Die Henkerstochter und das Vermächtnis des Henkers (eBook)
656 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3150-8 (ISBN)
Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitete nach dem Studium zunächst als Journalist und Filmautor beim Bayerischen Rundfunk. Heute lebt er als Autor mit seiner Familie in München. Seine historischen Romane haben ihn weit über die Grenzen Deutschlands bekannt gemacht: Die Bände der Henkerstochter-Serie sind internationale Bestseller und wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Prolog
20. Juli Anno Domini 1683,
vor den Mauern Wiens
Die Welt ging unter, und es gab kein Jüngstes Gericht.
Der Donnerhall war so laut, dass er Paul von den Füßen riss. Gleichzeitig traf ihn die Druckwelle der Explosion, es war, als packte ihn eine riesige, unsichtbare Faust. Wie eine Puppe wurde er durch die Luft geschleudert und stürzte in einen Graben. Im nächsten Moment flogen Trümmer und Steine über ihn hinweg. Keuchend presste er seinen Körper in die staubtrockene Erde des Schützengrabens. Wieder krachte es, diesmal gefolgt von einem sirrenden Geräusch, das Paul mittlerweile gut kannte. Die Balyemez-Geschütze der Türken verschossen Kugeln, die bis zu achtzig Pfund schwer waren. Wenn sie auf einen menschlichen Leib trafen, blieb von ihm nicht viel mehr übrig als eine rote Pfütze. Aber Menschen waren nicht das Ziel der Kanonen.
Ihr Ziel waren die Mauern Wiens.
Seit einer Woche belagerten die Türken nun schon die Hauptstadt des Deutschen Reiches. Wie ein Feuersturm waren sie von Ungarn her über die östlichen habsburgischen Lande hinweggefegt. Nichts und niemand hatte sie aufhalten können, auch nicht die hastig zusammengestellte kaiserliche Armee unter Herzog Karl von Lothringen. Die Türken kannten keine Gnade. In Hainburg an der Donau hatten sie Tausende Einwohner regelrecht abgeschlachtet, die Frauen zuvor vergewaltigt. In Perchtoldsdorf hatten die Bürger kapituliert und waren trotzdem mit Säbel und Kriegsbeil niedergemacht worden. Gefangene wurden zu Hunderten enthauptet, ihre Köpfe dem türkischen Großwesir zum Geschenk gemacht. Die wenigen Überlebenden schlug man in Ketten, um sie in fernen Ländern als Sklaven zu verkaufen.
Es war, als wäre der Teufel über die Christenheit gekommen.
Vorsichtig richtete Paul sich im Graben auf und spähte über das Glacis, die freigeräumte Fläche vor der Stadt. Es war mitten in der Nacht, überall brannten Feuer, sie tauchten die Gegend in ein infernalisches Licht. Dort, wo einmal die schmucken Wiener Vorstädte gewesen waren, standen jetzt nur noch einige wenige Ruinen. Verkohlte Kirchtürme, schwarze Dachbalken, entblößt wie Gerippe, davor der aufgeblähte Kadaver eines Pferdes … Hier hatten vor einigen Tagen die kaiserlichen Soldaten selbst alles niedergebrannt, um den Feinden keine Deckung zu bieten. Die öde Landschaft war durchzogen von frisch ausgehobenen Gräben, tödlich spitzen Palisaden und aufgeschütteten Wällen. Weiter hinten erhoben sich die Wiener Festungsbauten – Kurtinen, Ravelins, Bastionen …
Zehntausend Soldaten und sechstausend Freiwillige gaben ihr Bestes, um den Feind abzuwehren. Doch wie lange noch? Die Türken hatten eine wichtige Wasserleitung gekappt, kleine Gruppen von Krimtataren waren an manchen Stellen schon bis auf wenige Meter an die Schanzanlagen herangerückt, an einigen Mauerabschnitten wurde bereits mit Flinten und Granaten auf engstem Raum gekämpft, Minengänge waren ausgehoben worden. Kurz zuvor hatten die letzten Fliehenden die Stadt über die Donau verlassen, auf schwer beladenen Zillen. Seitdem war es von außerhalb beinahe unmöglich, mit den Einwohnern Kontakt aufzunehmen. Nur ein paar todesmutige Männer wagten sich durch die Reihen der Türken, um wichtige Botschaften in die Stadt zu bringen.
Paul war einer von ihnen.
Während er den Blick über die vor ihm liegende Ödnis schweifen ließ, dachte er daran, wie seltsam ihm das Leben doch bislang mitgespielt hatte. Seine Ohren waren von der Explosion noch taub, eine beinahe friedliche Stille breitete sich in ihm aus.
Endlich …
Es war, als wären all die harten Jahre zuvor nur Vorbereitung gewesen für diese eine Nacht.
Als Enkel eines Schongauer Scharfrichters war Pauls Laufbahn eigentlich vorherbestimmt gewesen. Und tatsächlich hatte er schon als kleiner Junge davon geträumt, ein Henker zu werden, so wie der Großvater einer gewesen war – gefürchtet, schnell mit dem Richtschwert, Herr über Leben und Tod. Während seine Mutter und seine Geschwister mit ihrer Herkunft aus einer geächteten Henkersfamilie haderten, hatte ihn das Enthaupten, Ertränken, Rädern, ja, auch das Foltern stets fasziniert. Paul war immer anders gewesen als der Rest der Familie, und die hatte ihn das Anderssein auch spüren lassen.
Bei Gott, er hatte versucht, ihnen zu gefallen, immer wieder! Ein letztes Mal vor zwei Jahren, als er zum Onkel nach Schongau zurückgegangen war, um seine Lehre doch noch abzuschließen. Dann hatte es wieder einmal Streit gegeben, wie so oft, und schließlich war er gegangen, im Zorn und ohne Abschiedsgruß.
Aber dann war ein Wunder geschehen.
Paul hatte eine neue Familie gefunden. Eine, die ihn so akzeptierte, wie er war, die seine Fähigkeiten schätzte, ihn umarmte und belohnte, aber auch maßregelte, wenn es denn sein musste.
Diese Familie war die Armee.
Schon kurz nachdem Paul Schongau verlassen hatte, hatte er sich in Augsburg anwerben lassen. Es war ganz leicht gewesen, eine hastig hingekrakelte Unterschrift hatte genügt, und der Obrist hatte ihm das Handgeld von zwölf Gulden ausgehändigt, mehr, als Paul als Henkerslehrling in einem Jahr verdiente. Seitdem war er mit seinesgleichen unterwegs, mit Hasardeuren, Glücksrittern und anderen verkrachten Existenzen, die auf einen Neuanfang hofften. Ehemalige Dienstboten und Tagelöhner waren darunter, Bauernsöhne, Studenten, ja sogar Geistliche – die Armee machte sie alle gleich. Im Kampf standen sie Seite an Seite, sie fochten, soffen, aßen, lebten und lachten – und starben gemeinsam.
Noch nie hatte sich Paul so zu Hause gefühlt wie in der Armee.
Sein Mut, seine Gewandtheit, vor allem aber sein berserkerhaftes Kämpfen hatten ihn schnell aufsteigen lassen. Die letzten Monate war er schließlich im kaiserlichen Heer untergekommen, in einem der ersten Grenadier-Bataillone, das gegen die Türken kämpfte. In Raab hatte er sich vor ein paar Wochen todesmutig den Tataren entgegengeworfen, bewaffnet nur mit diesen neuen, todbringenden Granaten. Sein Hauptmann hatte ihn daraufhin als Kurier empfohlen, und seitdem hatte es ein paar lebensgefährliche Einsätze gegeben. Als einziger Kurier seines Bataillons war Paul jedes Mal durch die feindlichen Reihen geschlüpft.
Und jetzt war er hier, im Gepäck den vielleicht wichtigsten Auftrag seines Lebens.
Ein letztes Mal spähte Paul in die Dunkelheit. Der zerschmetterte Körper eines Tataren lag nicht weit entfernt auf dem Glacis, sonst war kein Mensch zu sehen.
Paul kletterte aus dem Graben und lief geduckt über die freie Fläche. Bevor er das Glacis erreicht hatte, war er durch einige Arme der Donau geschwommen, die nasse Kleidung klebte ihm noch immer am Leib. An seinem Gürtel hing, zum Glück unversehrt, die wasserdichte Schweinsblase, in der sich gleich mehrere verschlüsselte Dokumente befanden. Es waren versiegelte Briefe, verfasst von keinem Geringeren als Herzog Karl V. von Lothringen, adressiert an den Wiener Oberbefehlshaber Ernst Rüdiger von Starhemberg. Darin wurde der so sehnlichst erhoffte Entsatz angekündigt. Es hieß, dass der polnische König mit einer großen Armee der Stadt schon bald zu Hilfe eilen würde, außerdem Hilfstruppen aus Sachsen, Bayern und vielen anderen Teilen des Reiches. Die Stadt durfte nicht kapitulieren!
Bevor der Regimentskommandant Paul ausschickte, hatte er dem jungen Grenadier noch einmal klargemacht, wie wichtig es war, dass diese Briefe Wien erreichten. Man wusste von drei Kurieren, die bereits abgefangen und gefoltert worden waren. Ihre auf Pfählen aufgespießten Köpfe hatten kaiserliche Soldaten am Ufer der Donau entdeckt. Paul war der vierte Kurier, der letzte. Er durfte nicht versagen! Wien war das Tor zum christlichen Europa. Wenn die Stadt fiel, waren die Türken nicht mehr aufzuhalten.
Hundert Dukaten waren Paul versprochen worden, wenn es ihm gelang, die Nachrichten zu überbringen. Ein fürstlicher Lohn! Doch wenn Paul ehrlich war, war es gar nicht das Geld, was ihn reizte, es war die Gefahr. So war es schon immer gewesen. Die Gefahr machte ihn … unsterblich. Ja, so kam er sich vor: unsterblich! Dann verschwand auch der Zorn, der ihn von Zeit zu Zeit übermannte und ihn auch in Schongau bei seiner Familie immer wieder hatte anecken lassen. In der Gefahr war er ganz ruhig, ganz bei sich.
So wie auch jetzt.
Nur dumpf, wie von fern, hörte er das Donnern der türkischen Kartaunen in seinen tauben Ohren. Irgendwo schlug eine der schweren Kanonenkugeln ein. Über das Glacis rannte Paul auf die Bastionswälle und die sternförmigen Mauern zu, kletterte todesmutig über Palisaden, sprang über Gräben. Der Kommandant hatte ihm zuvor ein kleines, verstecktes Ausfalltor in der Stadtmauer genannt. Dort sollte er auf sich aufmerksam machen, am besten mit lauter Stimme ein christliches Gebet sprechen. Viel Zeit würde er nicht haben, bis die Feinde ihn entdeckten und er verloren war. Denn als Bewaffnung besaß er nicht mehr als einen kurzen Katzbalger, einen Dolch und einige Handgranaten.
Paul hatte bereits den vordersten Wall überwunden und den Stadtgraben erreicht, als er nicht weit von der Mauer entfernt den Eingang zu einem schmalen Tunnel entdeckte. Das Loch war mit Balken provisorisch...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2024 |
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Reihe/Serie | Die Henkerstochter-Saga | Die Henkerstochter-Saga |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Bayern • Bestseller • Donau • Ermittler • Fantasie • Fiktion • Fürst • Heer • Heiler • Henker • historisch • Krieg • Krimi • Mörder • nepumuk • Nibelungen • Osmanisch • Österreich • Passau • Recherche • Roman • Schatz • Serie • Söldner • spannend • Tochter • Türken • Unterhaltung • Wien |
ISBN-10 | 3-8437-3150-0 / 3843731500 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3150-8 / 9783843731508 |
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