Mühlensommer (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31288-1 (ISBN)
Martina Bogdahn, geboren 1976 in Weißenburg, ist auf einem Einödhof in Mittelfranken aufgewachsen und hat in Nürnberg Kommunikationsdesign studiert. Sie lebt und arbeitet als Fotografin in München. So oft sie kann, backt sie in der Mühlenbäckerei ihrer Eltern nach alter Tradition Holzofenbrot.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 38/2024) — Platz 20
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- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 18/2024) — Platz 11
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Martina Bogdahn, geboren 1976 in Weißenburg, ist auf einem Einödhof in Mittelfranken aufgewachsen und hat in Nürnberg Kommunikationsdesign studiert. Sie lebt und arbeitet als Fotografin in München. So oft sie kann, backt sie in der Mühlenbäckerei ihrer Eltern nach alter Tradition Holzofenbrot.
Ab Mitte November beginnen in der katholischen Kirche im nächsten Ort die Proben für das Krippenspiel. Meine Eltern, aber vor allem die Oma sind stolz, wenn ich mitspiele, und so bin ich, seit ich mich erinnern kann, an Weihnachten in der Kirche ein Schaf, ein Esel, ein Engel oder ein dicker Wirt.
Die Proben leiten Pfarrer Heubeck und seine Haushälterin Frau Nass. Die kenne ich gut, sie holt jeden Mittwoch bei uns auf dem Hof zwanzig frische Eier für die Pfarrküche, denn der Pfarrer liebt Pfannkuchen. Lautes Knattern und ein stinkender Auspuff melden stets schon aus der Ferne ihre Ankunft. Frau Nass hat nämlich keinen Autoführerschein. Sie besitzt ein hellblaues altes Mofa, und das ist, genau wie seine Besitzerin, ziemlich gut frisiert. Mein Vater schätzt, dass die Maschine bei leicht abschüssiger Strecke eine Spitzengeschwindigkeit von fast 60 km/h erreicht. Und er muss es wissen, schließlich hat er selbst der Frau Nass ein kleines Loch in den Krümmer vom Auspuff gebohrt.
Wie alt sie ist, weiß niemand sicher, denn sie hat zwar kaum Falten in ihrem schmalen Gesicht, aber ihr kunstvoller Haarknoten ist von breiten weißen Strähnen durchzogen. Vielleicht kommt ihre zeitlose Erscheinung auch daher, dass sie Sommer wie Winter ein knielanges Kostüm aus hellblauem Wollstoff trägt. Dieses Kostüm ist ihr Markenzeichen. Wenn es kalt ist, trägt sie unter dem Rock dicke hellbraune Strickstrumpfhosen. Im Sommer ersetzt sie jene durch dünne hautfarbene Kniestrümpfe in 20DEN, die knapp oberhalb der Waden abschließen und so eng sind, dass sich ein schmaler Hautlappen rundherum über den Gummibund wölbt. Dazu eine perfekt gebügelte Bluse mit schmalem Spitzenkragen, und ihr Look ist komplett.
Unsere Oma kennt die Frau Nass noch von früher und meint, dass sie erst zu den Besseren gehört, seit sie dem Pfarrer die Suppe kocht: »Nach oben buckeln, nach unten treten, das kann die Nass, dabei waren ihre Eltern noch viel einfachere Leute als wir. Die hatten rein gar nichts und mussten sich bis an ihr armseliges Ende bei den umliegenden Bauern als Magd und Knecht ihr täglich Brot verdienen. Gott hab sie selig!«
Mir ist egal, was Oma sagt, ich mag die Frau Nass. Immerhin bringt sie mir jede Woche eine Tafel Schokolade mit. Bei der Übergabe streicht sie mir über den Kopf und sagt mit dünner Stimme: »Aber schön teilen, Maria, denn daraus entspringt wahre Freude, so spricht der Herr, unser Gott.«
Ich finde, dass man das nicht so einfach behaupten kann, denn ich würde mich noch viel mehr freuen, wenn ich die Schokolade alleine essen dürfte. Doch dann breche ich die Tafel folgsam in zwei Teile. Ein Drittel ist für Thomas und der Rest für mich.
Mama meint, dass wir nicht so streng mit der Frau Nass sein sollen. Die habe es nie leicht gehabt im Leben, und man könne diesbezüglich auch den Eltern von Frau Nass keinen Vorwurf machen, denn sie wurde zu einer Zeit geboren, in der es bei uns in der Region noch keine exotischen Früchte zu kaufen gab. Und so machte sich keiner am Taufbecken der Frau Nass eine Vorstellung davon, wie schwer es die kleine Anna wegen ihres Namens später einmal haben würde. Niemand wollte mit einer Anna Nass zum Tanzen gehen, auf dem Motorrad herumfahren oder sie, Gott behüte, womöglich sogar heiraten. Der Spott war so laut, dass sich schließlich der Herr Pfarrer ihrer annehmen musste, und so wird die Frau Nass wohl bis an ihr Lebensende eine Kanzelschwalbe bleiben.
Für das diesjährige Krippenspiel werden die Rollen heute Nachmittag im Anschluss an den Kindergottesdienst verteilt. Und diesmal habe ich große Pläne. Ich bin in der vierten Klasse und heiße Maria. Also ich meine, was bitte spricht dagegen, dass ich für die Hauptrolle besetzt werde? Nun ja. Es sind drei Dinge, die dagegensprechen.
Erstens: Die Nachbarin des Mesners, die Daniela mit den schönen roten Haaren, spielt schon, seit sie laufen kann, die Maria.
Zweitens: Danielas Cousin spielt den Josef. Er ist schon vierzehn, inzwischen der größte Ministrant unter allen Ministranten und darf sonntags bei der Eucharistie allein die goldenen Glöckchen läuten, die die Hostie in den Leib Jesu verwandeln.
Drittens: Ihr Vater ist der einzige Arzt in unserer Gemeinde. Er hat sämtliche Schwangerschaften, offenen Beine und Mandelentzündungen diagnostiziert und behandelt. Sein Ansehen ist mindestens so hoch wie das des Bürgermeisters oder das des Pfarrers. Deswegen sprechen die Erwachsenen Daniela auch nicht mit ihrem Vornamen an, sondern nennen sie ganz einfach das Fräulein Doktor.
Heute aber ist mir das egal. Den Text der Maria weiß ich nach all den Jahren sowieso fast auswendig, und singen kann ich wie eine Zaunkönigin. Im Auto auf dem Weg zum Kindergottesdienst verkünde ich Mama stolz meinen Entschluss. Doch anstatt sich darüber zu freuen, wird sie ganz still und antwortet dann ernst: »Such dir lieber eine andere Rolle, Maria. Du weißt doch, wo die Daniela herkommt.«
Wo die Daniela herkommt. Ich schüttle den Kopf, aber ich habe jetzt keine Zeit zu fragen, was sie damit meint. Ich habe es eilig. Ich muss unbedingt pünktlich sein und brauche einen Platz ganz vorn, denn Frau Nass hat mich beim letzten Eierkauf mehrmals erinnert: »Wehe, wer an dem Tag zu spät kommt, der bekommt nicht einmal eine halbe Zeile Text und wird an Heiligabend höchstens ein Esel.«
Die Kinder, die beim Krippenspiel mitmachen wollen oder müssen, sollen heute nach der Andacht noch etwas länger in der Kirche bleiben, und so bleiben eigentlich alle Kinder nach dem Schlusssegen einfach sitzen. Die Jungen und Mädchen, die nicht zum ersten Mal am Krippenspiel teilnehmen, versuchen möglichst gelangweilt auszusehen. Die Neulinge dagegen sitzen unsicher auf den Bänken, rutschen nervös hin und her, tuscheln aufgeregt miteinander. Ich kann das Fräulein Doktor nirgends entdecken. Kann es denn sein, dass sie dieses Jahr gar nicht mitmachen will?
Wenige Minuten nach dem Gottesdienstende öffnet sich die Tür der Sakristei. Der Pfarrer schreitet mit wichtiger Miene vom Altar zu den Kirchenbänken herab, dicht gefolgt von Frau Nass, die eine große lederne Mappe unterm Arm trägt und zischend darum bittet, dass wir uns still und andächtig melden sollen, sobald der Herr Pfarrer eine Rolle aufruft, die wir übernehmen möchten.
Er beginnt mit den Figuren ohne Text, die Tiere der heiligen Nacht. »Wer möchte ein Schaf, einen Ochsen oder einen Esel spielen?« Der Pfarrer räuspert sich. »Hier melden sich bitte nur Kinder unter acht Jahren und alle Kinder aus der Hauptschule.«
Schnell sind zwei Ochsen, ein Esel und sieben Schafe gefunden, die augenblicklich damit beginnen, sich in Tierlauten miteinander zu verständigen. Bei der nächsten Runde sucht er nach den Hirten, denen auf dem Feld die Engel begegnen. Da wählt der Pfarrer dieses Jahr ausnahmslos Kinder mit einer glatten Eins in Religion, denn letztes Jahr mussten die Hirten während der Probezeit mehrmals neu besetzt werden, da sie von einer Art Lachzauber besessen waren.
Es begann damals, glaube ich, schon bei der zweiten Probe. Um ganz genau zu sein, beim ersten Einsatz der Engel, als diese auf Zehenspitzen und mit gerafften Kleidern in den abgedunkelten Altarraum hineingeschlichen sind. Da steht nämlich im Textbogen folgender Satz, den der kleinste Hirte zu sagen hat: Ihr Hirten, hört ihr das in der Stille?
Und in genau dieser Stille hat der dicke Gerhard aus der dritten Klasse einen so lauten Furz gelassen, dass für einen Moment die Luft im ganzen Altarraum gezittert und dann schrecklich gestunken hat. Wir drehten uns alle zu Gerhard um, bevor nur einen Wimpernschlag später die Hirten, Ochsen, Schafe und der Esel gleichzeitig losbrüllten und überhaupt nicht mehr aufhören konnten, sich vor Lachen zu schütteln. Das Lachen war ansteckend. Man konnte einfach nicht anders. Die Situation geriet binnen weniger Minuten völlig aus dem Ruder, und der Pfarrer versuchte verzweifelt, die Meute zu beruhigen. Er klopfte mit dem Knöchel seines rechten Zeigefingers wieder und wieder auf die Holzablage der ersten Kirchenbank und bat lauthals um Ruhe. Erst als Frau Nass wild entschlossen die goldenen Glöckchen der heiligen Eucharistie an sich riss und schüttelte, wurde es für einen Augenblick still. Alle Kinder bekreuzigten sich und schauten für einen Moment ratlos umher. Dann wurde weitergelacht.
Die Probe musste schließlich vorzeitig abgebrochen werden, weil es kein Kind mehr schaffte, auch nur einen einzigen vollständigen Satz aufzusagen. Und bei jedem weiteren Treffen fing bei Ihr Hirten, hört ihr das in der Stille? das ganze Spektakel von Neuem an. Auf dem Heimweg im Auto hat mir nach jeder Probe das Zwerchfell so wehgetan, dass ich kaum gerade sitzen konnte, und ich erklärte meinem Vater: »Bei uns in der Kirche wird mehr gelacht als im Alten und Neuen Testament zusammen.«
Wie bei einem außer Kontrolle geratenen mittelalterlichen Dorfgelage schlugen sich die Wirte, Hirten, Engel und Tiere schreiend und lachend gleichzeitig, fast so als hätten sie den Verstand verloren, auf die Oberschenkel. Japsend versuchten wir, in den kurzen Lachpausen unseren Text zumindest bruchstückhaft ins Mikrofon zu haspeln, bis irgendjemand sich bedeutungsvoll die Nase zuhielt, was zu erneuten Lachsalven und Unterbrechungen führte.
Der sonst so sanfte Gesichtsausdruck des Pfarrers verwandelte sich, je näher das Weihnachtsfest rückte, in eine scharf geschnittene Maske. Das sahen nicht nur wir, sondern auch Frau Nass. War sie als Haushälterin auf dem Papier nur für das irdische Wohl ihres Arbeitgebers zuständig, so machte sie sich nun doch auch um den Rest so ihre...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Als Großmutter im Regen tanzte • Alte Sorten • Atmosphäre • Bäckerei • Bauernhof • Bayern • Brot • Brotbacken • Buchgeschenk • der große sommer • Deutsche Belletristik • Deutsche Literatur • Dorf • Dorfkindheit • Dorfleben • Eltern • Entschleunigung • Entspannen • Erbe • Erbschaft • Erholung • Ernte • Erwachsenwerden • Ewald Arenz • Familiengeheimnis • Familienroman • Geschenk zum Muttertag • Geschwister • Heimat • Herbstmilch • Hof • Holzofenbrot • Hopfen • Kindheit • Landleben • Mäusleinsmühle • Mittelfranken • Monika Peetz • Mütter • Sommer • Sommerferien • Thees Uhlmann • Töchter • Urlaubslektüre |
ISBN-10 | 3-462-31288-X / 346231288X |
ISBN-13 | 978-3-462-31288-1 / 9783462312881 |
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