Das Mädchen mit dem Porzellangesicht (eBook)

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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12290-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Mädchen mit dem Porzellangesicht -  Simone Keil
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»Noch nie zuvor hat er ein so schönes Mädchen gesehen. Im Mondlicht. Und sie weint...« London, 1888. In einer kalten Novembernacht wird in einem Backsteinhaus in Covent Garden die kleine Miyo geboren. Für ihren Vater, den Puppenmacher Kazuki Kobayashi, ist sie das größte Glück auf Erden. Das Leben könnte wunderbar sein, wenn Kobayashi nicht einst einen Vertrag mit einem dubiosen Advokaten geschlossen hätte, der ihm Wohlstand und Ansehen sichert, sein Kind aber einer ungewissen Zukunft ausliefert... Der Puppenmacher kommt zu dem einzig logischen Schluss: Er muss Miyo verstecken, um ihr Leben zu retten. Dazu fertigt er eine ganz besondere Porzellanmaske an, ein feines, aber regungsloses Gesicht, das er sonst für seine Puppen entwirft. Die Maske soll seine Tochter vor dem Advokaten verbergen. Doch die Ausdruckslosigkeit verdammt Miyo zu einem Leben in Isolation - nur wenige machen sich die Mühe, hinter die kalte Fassade der Porzellanmaske zu blicken. Aber in anderen Außenseitern findet Miyo treue Freunde, die sie auf ihrer abenteuerlichen Flucht vor dem teuflischen Advokaten begleiten. Und endlich findet sie auch die Liebe, nach der sie sich schon immer gesehnt hat.

Simone Keil, geb. 1971, interessierte sich schon als Kind weit mehr für Fantasiewelten und Geschichten als für die Realität. Nach langjähriger Tätigkeit im Vertrieb, schreibt sie nun fantastische Romane für Jugendliche und Erwachsene. Die Autorin lebt mit ihrer Frau und ihrem gemeinsamen Cocker Spaniel in Thüringen.

Simone Keil, geb. 1971, interessierte sich schon als Kind weit mehr für Fantasiewelten und Geschichten als für die Realität. Nach langjähriger Tätigkeit im Vertrieb, schreibt sie nun fantastische Romane für Jugendliche und Erwachsene. Die Autorin lebt mit ihrer Frau und ihrem gemeinsamen Cocker Spaniel in Thüringen.

2


Miss Jennifer May Dunnaby ist die klügste Frau, die Miyo jemals gesehen hat, sie weiß einfach alles. Gebannt hängt sie an Miss Jennys Lippen, als diese von einem fernen Land namens Afrika erzählt, das bevölkert ist von wilden Tieren und wunderschönen Menschen. Würde Miss Jenny einen Penny bekommen für jedes Mal, wenn Miyo ihren Namen sagt, sie wäre bald eine reiche Frau. Aber Mr Kobayashi zahlt ihr auch jetzt einen fairen Lohn. Ein Leben in Abgeschiedenheit als Erzieherin eines kleinen Mädchens ist nicht das, was sie sich vorgestellt hat, als sie sich ihre Zukunft erträumt hat, aber auf jeden Fall besser als in eine Ehe gezwungen zu werden mit einem alten fast dreißigjährigen Langweiler.

Nein, Sir, so sieht ihre Zukunft nicht aus!

Miss Jenny träumt von Reisen und Abenteuern und ist allzeit bereit, ihrer Bestimmung zu folgen. Eines Tages wird ein Luftschiff landen, das einen Platz für sie bereithält. Dessen ist sie sich sicher. Und so ist sie auch allzeit passend gekleidet, in ihr Abenteuer aufzubrechen. Schwere Stiefel, Reithosen, ein weites, weißes Hemd unter einer engen Lederweste mit vielen kleinen praktischen Taschen, am Gürtel links einen Degen, rechts einen Lederbeutel, der Tabak, Pfeife und ein wenig Geld enthält, daneben ein Holster mit Großvater Dunnabys altem Derringer. Holla, Abenteuer, hier bin ich!

Unwillkürlich schließen sich ihre Finger um den Griff des Degens, als sie von einer Safari berichtet, von wilden Löwen und brennend heißer Sonne. Ihre Stimme wird zu einem Flüstern, als der König des Dschungels sich an die schlafenden Menschen heranpirscht, die Muskeln anspannt und …

Miss Whittles stößt einen spitzen Schrei aus und verheddert sich in den Fäden ihrer Stickerei. »Himmel«, sagt sie. Und noch einmal: »Himmel!«

Miyo kichert und Miss Jenny richtet ihre Kleidung, die bei dem lebhaften Vortrag etwas gelitten hat. Womöglich an der Stelle, als sie auf den Schreibtisch geklettert ist, um die Savanne besser überblicken zu können. Sie räuspert sich und sieht auf ihre Taschenuhr.

Miss Whittles entwirrt ihre Stickerei und sich selbst und besinnt sich ihrer Aufgaben. »Oh«, sagt sie. »Es ist schon fast Zeit für den Tee. Was halten Sie von einer Pause, Miss Dunnaby?«

»Ach bitte, nein!« Miyo sieht Miss Jenny hilfesuchend an, aber Miss Whittles erstickt die Revolution im Keim. Den Fünfuhrtee verpasst man nur, wenn man dem Tode näher ist als dem Leben oder die Grenze bereits überschritten hat. Alle Anwesenden erfreuen sich bester Gesundheit.

»Noch dazu«, sagt sie streng, »freut sich Mr Kobayashi darauf, von den Fortschritten deiner Studien zu erfahren, und die Freude möchtest du deinem Vater doch nicht nehmen.« Das ist keine Frage und Miyo schämt sich ein wenig, dass sie so egoistisch war zu vergessen, wie sehr ihr Vater an der gemeinsamen Stunde hängt.

»Nein«, sagt sie kleinlaut. »Gewiss nicht.«

Miss Jenny grinst breit. »Wir werden morgen weiter lernen. Oder vielleicht, wenn Miss Whittles es erlaubt, erzähle ich dir vor dem Zubettgehen, wie die Geschichte ausgegangen ist.«

Miss Whittles seufzt, das grenzt an Erpressung. Wie könnte sie jetzt nein sagen. »Fragen wir Mr Kobayashi«, erwidert sie diplomatisch.

Miyo springt auf und umarmt sie stürmisch. Mr Kobayashi wird ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Das wissen sie beide. »Nun kommen Sie schon, Miss Whittles, lassen Sie uns den Tee zubereiten!« Sie zieht die Haushälterin hinter sich her zur Küche.

Vor dem Fenster singt eine Drossel Liebeslieder, im Wäldchen hinter dem Haus trommelt ein Specht einen forschen Marschrhythmus auf Buchenrinde. Mr Hornsby schneidet die Buchsbaumhecken und pfeift die Melodie eines ganz und gar nicht jugendfreien Trinkliedes, während sein Sohn Max, der eigentlich die Schubkarre aus dem Schuppen holen sollte, sich in der Krone der großen Eiche möglichst klein macht, um von dem merkwürdigen Mädchen nicht entdeckt zu werden, das gerade die mechanische Haushälterin am Arm gepackt und aus dem Studierzimmer geschleift hat. Was für eine eingebildete Göre, denkt er. Gestern hat sie ihn beim Holzhacken beobachtet und keine Miene verzogen, als er sie freundlich gegrüßt hat. Die hält sich wohl für die Königin von England! Er klettert ein Stück nach unten, bis die Äste stabiler werden und springt dann ins hohe Gras. Wenn er keine Backpfeife kassieren will, muss er sich jetzt aber sputen.

Francis Fairweather überwacht gerade die Einrichtung seines neuen Geschäfts in Covent Garden. Später am Abend wird er sich mit Amelia Elizabeth Dyer treffen, die ihm ein Kinderherz für seine Sammlung übergeben wird. Eine schreckliche Frau ohne jegliche Manieren, aber die Herzen sind von ausgezeichneter Qualität, rein und immer ausgesprochen frisch.

Miss Jenny denkt daran, wie es wohl wäre, den Tee nicht nur zu trinken, sondern die Teeplantagen in China zu besuchen. Oder Indien. Reitend auf dem Rücken eines mächtigen Elefanten. Ein Schaudern durchläuft ihren Körper. Himmel, das wäre eine Wucht!

***

Beim Anblick der Rosen regt sich in Yumiko die Erinnerung an Empfindungen, die so tief unter Staub und abgelegten Kleidern vergraben gewesen sind, dass sie sie nicht benennen kann. Gefühle, zart wie der Flügelschlag des Tagpfauenauges, das sich auf dem Rot der Blüte niederlässt. Warme Gefühle, wie der tiefe Blick in die Seele eines geliebten Menschen. Gefühle, so sicher wie der Arm des Vaters oder des Ehemannes.

Yumiko ist erstaunt, wagt es kaum zu atmen. Die kalten grauen Nebelschleier lichten sich nur kurz ein bisschen für ein kleines Stückchen Farbe und Wärme. Später werden sie die Lücke mit Wucht schließen und alles Schöne zurück in die Tiefe drücken, wo es auf immer verloren ist.

Arme Yumiko, arme Miyo. Der Blick auf die Tochter, die eben noch in der Wiege geschrien hat und nun schön wie ein Kirschblütentag durch den Garten springt, will ihr das Herz fast zerdrücken, so stark ist die Scham, das Wissen um ihre Schuld. Wie alt mag sie sein? »Kazuki?«

Mr Kobayashi drückt Yumikos Hand. Sanft nur, zu schwach sind die Glieder. »Sie ist schön wie ihre Mutter.«

»Das ist sie. Doch ist sie … schwermütig?«

»Oh nein, meine Liebe. Hab keine Furcht, Miyo ist fröhlich, überaus klug und wissbegierig.« Er winkt seiner Tochter zu, die schon wieder unvorsichtig ist, schon wieder rennt und springt. Miss Whittles versucht ihr Bestes, doch sie kann Miyos Übermut nicht bremsen und ihre Mechanik wird nicht jünger. Mr Kobayashi muss unbedingt seine Studien fortführen und ein Porzellan entwickeln, das dem Ungestüm gewachsen ist. Flexibel muss es sein, anschmiegsam, hauchdünn, doch ebenso unzerbrechlich und robust. Es muss gelingen.

»Entschuldige, Yumiko, ich bin abgelenkt. Die Arbeit.« Er schüttelt leicht den Kopf, um die Gedanken abzuschütteln. »Was sagtest du?«

»Bring mich hinein, bitte.« Yumiko sieht bleich aus. Vor einem Augenblick nur, schien sie aufzublühen wie die Rosen, die sie so liebt.

Mr Kobayashi macht sich Vorwürfe, er war mit den Gedanken woanders. Was ist nur geschehen? Pflichtschuldig winkt er die Schwester heran und Mr Hornsby, der ihr helfen wird, Yumiko nach oben zu bringen.

Wie hätte ihr Leben sein können, wäre Yumiko nicht der Schwermut verfallen, wäre sie Miyo eine Mutter gewesen. An dem Vertrag mit Francis Fairweather hätte auch das nichts geändert, aber möglicherweise an allem anderen. Noch versteht Miyo die Ausmaße des Problems nicht, noch kann sie unbeschwert Kind sein.

Mr Kobayashi zieht ein makellos weißes Taschentuch aus der Jacke und wischt sich über die Stirn. Ihm ist bewusst wie schnell sich alles ändern kann, wie eng alles miteinander verknüpft ist, wie unerbittlich das Schicksal die Würfel fallen lässt.

Miss Whittles rollt einen Servierwagen auf die Terrasse und läutet mit der kleinen Glocke, an der sie einen Narren gefressen hat. »Teatime!«, ruft sie fröhlich. Um zu unterstreichen, dass sie keine Verzögerung duldet, klatscht sie dabei in die Hände.

Und tatsächlich kommt Miyo sogleich herbeigelaufen und setzt sich gesittet neben Miss Dunnaby, die trotz ihres recht absonderlichen Auftretens anscheinend einen guten Einfluss auf das Kind ausübt.

Mr Kobayashi nimmt ebenfalls Platz und Miss Whittles reicht ihm einen Teller mit Scones und Clottet Cream, nicht ohne zu erwähnen, dass sie die Brötchen soeben selbst gebacken hat.

»Sie riechen wie ein Geschenk des Himmels«, sagt Mr Kobayashi. »Aber die Scones duften auch ganz köstlich.«

Miss Whittles hält in der Bewegung inne, öffnet den Mund, schließt ihn wieder und schnauft konsterniert. »Mr Kobayashi!«

Miss Dunnaby bricht in unkontrolliertes Lachen aus und auch Miyo kichert, während sie verzückt kaut.

Mr Kobayashi nimmt sich noch einen Schlag Clottet Cream und lehnt sich zurück. Möglicherweise spielte das Schicksal ihnen doch nicht die schlechtesten Karten zu. Es muss nicht immer ein Royal Flush sein, auch mit einem Paar Damen kann man das Spiel machen, mit etwas Glück.

***

Aber Kazuki, du hast es versprochen!« Ihre Lippen zucken und in den Augenwinkeln schimmern Tränen.

Das ist nicht möglich, Mr Kobayashi schüttelt den Kopf und blinzelt, das ist technisch gar nicht möglich. »Es tut mir leid«, sagt er, »aber diese Arbeit ist im Moment wichtiger, das verstehst du doch, nicht wahr?«

Sie versteht es nicht, wie könnte sie auch. Mr Kobayashi schilt sich einen dummen alten Mann. Er hat seinen Träumen viel zu viel Macht gegeben – Fantasien und Spinnereien. Dies ist nicht Yumiko und wird es niemals sein. »Ich muss die Porzellanmasse für Miyos Maske verbessern«, sagt er, aber mehr zu sich selbst als zu...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Britisch • Coming-of-Age-Roman • England • Fantastischer Roman • Fantasy • Fantasyliteratur • Großbritannien • Japan • Liebesgeschichte • Magie • Märchenhaft • Natasha Pulley • Neil Gaiman • Neue Fantasy 2024 • neuerscheinung 2024 • Phantastik • Steampunk • Steam Punk • Urban Fantasy
ISBN-10 3-608-12290-7 / 3608122907
ISBN-13 978-3-608-12290-9 / 9783608122909
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