»Wenn du wüsstest, was ich weiß« (eBook)
125 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77907-1 (ISBN)
Die Mauer ist gerade erst gefallen. Im mecklenburgischen Neustrelitz verlässt der 19-jährige Charly Hübner sein Elternhaus im Streit. Er findet Zuflucht am Theater und in der Literatur, liest wie besessen und landet nahezu unumgänglich bei den Jahrestagen von Uwe Johnson. Er taucht darin ein - und sehr lange nicht wieder auf.
40 Jahre nach Johnsons Tod und 90 nach dessen Geburt hat Charly Hübner Johnsons Großwerk als Hörbuch eingelesen. Wieder ist er vollkommen darin eingetaucht und war erstaunt, wie aktuell es nach wie vor ist - literarisch und politisch.
Eher durch Zufall landete die wuchtige Buchclubausgabe der Jahrestage in Charly Hübners neuem Zuhause. Ein dicker Wälzer, der trotz der manchmal sperrigen Sprache und verwinkelten Erzählweise einen so noch nie erlebten Sog auf den damaligen Teenager ausübte. Da erzählte jemand aus dem fernen Sehnsuchtsort New York und verband das wie selbstverständlich mit einer Familiensaga in Mecklenburg - Weltliteratur aus der Heimat quasi.
Aus dem Teenager von damals ist einer der beliebtesten Schauspieler des mehr oder weniger vereinten Deutschland geworden - während Johnson mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist. Zu Unrecht, findet Charly Hübner, denn die Lektüre dieses Autors, eines genauen Beobachters seiner Zeit, der wie kein anderer die Sprache und Denkweise der Menschen um ihn herum zu Papier gebracht hat, ist heute noch aktueller denn je.
Charly Hübner, geboren 1972 in Neustrelitz, ist Schauspieler, Regisseur sowie Sprecher von Hörspielen und Hörbüchern. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Bayerische Fernsehpreis, der Grimme-Preis, der Deutsche Fernsehpreis sowie der Deutsche Hörbuchpreis. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.
1. Versuch
»Ein homerisches Gedächtnis hat dieser Mann.«
Max Frisch
Neulich, ich könnte auch jüngst, kürzlich oder letzthin schreiben, finde aber neulich in seiner unverschämten Schlichtheit einfach sehr schön, neulich also hörte ich mich in einem Gespräch mit zwei Autoren sagen: »Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.«
Eine Übertreibung ohnegleichen.
Auslöser dieser frohen Botschaft war ein Gespräch über Literatur im Allgemeinen und im Zusammenspiel mit Film. Wir diskutierten die unterschiedlichen Erlebniswelten von Buch und Film und versuchten, einen Eindruck zu bekommen, was Literatur heute anders können müsse als im vordigitalen Zeitalter, ob Literatur und Film noch die Kraft hätten, in die Gesellschaft hinein zu wirken, oder ob beides vor allem dem Entertainment und dem Eskapismus dienen solle. Also ein Gespräch, wie man es ab und an in einer Drehbuchbesprechung führt, um zu verstehen, wie modern oder altmodisch man eigentlich selbst so drauf ist und was einen jeweils selbst so antreibt. Und als wir dann gerade anfingen, uns gegenseitig Autorinnen und Autoren vorzustellen, die wir als in jeder Hinsicht überragend und zeitlos empfinden, posaunte ich in die Runde eben den Satz: »Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« – mit dem Beisatz – »wie Homer, Tolstoi und Proust für ihre Zeiten und Länder.«
Danach entstand eine nicht spannungslose Stille. Die Blicke der beiden Autoren froren ein. Ich konnte nicht erkennen, ob sie mir, wovon ich ehrlich gesagt ausging, sofort zustimmen würden oder ob sie mir mit einem Argument um die Ecke kommen wollten, das ich in jedem Fall beinhart würde auskontern können. Der von mir eingebrachte Autor war unantastbar und hielt jeder Attacke stand, da war ich mir ganz sicher.
Aber nichts von beidem geschah.
Die geschätzte Autorin wie ihr ebenso geschätzter Kollege starrten mich einfach nur an. In Sekundenschnelle versuchte ich, ihre Blicke als ratlos, erbost, erschrocken, bekümmert, genervt zu deuten, um dementsprechend angemessen darauf eingehen zu können – aber es brachte nichts, die Stille blieb einfach nur spannungsvoll.
Hatte ich sie düpiert?
Bin ich im Eifer über einen ihrer Sätze rübergeschrammt?
Sie sahen jedenfalls eher empört als bedröppelt aus.
Also begann ich eilig zu relativieren, dass ich a) natürlich nicht mal zwei Drittel aller deutschen Schriftstellerinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts kenne und ich mir, selbst wenn dem so wäre, b) einen Superlativ dieser Art selbstverständlich sparen solle, ja sparen müsse, weil es am Ende ja nicht darum gehen kann, dass unsereins auch noch anfängt, Literatur zu listen oder zu counten. Außerdem sei c) jede schriftstellerische Arbeit per Definition sowieso unique, und es komme d) ja grundsätzlich sehr dämlich daher, wenn man Äpfel mit Birnen, Kirschen oder Autos vergliche. Aber egal welche Formulierung des Relativierens oder der Zurücknahme dieser steilen These ich auch von mir gab, am Ende landete ich immer wieder in einer satzbaulichen Aber-Konstruktion, die Uwe Johnson doch über alles stellen wollte – stellen will.
Ich komme also nicht drum herum zu gestehen, dass etwas in mir diese überspannte Übertreibung als gerechtfertigt ansieht und sich darin auch sehr, sehr sicher ist.
Bewunderung ist etwas, dem ich eigentlich sehr zweifelnd gegenüberstehe. Ich empfinde sie sogar als eine Art Denkfaulheit. Hinter jedem Wunder steht doch in der Regel eine klare Konstruktion, die sich in ihrer Komplexität möglicherweise nicht leicht, aber doch mit Geduld und Neugier erfassen lässt. Im Falle Uwe Johnsons aber setzt in mir in der Regel der Fluchtimpuls Richtung Bewunderung ein, da ich es mit meinen interpretatorischen Fähigkeiten einfach nicht zusammenkriege, wie fein, schlau, brutal, episch, kompliziert, souverän, arrogant und empfindsam Johnson sein Erzählwerk komponierte und ausführte.
Nun hatte ich in den letzten Jahren die Gelegenheit, zwei seiner Romane, Das dritte Buch über Achim und Jahrestage, als Hörbuch einzulesen, was mich mehr oder weniger dazu zwang, diesen Fluchtimpuls zu überwinden und gemeinsam mit dem Regisseur Wolfgang Stockmann in das Johnson’sche Uhrwerk hineinzuschauen.
Ein Anfang war getan, und da es dann auch wirklich großen Spaß bereitete, sich im Sprachwerk Johnsons rumzutreiben, gibt es keinen Grund, jenseits der Auftragsarbeit damit aufzuhören. Und da gerade Zeit vorhanden ist und Uwe Johnson in diesem Jahr, 2024, seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hätte, wäre er nicht vor vierzig Jahren verstorben, gibt es auch noch einen, ich nenne es mal, äußeren Anlass, sich seinem Werk zu widmen.
»Er holte die Geräte aus dem Schrank, schwenkte die Lampe über den Tisch und schaltete ein. Das Zimmer war an den Wänden entlang mit Bücherregalen Schränken Couch Sessel Kochnische bewohnbar, in der Mitte unter dem langen Fenster zur abendlichen nassen Straße hin stand der Tisch, Telefon neben Plattenspieler neben Tonbandgerät, die Schreibmaschine links vorn, der Stuhl konnte auf Rollen bewegt werden. Er schrieb.«
So beschreibt Uwe Johnson das Arbeitszimmer seiner hamburgischen Hauptfigur Karsch in Das dritte Buch über Achim. Hier in meiner provisorischen Uwe-Johnson-Bude sieht es ähnlich aus, nur gibt es noch einen Sessel und eine Couch zum Langmachen. Die Werkstatt eines Freundes, in die ich mich eingemietet habe, liegt in einem Altonaer Hinterhof mit Kopfsteinpflaster, früher wurden hier Fahrräder und Mopeds repariert. Die Zeit zeigt sich im Lauf des Tageslichts, welches durch zwei Dachfenster den Raum durchwandert, während bei aller äußeren Stille in den Lärm der Johnson-Welt hineingehorcht werden kann.
Auf meinem Schreibtisch stehen neben der Johnson-Werkausgabe manche Briefbände samt Interviewsammlungen plus einige biografische Schriften. Da sind die 800-Seiten-Biografie von Bernd Neumann, schlicht Uwe Johnson betitelt, das Buch Eine Reise zu Uwe Johnson, für das Frauke Meyer-Gosau seine Lebensorte besuchte, und die Monografien von Katja Leuchtenberger und Jürgen Grambow, die wissenschaftlich essenziell einen dichten Eindruck vom Leben und Wirken Uwe Johnsons vermitteln. Sie alle will ich einmal nennen, denn das sind Standardwerke, wenn man sich wirklich ausführlich mit dem Leben und dem Schaffen Uwe Johnsons befassen will, und sie werden für dieses Büchlein hier nützliche Quellen und Begleiter sein.
Aber ich bin weder Literaturwissenschaftler noch Biograf, eigentlich eben nur ein Fan, und so kann das hier nur ein kleiner Jubeltext werden, nennen wir es eine Hommage, die sich querfeldein ümmer de Nees lang im Johnson-Kosmos rumtreibt und die eine oder andere Perle ans Licht holen möchte. Mal schauen, was sich da in den Fächern, Kassetten und Büchern so alles versteckt!
Ich könnte nun an dieser Stelle zügig und zielstrebig in die Vollen gehen, den ersten Band der Jahrestage zur Hand nehmen und den Tagebucheintrag »26. Oktober 1967, ein Donnerstag« aufschlagen.
Gesine Cresspahl, die Hauptfigur, liest erst einmal wie an jeden Tag in diesem Roman die neuesten Nachrichten in der New York Times. Das nimmt den ersten Teil dieses Tagesberichts ein. Im zweiten Teil wird dann eine Szenerie geschildert, in der Gesines Vater Heinrich Cresspahl versucht, am 6. März 1933 sein neugeborenes Kind im Rathaus des mecklenburgischen Städtchens Jerichow anzumelden.
Am Tag zuvor war in Deutschland ein neuer Reichstag gewählt worden, und die Nationalsozialisten hatten diese Wahl mit 43 Prozent aller Stimmen gewonnen. Es waren noch am Abend allerorten mehr oder weniger rüde und gewaltvolle Szenen der Machtübernahme gefolgt, die den gesellschaftlichen Lauf der Dinge zum Stehen brachten – so auch in Jerichow. Es wird Heinrich Cresspahl an diesem 6. März folglich nicht gelingen, die kleine Gesine anzumelden, da der »alte« SPD-Bürgermeister Dr. Erdamer unfreiwillig abtreten muss und die »neuen« Volksvertreter der NSDAP das Amt erst noch antreten.
Wie Johnson diese welthistorische...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Biographischer Bezug • BRD • Das dritte Buch über Achim • DDR • Deutsche Literatur • Deutscher Hörbuchpreis 2022 • Deutscher Schauspieler • Feine Sahne Fischfilet • Gesine Cresspahl • Gruppe 47 • Jahrestage • Kommissar Bukow • Literatur • Mecklenburg-Vorpommern • Mutmaßungen über Jakob • Rostock • Sophia der Tod und ich • ST 5433 • ST5433 • suhrkamp taschenbuch 5433 • Uwe Johnson |
ISBN-10 | 3-518-77907-9 / 3518779079 |
ISBN-13 | 978-3-518-77907-1 / 9783518779071 |
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