Der König und der Uhrmacher (eBook)
365 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-5569-6 (ISBN)
Kopenhagen Ende des 18. Jahrhunderts: Der isländische Uhrmacher Jón entdeckt ein wahres Wunderwerk der Handwerkskunst im dänischen Königspalast. Die einstmals berühmte astronomische Uhr aus dem Jahre 1592 ist in einem erbärmlichen Zustand, und Jón macht es sich zur Aufgabe, sie wieder in Gang zu setzen. Eines Abends taucht zu später Stunde der dänische König in Jóns Werkstätte auf, und zwischen dem Monarchen, Christian VII., und seinem isländischen Untertan entspinnt sich ein Gespräch. Und Jón wagt es sogar, von seinem Vater zu berichten, der auf Island unschuldig zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, unter der Regentschaft des Vaters von Christian VII. ...
Ein hervorragender historischer Roman von Islands derzeit erfolgreichstem zeitgenössischen Autor
<p><strong>Arnaldur Indriðason</strong>ist der erfolgreichste zeitgenössische Krimiautor Islands. Seine Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit demGOLD DAGGER. Sein historischer Roman<strong>DER KÖNIG UND DER UHRMACHER</strong>, Platz-1-Besteller in Island, war für den<b><b>ISLÄNDISCHEN LITERATURPREIS</b></b> nominiert. Der Autor erhielt 2021 zudem den JÓNAS-HALLGRIMSSON-PREIS. Arnaldur Indriðason lebt in der Nähe von Reykjavík.</p>
Eins
Die Zeit war stehengeblieben. Selbst die ältesten Bewohner der Stadt hatten nie erlebt, wie die kunstvolle Uhr, die vor zweihundert Jahren dem Herrgott und der Jungfrau Maria zu Ehren gebaut worden war, die Stunde geschlagen und die Bewegungen von Mond und Sternen angezeigt hatte. Sie verstaubte in einem Lagerraum auf Schloss Christiansborg, als Beute aus einem längst vergessenen Krieg. Könige waren gekommen und gegangen, doch die Zeit stand weiterhin still. Einmal hatte man nach den begnadetsten Erfindern und Uhrmachern der Welt geschickt und ihnen den Auftrag gegeben, sich mit dem Uhrwerk zu befassen und die komplexe Mechanik wieder zum Laufen zu bringen. Sie alle hatten aufgegeben und gemeint, die Uhr sei zwar prachtvoll, würde aber nie wieder ticken oder den Gang der Himmelskörper anzeigen.
Und dabei blieb es, bis ein alter Uhrmacher, der eine Werkstatt in der Nähe der Holmensgade betrieb, einmal wegen einer anderen Uhr in den Königspalast gerufen wurde. Der Uhrmacher hatte zu Beginn seiner Ausbildung bei einem Kopenhagener Meister die Geschichten über den Schöpfer des kunstvollen Uhrwerks auf Schloss Christiansborg gehört. Er wusste also, dass es sich dabei nicht um ein gewöhnliches Stück handelte, sondern um ein Meisterwerk Isaak Habrechts, ein Schweizer, der die längste Zeit seines Lebens im Straßburger Münster verbracht und die weltberühmte Uhr dort geschaffen hatte.
Das Uhrwerk des Schweizers zeigte nicht nur die Stunden, sondern auch die Wochentage und Monate an. Darüber hinaus erschienen zu jeder vollen Stunde die drei Weisen aus dem Morgenland und verbeugten sich vor einer Figur der Jungfrau Maria, woraufhin die längst vergessene Melodie eines Psalms aus der Zeit Habrechts erklang. Oben auf der Uhr legte ein goldener Hahn den Kopf in den Nacken und verkündete mit Krähen und Flügelschlag den Beginn einer neuen Stunde. Und wenn die Uhr funktionierte, wie sie sollte, würden währenddessen Mond und Sterne über eine Darstellung des Himmelszelts ziehen.
Die Uhr war um die zweihundert Jahre alt, gefertigt im Jahre 1592, und es war nicht verwunderlich, dass Uhrmacher von nah und fern sie eher als übernatürliches Zauberwerk betrachteten, denn als etwas von Menschhand Geschaffenes.
Als der alte Uhrmacher seinen ursprünglichen Auftrag erledigt hatte und die Uhr auf dem Kaminsims im Arbeitszimmer eines königlichen Sekretärs wieder zum Laufen gebracht hatte, bog er beim Hinausgehen in Richtung des Lagerraums ab, in dem sich, so hatte man ihm erzählt, die Habrechtsuhr befand. Sein mittlerweile längst verstorbener Meister hatte vor langer Zeit selbst einmal versucht, sie zu reparieren, aber das Handtuch geworfen. Irgendwo gab es noch Skizzen und Notizen, die hatte er seinen Lehrlingen überlassen, und so war die Neugier des Uhrmachers nur noch weiter befeuert worden.
Ein eher reservierter Wärter lauschte seinem Anliegen. Er fand es amüsant, dass ein Uhrmacher aus dem weit entfernten Island sich für die kaputte Uhr interessierte, und erlaubte ihm freundlicherweise, sich das Stück anzusehen. Der Uhrmacher bedankte sich demütig und ging vorsichtig vorbei an Gemälden, Kunstobjekten und anderer Kriegsbeute, Büsten früherer Könige, Wappen, Bannern, Reitzeug und alten Falkenkäfigen, bis er zu der Uhr gelangte, die ganz hinten in einer Ecke stand. Vorsichtig entfernte er eine dreckige Abdeckung und achtete darauf, das Uhrwerk nicht noch mehr zu beschädigen.
Darüber hätte er sich aber wohl keine Sorgen machen müssen, dachte er im Stillen, als er vor dem Meisterwerk stand, oder vor dem, was davon übrig war. Der Hahn, der früher so stolz oben auf der Uhr gekräht hatte, war von seinem Sockel gefallen. Die Figuren, die verschiedene Lebensalter des Menschen repräsentierten – ein Kind, ein junger Mann, ein Erwachsener und ein Greis –, Symbole der Vergänglichkeit des Lebens, waren zerbrochen. Die Jungfrau Maria war nirgendwo zu entdecken, und nur einer der drei Weisen aus dem Morgenland, die an der Muttergottes vorbeidefilierten, stand noch auf seinem Platz. Auch die Christusfigur mit der Siegesfahne und die des Todes waren zerbrochen und der Mechanismus, der sie alle bewegte, beschädigt. Doch damit nicht genug, sogar die Glocken unter dem Dach der Uhr, die den Psalm spielten, waren zerbeult und hingen schief. Ein genauer Blick auf die Mechanik offenbarte noch mehr Schäden, viele der Zahnräder und Halterungen waren defekt, und der Uhrmacher erinnerte sich an die Worte seines Meisters, dass im Laufe der Jahre Teile der Uhr straßauf, straßab verkauft worden seien, darunter auch der Globus und mit ihm alle Sternbilder.
Der Uhrmacher wischte etwas Schmutz von der Stelle, wo die drei Weisen stehen sollten, und es schmerzte ihn zutiefst, die Uhr in diesem Zustand zu sehen. Er musste an seine geliebte Frau Margit denken, die vergangenen Sommer nach kurzer Krankheit verstorben war und ihm jeden Tag fehlte. Ihre zwei Kinder waren aus der Stadt weggezogen und kamen nur selten zu Besuch. Er hatte keine Beschäftigung mehr in der Wohnung über seiner Werkstatt und konnte nicht leugnen, dass die Einsamkeit ihm zu schaffen machte. Jahrelang hatte er sich um den Rest der Welt keine Gedanken machen müssen. Er war mit Leib und Seele Uhrmacher und hatte kaum Zeit gehabt, sich anderen Dingen zu widmen. Mit seinem Handwerk hatte er sich einen guten Ruf aufgebaut, sonst hätte man ihn wohl kaum nach Christiansborg gerufen, um die königlichen Uhren zu warten. Nicht, dass er sich viel darauf einbildete. Es spornte ihn höchstens an, noch sorgfältiger zu arbeiten. Ein guter Ruf war wertvoll, das hatte er in seiner Heimat, den Westfjorden Islands, auf eine schmerzliche Weise erfahren müssen.
Und während er in Gedanken versunken im Königspalast stand, vor der Herabwürdigung von Habrechts Werk, dem bedeutendsten Uhrmacher seiner Zeit, und versuchte, die komplizierten Mechanismen zu verstehen, hatte er einen verrückten Einfall. Vielleicht könnte er die Uhr reparieren, damit sie der Menschheit wieder Freude bereitete.
Die Idee überraschte ihn selbst. Auch wenn noch nie jemand seine Fähigkeiten als Uhrmacher angezweifelt hatte oder sein Wissen um all die filigranen Einzelteile, die nötig waren, um die Stunden des Lebens zu zählen, sah er sich für eine Aufgabe wie diese in keiner Weise qualifiziert. Trotzdem spürte er, dass er sich jetzt, im fortgeschrittenen Alter, genau dieser Aufgabe annehmen sollte. Es war wie eine spirituelle Erfahrung, und ihn überkam eine neue und freudige Erregung, die sich anfühlte wie ein Zeichen Gottes, ja, es war nichts Geringeres als eine Offenbarung.
Und so kam es, dass Jón Sívertsen aus Island, Uhrmacher im königlichen Kopenhagen, regelmäßig den Mann aufsuchte, der über die ausgedienten Besitztümer des Königs wachte, und vorbei an Wappen und Falkenkäfigen schritt, um sich mit Habrechts Uhr zu befassen. Der Wärter erlaubte es ihm, denn er wusste, dass von dem Uhrmacher keine Gefahr ausging, und er erkannte, dass er sich vielleicht eine Feder an den eigenen Hut stecken könnte, sollte es dem Mann gelingen, die Uhr zu reparieren. Außerdem war die Uhr bereits kaputt, schlimmer konnte es insofern nicht werden. Wenn er in der Werkstatt fertig war, arbeitete Jón also im Kerzenschein an dem Uhrwerk im Schloss – in einem dicken Mantel, denn der Winter hatte bereits Einzug gehalten.
Eines Abends dann, in der Adventszeit, verirrte sich Seine Königliche Hoheit, Christian VII., höchstpersönlich in den Lagerraum. Es hieß, er interessiere sich für antike Wappen, und er ging allein seines Weges, ohne Perücke und ungeschminkt, als er Jón Sívertsen bemerkte, wie er über die Habrechtsuhr gebeugt auf einem kleinen Holzhocker saß. Jón war vertieft in seine Arbeit und blickte erst auf, als Seine Hoheit bereits direkt hinter ihm stand. Er hielt ihn für den Wärter und erschrak so sehr, dass er aufsprang und beinahe das Gleichgewicht verlor, als ihm klar wurde, um wen es sich tatsächlich handelte. Er hatte den König bereits festlich gekleidet und hoch zu Ross auf den Straßen Kopenhagens gesehen und erkannte ihn sofort wieder. Also stand er wie das Kaninchen vor der Schlange neben seinem Hocker, senkte den Kopf so tief wie möglich auf die Brust und traute sich nicht, wieder aufzublicken.
»Wer bist du?«, fragte der König, der einen weiten Samtumhang über einem Nachthemd trug und nach Madeirawein roch.
»Verzeihung … ich heiße Jón … Jón Sívertsen, Eure Hoheit«, stammelte der Isländer und hielt seinen Kopf weiter gesenkt.
»Und was machst du hier, wenn ich fragen darf?«
»Ich … ich bin Uhrmacher, Eure Majestät, und ich … ich arbeite an … ich arbeite an …«
»Dieser Uhr«, sprach der König den Satz zu Ende, denn es schien, als habe der Uhrmacher die Fähigkeit dazu verloren.
»Ja, Eure Hoheit.«
»Was ist das für ein Uhrwerk, es ist ja völlig kaputt?«, fragte der König, zog ein parfümiertes Tuch aus der Tasche seines Umgangs und hielt es sich vor die Nase.
»Das ist ein Uhrwerk Isaak Habrechts, Eure Majestät.«
»Habrecht?«
»Er war Schweizer, Eure Hoheit.«
»Und was geht uns das an?«, fragte der König, als meine er sich und all seine Vorfahren, bis hin zu Gorm dem Alten und Harald Blauzahn.
»Ja, die Uhr ist … Ihr seid der rechtmäßige Besitzer, Majestät«, stammelte Jón. »Eure Hoheit … sie … sie gehört Euch.«
»Aha«, murmelte der König, der keine Ahnung hatte, was ihm gehörte und was nicht. Er besah sich das Uhrwerk. Musterte den Uhrmacher, der beklommen vor ihm stand. Dachte an den Madeirawein in seinem Gemach.
»Und wer hat dich...
Erscheint lt. Verlag | 31.5.2024 |
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Übersetzer | Freyja Melsted |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sigurverkid |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 18. Jahrhundert • Amalienborg • Christiansborg • Christian VII • dänischer Königshof • Eggert Ólafsson • Habrechtsuhr • Hallgrímur Pétursson • Historische Romane • internationaler Bestsellerautor • Island • Islandroman • Königin Karoline Mathilde • Kopenhagen • Leibarzt Struensee • nordermoor • Reykjavik • Saudlauksdalur • Uhrmacher Isaak Habrecht • Westfjorde |
ISBN-10 | 3-7517-5569-1 / 3751755691 |
ISBN-13 | 978-3-7517-5569-6 / 9783751755696 |
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