»Spazieren muß ich unbedingt« (eBook)
173 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77987-2 (ISBN)
Eine »Nächtliche Wanderung«, ein »Abendspaziergang« oder ein »Ausflug aufs Land« an einem »Herbstnachmittag« - mit »Tannenzweig, Taschentuch und Käppchen« am »Sonntag« auf den Berg - entlang der »Friedrichstraße«, vom »Tiergarten« die »Großstadtstraße« hinunter zum »Bahnhof«, dann eine Begrüßung: »Guten Tag, Riesin!« - doch in Gedanken beim »Liebespaar«, voller »Schwärmerei« für den »Liebesbrief«. Bis er seinen Gang »Beiseit« macht.
Die Anthologie »Spazieren muß ich unbedingt« versammelt die schönsten und unterhaltsamsten Texte vom »König der Spaziergänger« und »Bummelgenie« Robert Walser zum Gehen, Wandern und Spazieren über Land, auf den Berg, in der Stadt - und in Gedanken.
<p>Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel geboren. Er starb am 25. Dezember 1956 auf einem Spaziergang im Schnee. Heute ist Walser durch seine Romane, seine feuilletonistische Prosa, seine Gedichte und seine Dramolette als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts anerkannt. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, ließen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches <em>Fritz Kochers Aufsätze</em> folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane <em>Geschwister Tanner</em> (1907), <em>Der Gehülfe</em> (1908) und <em>Jakob von Gunten</em> (1909). Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Sein Werk erscheint seit 1978 im Suhrkamp Verlag, seit 2018 auch in der neuen kommentierten Berner Ausgabe.</p>
So lief er denn vorwärts*
Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern können. Er hatte eine Landkarte zur Hand genommen und darauf mit dem Zirkel die Zahl der Stunden, die er brauchte, um nach dem Städtchen zu gelangen, scharf abgemessen und hatte wahrgenommen, daß er gerade in einer Nacht, wenn er die Zeit ausnutzte, hingelangen konnte. Der Weg führte ihn zuerst durch die Vorstadt, wo Rosa, seine alte Freundin, wohnte, und er verschmähte nicht, ihr im Vorbeilaufen einen kurzen Besuch abzustatten. Sie war sehr erfreut, ihn nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen, nannte ihn einen bösen, treulosen Menschen, daß er sie so habe im Stich lassen können, sagte das aber mehr in einem schmollenden als in einem gereizten Ton und ließ es sich nicht nehmen, Simon ein Glas Rotwein zu trinken zu geben, das, wie sie sagte, ihn für seine Nachtwanderung stärken solle. Auch briet sie ihm auf ihrem Gasherde schnell eine Wurst, stichelte den Dastehenden, während sie kochte, mit nicht unartigen, aber wohlgesetzten Worten, sagte, er müsse ja sehr gut mit Frauen versehen sein, und machte ihn lachend darauf aufmerksam, daß er eigentlich die Wurst nicht verdiene, sie nun aber doch haben solle, wenn er künftig fleißiger zu ihr käme. Das versprach, während er sich das Essen schmecken ließ, Simon und trat bald darauf seine Wanderung mit einigem Bangen vor der Anstrengung, die ihm bevorstand, an. Aber jetzt noch feige zurückkehren und die Eisenbahn benutzen, das mochte er doch nicht. So lief er denn vorwärts und fragte immer wieder nach dem richtigen Weg, um ja sicher zu gehen. Bei den Wegweisern zündete er ein Streichhölzchen an, hielt es in die nötige Höhe, um zu sehen, wo der Weg weiter hinliefe. Er ging mit einer ganz rasenden Schnelligkeit, als fürchtete er, der Weg möchte ihm unter seinen Füßen entgehen und davonlaufen. Der Rotwein Rosas hatte ihn befeuert und er wünschte nur, daß bald die Berge kämen, die zu überwinden ihm eine Lust und Leichtigkeit gewesen wäre. So kam er in das erste Dorf und hatte Mühe, sich auf den verschiedenen Dorfwegen, die alle kreuz und quer liefen, zurechtzufinden. Er rief deshalb einen Schmied an, der noch hämmerte, und von diesem erfuhr er, daß er richtig ging. Nun kam eine Landschaft, die ganz verschwommen war, weil sie aus lauter Gebüschen bestand; es ging bergaufwärts; dann kam eine Art Hochebene, die etwas Schauerliches an sich hatte. Es war tiefdunkel, kein Stern am ganzen Himmel, hin und wieder kam der Mond hervor, aber die Wolken verdeckten sein Licht wieder. Nun lief Simon durch einen finsteren Tannenwald, er fing an zu keuchen und paßte besser auf seine Schritte auf; denn er stieß immer wieder an Steine, die im Wege lagen, und das langweilte ihn doch ein wenig. Der Tannenwald hörte auf, Simon atmete freier; denn in dunklen Wäldern zu gehen, so allein, ist nicht immer ungefährlich. Ein großes Bauernhaus stand plötzlich vor ihm wie aus der Erde emporgewachsen und engte seinen Blick ein, ein großer Hund schoß hervor, sprang auf den Wanderer los aber biß nicht. Simon blieb ganz still und ruhig stehen, starrte den Hund nur an, und so wagte der Hund nicht zu beißen. Weiter ging es! Brücken kamen, die donnerten in der Stille unter den raschen Schritten, denn sie waren von Holz, es waren alte Holzbrücken mit Dächern und Heiligenbildern am Ein- und Ausgange. Simon fing an, gezierte Schritte zu machen, um sich Unterhaltung zu verschaffen. Plötzlich, auf ganz offenem, aber düsterem Feld stand ein starker Mann vor ihm, der ihn anschrie und ihn dabei fürchterlich anstarrte. »Was wollen Sie?« schrie Simon seinerseits, aber er machte eine Schwenkung rund um den Mann herum und lief fort, ohne hören zu wollen, was der Mann wollte. Sein Herz klopfte, es war die Plötzlichkeit der Erscheinung, nicht der Mann selber, die ihn erschreckt hatte. Dann marschierte er durch ein schlafendes, endlos langes Dorf. Ein weißes langes Kloster sah ihm entgegen und verschwand wieder. Es ging wieder bergauf. Simon dachte an gar nichts mehr, die zunehmende Anstrengung lähmte seine Gedanken; stille Brunnen wechselten mit einsamen Baumgruppen, Wälder mit Wolken, Steine mit Quellen, es schien alles mit ihm zu gehen und hinter ihm zu versinken. Die Nacht war feucht, finster und kalt, seine Wangen aber brannten und seine Haare wurden naß vom Schweiß. Auf einmal erblickte er zu seinen Füßen etwas gestreckt Liegendes, Weites, Schimmerndes und Glänzendes: es war ein See; Simon blieb stehen. Von da an ging es abwärts auf einem fürchterlich schlechten Weg. Zum ersten Mal taten ihm seine Füße weh, aber er achtete nicht darauf, sondern ging weiter. Äpfel hörte er dumpf auf die Wiesen fallen. Wie geheimnisvoll schön die Wiesen waren: undurchsichtbar und dunkel. Das Dorf, das nun folgte, erweckte sein Interesse durch die vornehmen Häuser, die es zur Schau trug. Aber hier wußte Simon nicht mehr weiter. So sehr er suchte, den rechten Weg fand er nicht. Da es ihn erbitterte, wählte er, ohne sich lange zu besinnen, die Hauptstraße. Eine Stunde mochte er gegangen sein, als ihm ein deutliches Gefühl sagte, daß er eine falsche Richtung eingeschlagen hatte, er kehrte wieder um, weinte beinahe vor Zorn und schlug seine Füße gegen die Straße, als hätten sie die Schuld getragen. Er kam wieder ins Dorf zurück: zwei Stunden versäumt: welche Schmach! Er fand auch sogleich den rechten Weg, nun, da er die Augen besser auftat, lief fort, unter Bäumen, die ihr Laub fallen ließen, auf einem schmalen Seitenwege, der ganz mit raschelnden Blättern bedeckt war. Er gelangte in einen Wald, es war ein Bergwald, der schroff in die Höhe strebte, und da Simon keinen Weg mehr vor sich sah, ging er einfach gerade aus, suchte sich, immer höher steigend, durch das dichteste Tannengeäst seine Bahn, zerkratzte sich sein Gesicht, zerrieb seine Hände, aber es ging wenigstens hinauf, bis endlich der Wald aufhörte, durch den er sich stöhnend und fluchend hindurchgerungen, und eine freie Weide vor seinen Augen lag. Er ruhte einen Moment: »Herrgott, wenn ich zu spät komme: welche Blamage!« Weiter! Er ging nicht mehr, er sprang, indem er rücksichtslos seine Beine in die weiche Ackererde stampfte. Ein bleiches, schüchternes Morgenlicht streifte von irgendwoher seine Augen. Er sprang über Hecken, die ihn zu höhnen schienen. Auf einen Weg achtete er schon längst nicht mehr. Eine anständige breite Straße, das blieb in seiner Phantasie als etwas Köstliches hängen, nach dem er sich von Herzen sehnte. Es ging wieder bergabwärts, in schmale, kleine Schluchten, wo die Häuser an den Halden wie Spielzeuge klebten. Er roch die Nußbäume, unter denen er lief; unten im Tal schien so etwas wie eine Stadt zu sein, aber das war nur eine gierige Ahnung. Endlich fand er die Straße. Seine Beine selbst schienen mitzujubeln über den Fund und er ging ruhiger, bis er einen Brunnen fand, zu dessen Röhre er sich wie ein Wahnsinniger hinstürzte. Unten gelangte er in eine kleine Stadt, kam bei einem weißglänzenden, zierlichen, anscheinend geistlichen Palais vorbei, dessen Verfallenheit ihn tief rührte, und wieder ging es ins offene Land hinaus. Hier fing der Tag an zu grauen. Die Nacht schien zu erbleichen; die lange, stille Nacht machte ein Zeichen der Bewegung. Simon stürmte jetzt den Weg nur so beiseite. Wie bequem erschien ihm das Gehen auf einer solchen glatten Straße, die in großen Windungen zuerst aufwärts, dann prachtvoll gedehnt bergab führte. Nebel sanken auf die Wiesen nieder und gewisse Tagesgeräusche meldeten sich dem Ohr. Wie lang doch eine Nacht war. Durch diese Nacht, die er auf der Erde durchgelaufen, saß vielleicht ein Gelehrter, vielleicht gar sein Bruder Klaus, bei der Lampe am Schreibtisch, und wachte ebenso sauer und mühsam. Ebenso wundervoll mußte einem solchen Stillesitzenden der erwachende Tag vorkommen, wie jetzt ihm, dem Landstraßenläufer. Schon zündete man in kleinen Häusern die Frühmorgenlichter an. Eine zweite, größere Stadt erschien, zuerst mit Vorhäusern, dann mit Gassen, dann mit Toren und einer breiten Hauptstraße, in der Simon ein herrliches Gebäude mit Statuen von Sandstein auffiel. Es war eine alte Stadtburg, die jetzt als Postgebäude diente. Schon gingen Menschen auf der Straße, die er fragen konnte nach dem Weg, wie am Abend zuvor. Es ging wieder ins flache, freie Land hinaus. Der Nebel zerstob, Farben...
Erscheint lt. Verlag | 12.8.2024 |
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Nachwort | David Wagner |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Anthologien |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Anthologie • Bücher Neuererscheinung • Flaneur-Literatur • Flanieren • insel taschenbuch 5056 • IT 5056 • IT5056 • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Schweiz • Schweizer Literatur • Spaziergang • Walser-Zentrum • Wandern |
ISBN-10 | 3-458-77987-6 / 3458779876 |
ISBN-13 | 978-3-458-77987-2 / 9783458779872 |
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