Die ferne Zukunft. Ein Atomkrieg hat die Erde fast vollständig zerstört. Nur einige wenige Menschen wurden von den Oankali, einer geheimnisvollen außerirdischen Spezies, gerettet. Jetzt sollen sie auf ihren Heimatplaneten zurückkehren. Aber die Hilfe der Oankali hat ihren Preis ...
Das einzigartige Science-Fiction-Meisterwerk von der Autorin von DIE PARABEL VOM SÄMANN
»Xenogenesis« beinhaltet die drei Romane »Dämmerung«, »Rituale« und »Imago«.
Octavia Estelle Butler (22. Juni 1947 - 24. Februar 2006) kam in Pasadena, Kalifornien zur Welt. Obwohl bei ihr als Kind Dyslexie festgestellt wurde, machte sie einen Abschluss am Pasadena City College und schrieb sich an der California State University in Los Angeles ein. Schon als Kind verfasste sie erste Kurzgeschichten, und 1969/70 besuchte sie zwei Autoren-Workshops, bei denen sie unter anderem mit Harlan Ellison in Kontakt kam, der ihr half, 1976 ihren ersten Roman bei einem Verlag unterzubringen. In ihrem mehrfach mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichneten Werk geht es immer wieder um Genderfragen und kulturelle Identität. Sie lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod in Seattle, Washington.
Erster Teil
1
Am Leben!
Noch immer am Leben.
Wieder am Leben.
Das Erwachen war mühsam, wie immer. Die höchste Enttäuschung. Es war ein Kampf, genug Luft zu holen, um das beklemmende Gefühl des Erstickens zu vertreiben. Lilith Iyapo lag keuchend da und zitterte vor Anstrengung. Ihr Herz schlug zu schnell, zu laut. Sie rollte sich um es herum, fötal, hilflos. Die Blutzirkulation kehrte in Schauern winziger, feiner Schmerzen in ihre Arme und Beine zurück.
Als sich ihr Körper beruhigte und an die Wiederbelebung gewöhnte, blickte sie sich um. Der Raum schien nur schwach erleuchtet, doch sie war noch nie zuvor im Dämmerlicht erwacht. Sie korrigierte sich. Der Raum schien nicht nur dunkel, er war dunkel. Bei einem früheren Erwachen hatte sie beschlossen, dass Realität das war, was immer passierte, was immer sie wahrnahm. Ihr war der Gedanke gekommen – wie oft? –, dass sie vielleicht verrückt war oder unter Drogen stand, physisch krank oder verletzt war. Nichts davon spielte eine Rolle. Es konnte keine Rolle spielen, solange sie auf diese Weise eingesperrt war, hilflos, allein und im Unklaren gelassen wurde.
Sie setzte sich auf, schwankte benommen, dann drehte sie sich um und schaute sich den Rest des Raums an.
Die Wände waren hell – weiß oder grau, vielleicht. Das Bett war das gleiche wie immer: ein massives Podest, das bei Berührung leicht nachgab und aus dem Boden zu wachsen schien. Auf der anderen Seite des Raums war eine Türöffnung, die wahrscheinlich in ein Bad führte. Lilith bekam meistens ein Bad. Zweimal hatte sie keins gehabt, und in ihrer fensterlosen, türlosen Zelle war sie gezwungen gewesen, eine Ecke zu wählen.
Sie ging zur Tür, spähte durch die einförmige Dunkelheit und vergewisserte sich, dass sie tatsächlich ein Bad hatte. Dies hier war nicht nur mit einer Toilette und einem Waschbecken, sondern auch mit einer Dusche ausgestattet. Luxus.
Was hatte sie sonst noch?
Sehr wenig. Da war ein weiteres Podest, vielleicht dreißig Zentimeter höher als das Bett. Man hätte es als Tisch benutzen können, obwohl es keinen Stuhl gab. Und es waren Dinge darauf. Lilith sah das Essen zuerst. Es war der übliche, geschmacklose Klumpen Getreideflocken oder Eintopf in einer essbaren Schüssel, die sich auflöste, wenn Lilith sie leerte und sie nicht aufaß.
Und da war etwas neben der Schüssel. Unfähig, es genau zu erkennen, berührte Lilith es.
Kleidung! Ein Stapel zusammengefalteter Kleidung. Sie schnappte sich die Sachen, ließ sie in ihrem Eifer fallen, hob sie wieder auf und begann sie anzuziehen. Eine helle, schenkellange Jacke und eine lange, weite Hose, beides aus einem kühlen, ganz weichen Material, das sie an Seide erinnerte, obwohl sie nicht glaubte, dass es Seide war, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Die Jacke war selbsthaftend und blieb zu, als Lilith sie schloss, ließ sich aber leicht öffnen, als sie die beiden Vorderstreifen auseinanderzog. Die Art und Weise, wie sie aufgingen, erinnerte Lilith an einen Klettverschluss, obwohl nichts dergleichen zu sehen war. Die Hose ließ sich auf die gleiche Weise schließen. Man hatte Lilith von ihrem ersten Erwachen bis jetzt keine Kleidung gegeben. Sie hatte darum gebettelt, doch ihre Entführer hatten sie ignoriert. Als sie jetzt angezogen war, fühlte sie sich sicherer als jemals zuvor in ihrer Gefangenschaft. Sie wusste, dass es eine trügerische Sicherheit war, aber sie hatte gelernt, jede Freude zu genießen, jede Aufbesserung ihrer Selbstachtung, die sie ergattern konnte.
Als sie die Jacke öffnete und schloss, berührte ihre Hand die lange Narbe quer über ihrem Bauch. Sie hatte sie irgendwie zwischen ihrem zweiten und dritten Erwachen bekommen, hatte sie ängstlich untersucht und sich gefragt, was man mit ihr gemacht hatte. Was hatte sie verloren oder dazubekommen, und warum? Und was würde man womöglich noch machen? Sie gehörte sich nicht mehr: Sogar ihr Fleisch konnte ohne ihre Zustimmung oder ihr Wissen aufgeschnitten und zusammengenäht werden.
Es machte sie wütend während späterer Erwachen, dass es Augenblicke gegeben hatte, in denen sie ihren Verstümmlern tatsächlich dankbar gewesen war, dass sie sie hatten schlafen lassen während dem, was immer sie mit ihr gemacht hatten – und dass sie es gut genug gemacht hatten, um ihr später Schmerz oder Invalidität zu ersparen.
Sie rieb über die Narbe und fuhr ihren Umriss nach. Schließlich setzte sie sich aufs Bett und aß ihr geschmackloses Mahl, aß auch die Schüssel auf, mehr weil sie eine andere Textur hatte als aus wirklichem Hunger. Dann begann sie mit der ältesten und vergeblichsten ihrer Aktivitäten: die Suche nach einem Spalt, einem hohlen Klang, irgendeinem Hinweis auf einen Weg aus ihrem Gefängnis heraus.
Sie hatte es bei jedem Erwachen gemacht. Bei ihrem ersten Erwachen hatte sie während ihrer Suche gerufen. Als sie keine Antwort bekam, hatte sie geschrien, dann geweint, dann geflucht, bis sie keine Stimme mehr hatte. Sie hatte gegen die Wände geschlagen, bis ihre Hände bluteten und grotesk anschwollen.
Sie hatte nicht die leiseste Antwort bekommen. Ihre Entführer sprachen, wenn sie bereit waren, und nicht eher. Sie zeigten sich überhaupt nicht. Lilith blieb in ihrer Zelle isoliert, und ihre Stimmen kamen von oben zu ihr wie das Licht. Es gab keine sichtbaren Lautsprecher, genauso wie es keine bestimmte Stelle gab, von der das Licht ausging. Die ganze Decke schien ein Lautsprecher und eine Lichtquelle zu sein – und vielleicht ein Ventilator, da die Luft frisch blieb. Lilith stellte sich in einem großen Kasten vor, wie eine Ratte im Käfig. Vielleicht standen Leute über ihr und blickten durch eine teildurchlässige Glasscheibe oder durch eine Videoeinrichtung herunter.
Warum?
Sie bekam keine Antwort. Sie hatte ihre Entführer gefragt, als sie endlich begannen, mit ihr zu sprechen. Sie hatten es ihr nicht sagen wollen. Sie hatten ihr Fragen gestellt. Einfache zuerst.
Wie alt sie sei?
Sechsundzwanzig, dachte sie im Stillen. War sie immer noch sechsundzwanzig? Wie lange hielt man sie schon gefangen? Sie wollten es nicht sagen.
Ob sie verheiratet gewesen sei?
Ja, aber er war tot, schon lange tot, unerreichbar für sie, für ihr Gefängnis.
Ob sie Kinder gehabt habe?
O Gott. Ein Kind, schon lange tot, mit seinem Vater gestorben. Ein Sohn. Tot. Wenn es ein Jenseits gab, was für ein überfüllter Ort musste es jetzt sein.
Ob sie Geschwister gehabt habe?
Zwei Brüder und eine Schwester, wahrscheinlich tot, zusammen mit dem Rest ihrer Familie. Eine Mutter, schon lange tot, ein Vater, wahrscheinlich tot, diverse Tanten und Onkel, Vettern und Cousinen, Nichten und Neffen … wahrscheinlich tot.
Was für einer Beschäftigung sie nachgegangen sei?
Keiner. Ihr Sohn und ihr Mann waren für ein paar kurze Jahre ihre Beschäftigung gewesen. Nach dem Autounfall, bei dem sie ums Leben gekommen waren, war sie wieder aufs College gegangen, um dort zu überlegen, was sie sonst noch mit dem Rest ihres Lebens anfangen könnte.
Ob sie sich an den Krieg erinnerte?
Verrückte Frage. Konnte jemand, der den Krieg erlebt hatte, ihn vergessen? Eine Handvoll Leute hatte versucht, die Menschheit auszulöschen, und es wäre ihnen beinahe gelungen. Sie hatte durch reines Glück überlebt – nur um, der Himmel wusste von wem, gefangen und eingesperrt zu werden. Sie hatte sich bereit erklärt, ihre Fragen zu beantworten, wenn man sie aus ihrer Zelle herausließ, aber sie stellten sich stur.
Sie erklärte sich zu einem Tausch bereit; ihre Antworten gegen die ihrer Entführer: Wer waren sie? Warum hielt man sie fest? Wo war sie? Antwort gegen Antwort. Wieder stellten sie sich stur.
Also stellte sie sich auch stur, gab ihnen keine Antworten, ignorierte die physischen und geistigen Tests, die sie mit ihr durchzuführen versuchten. Sie wusste nicht, was sie mit ihr machen würden. Sie hatte Angst, dass man ihr wehtun würde, sie bestrafen würde. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie es riskieren musste, zu handeln, zu versuchen, etwas zu bekommen, und ihr einziges Zahlungsmittel war Kooperation.
Sie bestraften sie nicht, und sie ließen auch nicht mit sich handeln. Sie hörten einfach auf, mit ihr zu sprechen.
Essen erschien weiterhin auf mysteriöse Weise, wenn sie schlief. Wasser floss weiter aus den Hähnen im Bad. Das Licht leuchtete weiter. Doch darüber hinaus gab es nichts, niemanden, keinen Laut, es sei denn, Lilith verursachte ihn, keinen Gegenstand, womit sie sich amüsieren konnte. Es gab nur das Bett- und das Tischpodest, die sich nicht vom Boden lösten, wie sehr Lilith sie auch malträtierte. Flecken verblassten rasch und verschwanden von ihrer Oberfläche. Lilith verbrachte Stunden mit dem vergeblichen Versuch, das Problem zu lösen, wie sie die Podeste zerstören könnte. Dies war eine der Aktivitäten, die ihr half, halbwegs bei Verstand zu bleiben. Eine andere war zu versuchen, die Decke zu erreichen. Nichts, worauf sie sich stellen konnte, brachte sie in Sprungweite. Versuchsweise warf sie eine Schüssel mit Essen – ihre beste verfügbare Waffe – nach ihr. Das Essen spritzte dagegen und verriet ihr, dass die Decke solide war, nicht irgendeine Projektion oder ein Spiegeltrick. Aber vielleicht war sie nicht so dick wie die Wände. Vielleicht war sie sogar aus Glas oder aus dünnem Kunststoff.
Lilith fand es nie heraus.
Sie arbeitete eine ganze Reihe von Gymnastikübungen aus und hätte sie...
Erscheint lt. Verlag | 10.7.2024 |
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Übersetzer | Barbara Heidkamp |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Xenogenesis |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2024 • Afrofuturismus • Black lives matter • BlPOC • die parabel vom sämann • eBooks • Gender • Gender identity • gender roles • Klassiker der Literatur • Neuerscheinung • person of color • Person of Colour • Rassismus • Schwarze Autor*innen |
ISBN-10 | 3-641-31322-8 / 3641313228 |
ISBN-13 | 978-3-641-31322-7 / 9783641313227 |
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