann.
Lina Bengtsdotter wuchs in der schwedischen Kleinstadt Gullspång auf, die sie zum Setting ihrer beliebten Thriller-Serie um die Ermittlerin Charlie Lager machte, mit der sie auch in Deutschland die Bestsellerliste stürmte. Lina Bengtsdotter lebt in Stockholm.
Flammen
Wo fängt man an? Im großen Stil vielleicht, mitten in der Handlung, mit den Lügen und den Leben, die zu Ende gingen. Oder eher etwas zurückgenommener, mit dem besonderen Ort, an dem ich aufgewachsen bin, meinem hochgewachsenen Vater John und der wunderschönen Cecilia, meiner Mutter.
Jemand hat mir mal gesagt: Alle Geschichten können interessant oder uninteressant sein, es kommt immer auf den Erzähler an, Vega. Vergiss das nicht.
Wenn ich eine Erzählerin bin, ist es möglicherweise gar nicht so wichtig, wo ich anfange. Und wenn ich keine Erzählerin bin, ist es sowieso unwichtig.
Ich wurde am 1. Mai 1990 geboren, zwei Wochen zu früh und auf dem Badezimmerboden in unserem Haus. Papa brachte mich auf die Welt und behauptete danach, vom ersten Moment an gewusst zu haben, dass ich ein besonderes Kind war: Du hast schon geschrien, bevor du richtig aus dem Mutterleib gekommen warst. Wirklich wahr. So etwas habe ich zuvor noch nie erlebt.
Allerdings war Papa kein Geburtshelfer, sondern Vorarbeiter im Sägewerk Silverbro, der Mann, den man zuerst anrief, wenn etwas kaputtging. John Silver reparierte alles.
Eigentlich wohnten wir nicht in Silverbro, sondern in Mossen, sechs Kilometer außerhalb. Zwei einsame Höfe standen dort nebeneinander, Kvarnen und Stentorpsgården, inmitten von Weideland und einem Moor. Man sagte, das Moor habe keinen Grund, doch laut meiner Großmutter war das nur dummes Geschwätz. Natürlich hat es einen Grund, sagte sie, wenn ich mir ausmalte, wie ich den Halt verlieren und immer weiter einsinken würde, alles hat irgendwo ein Ende.
Ich weiß nicht, warum mich lebensgefährliche Dinge immer so anzogen. Sie schienen förmlich nach mir zu rufen. Komm!, schrien sie, komm näher, näher, nur ein bisschen noch. Ich balancierte auf rutschigen Felskanten, streckte die Finger zur elektrischen Säge aus, wenn Papa Holz zerkleinerte, und ging auf die dünne Eisdecke des Flusses.
Großmutter fand, dass Mama mich nicht streng genug erzog. Cecilia sollte besser auf mich aufpassen und mich warnen, was Mädchen zustoßen konnte, die so wild herumrannten wie ich.
Denk an Sofia, flüsterte sie manchmal. Vergiss nicht Sofia.
Und Mama sagte, dass niemand Sofia vergessen würde, dass ihr Name und ihre Geschichte immer ein Teil von Silverbro sein würden, aber dass sie deshalb meine Welt nicht kleiner machen würde.
Ein paar Kilometer von unserem Hof entfernt, in entgegengesetzter Richtung zum Ort, erstreckte sich der Storskogen. Ein alter Nadelwald, so dicht, dass die Sonnenstrahlen den Boden kaum erreichten. In manchen Teilen wuchsen plötzlich Laubbäume und wucherte Unterholz, das Terrain wurde hinterhältig sumpfig und unwegsam. Man raunte, dass sich dort schon Menschen verirrt und nicht wieder nach draußen gefunden hätten, man munkelte von Seelen, die in windstillen Nächten schrien, und dass man sich nicht von Elfen und Waldnymphen verzaubern lassen durfte. Diese Geschichten erzählte man sich in Silverbro, als ich klein war, und als ich groß genug war, um alles zu hinterfragen, tat ich es trotzdem nicht. Ich war ein Mädchen, das gern an Sagen und Märchen glaubte.
Dort also wohnten wir, zwischen Steinmauern, Wald und Mooren, die Familie Silver. Nicht viele wussten, dass wir eigentlich Johansson hießen. Papas Spitzname John Silver, den er als Kind bekam (wegen seiner weißen Haarsträhne an der linken Schläfe), wurde auch zu meinem und dem meiner Mutter. Cecilia und Vega Silver.
Unser Haus hieß Kvarnen, das alte Mühlenhaus, das schon seit Generationen im Besitz von Papas Familie war. Es war windschief und schlecht isoliert, und abends war es nie richtig still. Es klang, als wäre jemand auf der Treppe oder auf dem Dachboden. Papa, der Holzexperte, erklärte, dass Holz lebendiges Material war und es deshalb überall knackte und knarzte.
In unserem Haus ging immer etwas kaputt, Leisten lösten sich von der Wand, Türen klemmten, der alte Heizkessel gab den Geist auf. Ich wünschte mir oft, wir würden in der Stadt wohnen, in so einem eingeschossigen Haus, in dem es warm und alles ganz und einfach war, doch Mama sagte, unser Haus habe eine Seele, und die sei wichtiger als Bequemlichkeit. Großmutter rümpfte über so etwas die Nase. Häuser waren bequem oder unbequem, eine Seele hatten sie aber nicht.
Doch egal, ob mit oder ohne Seele, das Haus schien Großmutter trotzdem fest im Griff zu haben, denn sie weigerte sich, den Hof zu verlassen. Nach Großvaters Tod hatte sie ihn an Mama und Papa verkauft, sich aber frech in der alten Angestelltenwohnung auf dem Grundstück eingenistet. Da saß sie dann und trauerte dem Leben hinterher, das man ihr genommen hatte.
In dem anderen Außengebäude hatte Mama ihr Atelier, in dem all die Bilder standen, die niemand kaufen wollte. Der Schuppen hatte eine eigene Toilette, und Mama brachte dort oft Menschen unter, die ein bisschen den Halt verloren hatten, wie sie sagte. Frauen, die ihre Männer verlassen hatten, Anhalter ohne Ziel, Väter, die ihre Familien versoffen hatten. Mama war die Trösterin, die zuhörte und verstand. Sie sorgte für Wein, Essen und Zigaretten und sagte, dass man durchhalten, atmen und die Stunden vergehen lassen müsse. Doch das war alles vor meiner Geburt, danach war auf dem Hof kein Platz mehr für andere traurige Seelen als Mamas.
Sie ist aus dem falschen Holz geschnitzt, sagte Großmutter oft abends zu Papa, wenn Mama draußen im Atelier war.
Papa antwortete immer, dass Cecilia aus dem besten Holz geschnitzt sei und dass er sie liebe.
Natürlich, Liebe und das alles sei ja durchaus schön, meinte Großmutter, aber mit Menschen wie Cecilia, mit solchen … Künstlerseelen … nehme es nie ein gutes Ende. Das spürte sie genau. Das würde kein glückliches Ende nehmen.
Wir können nur hoffen, sagte Großmutter, wir können wirklich nur hoffen, dass das Mädchen nicht genauso wird.
Ich verstand nicht, was so schlimm daran wäre, wie Mama zu werden, denn so wie sie wollte ich immer sein. Mama konnte malen, Geschichten erzählen und entspannt mit fremden Menschen reden. Doch da hatte ich ihre andere Seite noch nicht gesehen, bis ich sie weinend auf dem Boden im Atelier fand, bis Papa sie mitten in der Nacht in der Stadt abholen musste, wo sie in Unterwäsche herumirrte, bis sie mit mir Ausflüge an seltsame Orte unternahm, bis sie in einem fünfzehn Quadratmeter großen Zimmer in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung landete.
Wenn Papa bei der Arbeit war und Mama malte, war ich oft bei Großmutter. Ich saß bei ihr an dem großen Webstuhl und sah zu, wie aus alten Fetzen Teppiche wurden, begleitet von einem regelmäßigen Klopfen, bei dem meine Gedanken abschweiften. So verbrachte ich die meisten Tage, bevor ich in die Schule kam, in meiner eigenen Welt mit Fantasiefreunden, sprechenden Tieren und mystischen Wesen. Doch als Mama für Freunde, die nur ich sehen konnte, den Tisch deckte und sie ins Bett brachte und sich geduldig meine endlosen Geschichten anhörte, wurde Großmutter schon skeptischer.
Bleib bei der Wirklichkeit, sagte sie, wenn ich ihr meine Geschichten erzählte, die Wirklichkeit ist schwer genug, da muss man nicht auch noch etwas erfinden.
Mama fand es lustig, dass Großmutter, die Märchen und Geschichten so kritisch gegenüberstand, gläubig war. Cecilia war Atheistin, konnte aber trotzdem lange Zitate und Stammbäume aus der Bibel aufsagen. Jakob und seine Söhne, Abschnitte aus den Korintherbriefen, dem Buch der Psalmen und dem Johannesevangelium. Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte setzt sein Leben für die Schafe ein.
Warum wusste Cecilia so viel darüber, wenn sie nicht an Gott glaubte?
Sie sagte, dass Märchen nicht wahr sein müssten, damit man an sie glauben könne.
Großmutter sagte, wenn man nicht an Gott, unseren Herrn glaube, dann werde man auch nicht mit dem ewigen Leben belohnt.
Doch Mama wollte gar nicht ewig leben. Für sie klang das wie ein Albtraum, aus dem man nicht aufwachen konnte. Da könnte Astrid doch wohl zustimmen – es wäre schrecklich, niemals zur Ruhe zu kommen, oder?
Ich selbst wusste nicht, was schlimmer wäre – ewig tot zu sein oder für immer zu leben.
Als ich sechs Jahre alt wurde, bekam ich von Großmutter eine Bibel. Bei den dünnen Seiten und den winzigen Buchstaben dachte ich, dass das Buch ein Leben lang reichte, und das werde es auch, sagte Großmutter, denn es sei das Buch des Lebens, und solange ich nur das läse, werde alles gut werden. Doch Großmutter irrte sich.
Ich wäre ein sehr einsames Kind gewesen, wenn das Schicksal mich nicht mit Jack Linder bekannt gemacht hätte. Jack, dieser mutige, musikalische Junge, der sich genauso gern Gefahren aussetzte wie ich. Wir sprangen zwischen den scharfkantigen Farmwerkzeugen im verlassenen Nachbarhof herum, wetteiferten darum, wer sich am weitesten vorwagte in das sumpfige Moor und erzählten uns Gruselgeschichten von abgebrochenen Fingernägeln unter Sargdeckeln und lebenden Toten. Ich liebte die Furcht in Jacks Blick, wenn ich ihm von den schrecklichen Dingen erzählte, die früher in Silverbro passiert waren, und die Geschichten noch ausschmückte. In Silos verschwundene Männer, falsch gefällte Bäume, die Menschen erschlugen, und die traurigste Geschichte von allen, die von Sofia Lo, dem Mädchen, das einmal auf dem Nachbarhof gewohnt hatte, dem Stentorpsgården. An einem Sommerabend hatte man sie noch im Pub gesehen, danach war sie spurlos verschwunden. Das war einige Jahre vor Jacks und meiner Geburt gewesen, doch wir...
Erscheint lt. Verlag | 12.6.2024 |
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Übersetzer | Sabine Thiele |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Lågorna |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Asa Larsson • Bestseller • Bestsellerautorin • düster • eBooks • Geheimnis • Hagebuttenblut • Johanna Mo • Krimi • krimi buch • Kriminalromane • Krimis • Löwenzahnkind • Maria Grund • Mohnblumentod • Neuerscheinung • Psychologischer Krimi • Psychothriller • Rauch • scandi crime • Schweden • Schwedenkrimi • Schweden Krimi • Skandivavien • Sommerlektüre • Tana French • Thriller • Urlaub • Urlaubskrimi • Yrsa Sigurdardóttir |
ISBN-10 | 3-641-28641-7 / 3641286417 |
ISBN-13 | 978-3-641-28641-5 / 9783641286415 |
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