Abgetaucht (eBook)
457 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77777-0 (ISBN)
Sein mysteriöses Verschwinden hat Football-Star Zeb Williams zu einer Legende gemacht: 1984 schnappte er sich kurz vor Spielende den Ball und rannte damit einfach aus dem Stadion. Seitdem ist er verschollen. Wie Elvis wird er immer mal wieder gesichtet.
Alice Vega, Spezialistin im Auffinden verschwundener und entführter Personen, spürt Zebs letzten Aufenthaltsort auf: Die kleine Gemeinde Ilona, Oregon, wo die radikalen Liberty Boys das eigentliche Sagen haben. Als Vega beginnt, in der Vergangenheit des Ortes zu graben, deckt sie verstörende Geheimnisse auf, die nicht nur sie in Gefahr bringen ...
<p>Von Louisa Luna, geboren in San Francisco, sind bislang die Romane <em>Brave New Girl</em>, <em>Crooked</em>, <em>Serious As A Heart Attack</em> und <em>Two Girls Down</em> erschienen. Sie lebt mit Ehemann und Tochter in Brooklyn.</p>
1
Zeb Williams trat mit der Spitze seines Stollenschuhs in den Kunstrasen und überlegte, was darunterlag. Das Spielfeld war einmal natürlich grün gewesen, aber als er 1981 an die UC Berkeley kam, wechselte die Uni zum Topfkratzerbelag. Er fand das ätzend, weil er das Spiel vorwiegend auf Rasen gelernt hatte. Allerdings hatte er auch Erfahrung mit Erde, Schlamm, Asphalt. Als Kind hatte er oft das Pflaster geküsst, war mit dem Gesicht auf den Bordstein geknallt. Die Italiener in der Nachbarschaft hatten sich über seine blauen Flecken lustig gemacht, aber die Klappe gehalten, als sie sahen, wie gut er mit dem Ball umgehen konnte. Fußball war nicht sein Ding, Basketball manchmal schon, aber richtig gut war er in jedem Spiel, bei dem man über ein Feld hinweg werfen und fangen musste. Er hatte an der Riordan High School in der City mit Football angefangen, wo die Trainer bald entdeckten, dass er auch kicken konnte. In seinem ersten Jahr hatte er sogar an Cross-Country-Rennen teilgenommen, weil sich herausstellte, dass er obendrein ein guter Läufer war.
Er atmete tief durch die Nase ein und wünschte, das Spielfeld wäre aus Naturrasen, damit er es riechen könnte. Das hätte ihm in diesem Moment das Gefühl gegeben, genau am richtigen Ort zu sein, kurz davor, einen Extrapunkt zu kicken.
»Bereit, Nummer zwei?«, fragte Bear Thomas, der Holder der California Golden Bears, und trabte auf der Stelle, während die letzten Sekunden des Time-Out tickten.
Bear wurde ständig mit Sprüchen aufgezogen wie: »Hey, Bear, was würdest du machen, wenn deine Mama dich Bruin genannt hätte?« Oder »Duck« oder »Trojan«, in Anspielung auf die UCLA Bruins, die Oregon Ducks und die USC Trojans. Wollten sie ihn richtig auf die Palme bringen, hieß es: »Sie hätte dich lieber Cardinal nennen sollen«, denn Stanford Cardinal war der Erzfeind.
Jetzt aber machte niemand Witze, und Bear war voll aufgedreht. Er sah ihn mit der flachen Hand gegen seinen Helm schlagen, dabei weiter auf der Stelle tänzeln.
Zeb hob ein wenig den Kopf und ließ den Blick noch höher wandern, bis hinauf zu den Rängen, und auf einmal konnte er die ganzen Leute hören. Fünfundsechzigtausend, hatten sie gesagt, damit wurde gerechnet. Die Geräuschkulisse versetzte ihn jedes Mal wieder in Erstaunen. Anhaltendes Raunen, das mal leiser wurde, mal zu einem Kreischen anstieg, immer wieder, wie ein hin und her fliegender Kampfjet.
Carmen war irgendwo dort oben. Sie schien zu kultiviert, um ihn mit Geschrei anzufeuern, aber seit sie miteinander gingen, hatte sie gesagt, fiele es ihr schwer zuzuschauen, weil sie sich immer so aufregte. Vorher hatte ihr offenbar nie viel am Ergebnis gelegen.
Zeb lächelte hinter seiner Maske, als er an sie dachte. Er mochte sie, weil sie so ehrlich war. Die anderen Mädchen sagten immer nur, was er ihrer Meinung nach hören wollte, redeten über Spielstatistiken, Gewinnquoten, neue Anwerbungen. Oder sie setzten alles daran, gleichgültig zu wirken, zu beschäftigt mit Modern Dance oder Politik oder was auch immer sie studierten. Carmen würde es nie einfallen, auf cool zu machen. Sie würde gut zurechtkommen im Leben.
Was ihn wieder zu der Frage brachte: Was war unter dem Kunstrasen? Eine dünne Gummischicht, hatte er gehört. Darunter Kies. Darunter Beton. Und darunter Erde. Und darunter und darunter …
Das Time-out war zu Ende. Bear klatschte einmal in die Hände.
»Los«, sagte er und ging in die Hocke, wartete auf den Snap.
Zeb nickte, sah zur Anzeigetafel hinauf. 6:6. Viertes Quarter. Noch 7 Sekunden. Der Kicker von Stanford war bereits in Ungnade gefallen, weil er seinen Extrapunkt nicht gemacht hatte, alle Zuneigung der Fans in dem Moment verloren, als der Ball knapp am linken Torpfosten vorbeigeflogen war. Hätte ich sein können, dachte Zeb. Hätte jeder von uns sein können.
Er schüttelte seine Hände und Füße aus und wippte leicht in den Knien, den linken Fuß vor den rechten gesetzt, Oberkörper vorgebeugt.
Buck Reinhart snappte den Ball und Bear fing ihn, stellte ihn aufrecht auf die Spitze, streckte dabei wie immer den rechten Arm aus, als würde er den Ball mit reiner Geisteskraft in der Balance halten.
Zeb wartete. Der Uhr nach weniger als eine Sekunde lang, aber die Zeit verging anders auf dem Spielfeld. Manchmal kam es ihm vor, als hätte draußen in der Welt schon ein neues Jahr begonnen, wenn das Spiel endlich zu Ende war.
Er lief an, links, rechts, links, doch statt mit dem rechten Fuß zu kicken, bückte er sich, hob den Ball mit einer Hand auf und versetzte mit der anderen Bear einen Stoß, dass der vor Schreck hinfiel.
Zeb sah auf den hübsch in seiner Armbeuge geborgenen Ball hinunter und wieder hinauf zur Uhr. Vier Sekunden noch. Ihm blieb nicht viel Zeit.
Er machte kehrt und lief los, auf Stanfords Endzone zu.
Bear brüllte, rannte ihm hinterher. Sein Freund hatte schon in der Highschool auf der Position des Cornerback gespielt und war entsprechend schnell, aber nicht so schnell wie er. Zeb sah Cals Defense von den Seitenlinien auf ihn zustürmen, Jimmy Moffat, der Tackle, und Roger Swain, Outside Linebacker, Fähnchen knickten unter ihren Füßen. Es würde wieder sein wie in der Jasper Alley in San Francisco, die Italiener allesamt auf ihn, alle aus dem Häuschen vom Spiel, die Schmerzen weglachend.
Seine Mannschaftskameraden lachten nicht. Sie brüllten seinen Namen, Roger Swain schrie: »Wohin, Zwei, falsche Richtung!« Es war schon vorgekommen, dass Spieler nach einem Sack die Orientierung verloren hatten und auf das falsche Spielfeldende zugerannt waren, aber als er weder anhielt noch langsamer wurde, schienen Roger und die anderen zu kapieren, dass es kein Irrtum war.
Das Raunen der Menge hatte jetzt eine himmelhohe Tonlage, in Zebs Ohren klang es wie der Laserstrahl des Marsianer-Raumschiffs in Krieg der Welten, wenn der Priester verbrutzelt wird. Nur lauter.
Dreißig, zwanzig, zehn.
Ein paar Mitglieder von Stanfords Blaskapelle und seiner Cheerleadertruppe standen in der Endzone herum und guckten verwirrt, tranken Dosenbier, warfen lässig Puschel in die Luft.
Zeb erspähte einen schmalen Durchlass zwischen einer Cheerleaderin und einem Typ mit einer Posaune und sprintete noch schneller, mit jedem Schritt leichter. Das musste er dem Kunstrasen lassen, er klebte nicht an den Stollen wie Gras und Erde, sondern federte und gab ihm beim Landen auf den Fußballen zusätzlich Schwung.
Er sauste in die Endzone, das Gekreisch der Zuschauer wurde höher und lauter, das Pfeifen des Schiedsrichters durchdringend. Ein paar Fans kletterten über die Absperrung und sprangen von der Tribüne aufs Spielfeld.
Zeb warf den Ball rückwärts über seine Schulter, wusste genau, dass seine Mannschaftskameraden ihn reflexartig fangen würden wie Brautjungfern den Brautstrauß, obwohl das Spiel jetzt vorbei war.
Vom Ball befreit, pumpte er mit den Armen und hielt auf die ausgemachte Lücke zu, doch da drehte sich der Posaunenspieler halb zur Seite, so dass der Zug seines Instruments ihm den Weg versperrte.
Zeb rammte den Musiker an der Schulter und schlug ihm die Posaune aus der Hand, lief aber unbeirrt weiter auf den Ausgang zu. Er konnte das Haarspray einer Cheerleaderin riechen, stark wie Reinigungsalkohol, hörte seine Kameraden mit der Kapelle und den Cheerleadern zusammenstoßen, den dumpfen Aufprall, als einige hinfielen. Er sah sich nicht um, konnte sich aber das Gewirr vorstellen, wie manche lachten, andere sich aufrappelten, um ihm weiter hinterherzujagen.
In den Tunnel hinein und dann statt nach rechts in die Umkleidekabine direkt hinaus auf den Parkplatz, wo er für ein paar Sekunden langsamer wurde, erst auf einem Fuß hüpfte, dann auf dem anderen, seine Stollenschuhe abstreifte und sie von sich schleuderte. Er zog sein Trikot aus und warf es hoch in die Luft, während er wieder Tempo machte und auf den Rand des Parkplatzes zuhielt, dabei immer noch den kollektiven Aufschrei der Menge hörte. Er dachte daran, zur Piedmont Avenue zu laufen, wo er sich vielleicht unter die Studis mischen konnte, oder noch ein bisschen weiter bis zu Carmens Studentinnenverbindung, um dort auf sie zu warten. Er dachte daran, bis zur Interstate zu laufen, rund fünf ...
Erscheint lt. Verlag | 12.2.2024 |
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Reihe/Serie | Alice Vega | Alice Vega |
Übersetzer | Karin Diemerling |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Adrenalin • aktuelles Buch • Alice Vega • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Cold Case • edgar awards • Gegenkultur • Hideout deutsch • Jack Reacher • Krimi-Bestenliste • Krimi-Bestseller • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Neuererscheinung • neuer Krimi • Neuerscheinungen • neues Buch • Nordamerika (USA und Kanada) • Oregon • packend • Page Turner • Rassismus • sensationell • Spannung • ST 5377 • ST5377 • suhrkamp taschenbuch 5377 • Terroristen • Tote ohne Namen • USA • USA Westen • USA Westen Pazifikstaaten Pacific States • USA Westen: Pazifikstaaten Pacific States • Vereinigte Staaten von Amerika USA • verschwunden • weiße Rassisten • white supremacy • Zeitgemäß |
ISBN-10 | 3-518-77777-7 / 3518777777 |
ISBN-13 | 978-3-518-77777-0 / 9783518777770 |
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