Orkantief (eBook)

Ein Ostsee-Krimi
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1020-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Orkantief -  Susanne Bergstedt
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Als in einer Sturmnacht im verwilderten Garten des leerstehenden Gutshauses Holthusen in Kiel-Schilksee eine alte Eiche auseinanderbricht, offenbart sich Schreckliches: In dem hohlen Baumstamm kommen die sterblichen Überreste des seit drei Jahren vermissten Kalli Holthusen zum Vorschein. Von einem Moment auf den anderen war der Sechsjährige wie vom Erdboden verschluckt, die Ehe seiner Eltern Anne und Clemens zerbrach darüber. Zu allem Unglück kann niemand der Mutter vom Auffinden Kallis berichten, denn auch Anne Holthusen ist seit der Trennung verschwunden. In die damals angemietete Wohnung ist sie nie eingezogen, und nicht einmal engste Freunde und Familienangehörige wissen, wo Anne steckt. Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, das wittern Telse Himmel und Wanda Holle sofort. Weil sich Wandas Nachbar, der Kriminalkommissar Olaf Wuttke, hartnäckig weigert, aktiv zu werden, ermitteln die findigen Freundinnen auf eigene Faust. Ihre Suche führt die Hobby-Detektivinnen unter anderem in ein Besetzercamp gegen Bauvorhaben im Olympiahafen und zur schrulligen Ex-Nachbarin der Holthusens. Und schließlich machen sie eine Entdeckung, die sie niemals erwartet hätten.

SUSANNE BERGSTEDT ist Diplom-Designerin, ehemalige Bild-redakteurin eines Kunstmagazins und lebt in Kiel-Schilksee an der Ostsee. >Orkantief< ist nach >Quallenplage< (DuMont 2023) der zweite Fall für das Ermittlerinnen-Duo Himmel und Holle.

1

»NOCH KEINER DA. Wir haben unsere Wellnessoase für uns allein.« Renate Mehring lehnte sich über das Geländer und musterte zufrieden den menschenleeren Strand zu ihren Füßen. »Das Wasser dürfte heute perfekt temperiert sein.« Sie ließ ihren Leinenbeutel fallen, streckte die Arme in die Luft und dehnte sich ausgiebig. Der Gürtel ihres Bademantels lockerte sich dabei und ließ einen schon etwas ausgeleierten geblümten Badeanzug hervorblitzen.

»Erst mal testen.« Gisela Frentrup gesellte sich neben ihre Freundin auf den Treppenabsatz und warf einen misstrauischen Blick auf das Meer. »Bisher sind wir nicht gerade mit Badewannentemperaturen verwöhnt worden. Der Sommer war einfach nur grässlich.« Sie musste jedoch zugeben, dass die Ostsee an diesem Morgen Karibik spielte. Das Wasser schimmerte türkisgrün, und das übliche Strandgeröll war über Nacht von einer gnädigen Schicht Sand verdeckt worden. Der September wollte auf den letzten Metern noch etwas gutmachen.

»So, jetzt aber los.« Renate klopfte sich auf den Bauch. Nur vom Hingucken werden die Speckröllchen nicht kleiner.« Sie ergriff ihren Beutel und machte sich daran, die fünfzehn Meter hohe Steilküstentreppe hinabzusteigen.

»Bei mir rollt sich nichts. Da schlabbert nur zu viel Haut«, widersprach Gisela, während sie ihr folgte.

Direkt an der Wasserkante markierten drei von Eiszeitgletschern rund gescheuerte Findlinge ihre bevorzugte Badestelle. In erster Linie hatten die Freundinnen den Platz gewählt, weil sich die Steine vorzüglich als Kleiderablage eigneten. Obwohl es nicht viel abzulegen gab. Wenn sie jeden Morgen zusammen schwimmen gingen, machten sie sich gleich in Bademantel und Gummischlappen auf den Weg. Das galt in Schilksee durchaus als vollwertige Straßenkleidung, zumindest im Sommerhalbjahr.

Gisela lehnte sich gegen den dicksten Felsen von der Größe eines Elefantenbabys und ließ den Blick über die Wasseroberfläche wandern. Dann schloss sie die Augen und rollte ein paarmal zur Lockerung die Schultern. Was für ein perfekter Tagesanfang!

Ein Aufstöhnen durchbrach die Idylle.

»So ein Schiet, alles voll mit den Mistdingern! Ich hatte gehofft, das bleibt uns dieses Jahr erspart.«

Gisela öffnete die Augen und sah, wie Renate mit angewidertem Gesichtsausdruck auf etwas Undefinierbares zu ihren Füßen deutete. Ihr schwante Böses. »Was ist denn los?«

»Na, die Glibberdinger hier. Hast du die noch nicht bemerkt? Der ganze Strand ist voll davon.« Die Freundin hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

Gisela senkte ihren Blick auf Renates Füße und ließ ihn dann weiter den Wassersaum entlangschweifen. Jetzt erst erkannte sie die verräterischen Beulen, die im angespülten Seegras glänzten. Ihre Mundwinkel sackten augenblicklich herunter.

»Oh nein.«

Quallenalarm! Aber nicht etwa wegen harmloser Ohrenquallen, von denen ließ sie sich schon lange nicht mehr stören. Was hier gestrandet war und schon als Fliegenfutter diente, waren eindeutig Feuerquallen. Es mussten Hunderte sein, die seit letzter Nacht ihr Leben gelassen hatten und nun am Strand vor sich hin verwesten. Die meisten waren klein, nur etwa handtellergroß, deshalb hatte sie die Weichtiere vorhin nicht bemerkt. Aber eins wusste sie genau: Wo kleine Exemplare auftauchten, waren auch ausgewachsene Feuerquallen nicht weit. Und die hatten gewöhnlich die Ausmaße eines handelsüblichen Klodeckels. Eines Klodeckels mit meterlangen, giftig brennenden Nesselfäden.

Gisela merkte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Renate hatte sich schon wieder gefasst, zog mit entschlossenem Griff ihren Bademantel aus und warf ihn auf den nächstliegenden Findling. »Sind doch nur kleine, von denen lasse ich mir das Schwimmen nicht vermiesen.« Sie blickte zu ihrer Freundin, die mit misstrauisch verengten Augen die Wasseroberfläche musterte und von einem Fuß auf den anderen trat. »Was ist nun, kommst du?« Als keine Reaktion erfolgte, zuckte sie mit den Schultern. »Dann eben nicht, Bangbüx. Bis gleich.« Beherzten Schrittes stapfte sie ins Wasser und begann nach ein paar Metern mit kräftigen Stößen aufs Meer hinauszuschwimmen.

»Ich warte hier!«, rief Gisela ihr hinterher, obwohl das unnötig war. Schließlich kamen und gingen sie immer gemeinsam. Sollte Renate sie ruhig für einen Angsthasen halten, bei Quallenalarm setzte sie keinen Fuß ins Wasser. Einmal hatte sie Bekanntschaft mit so einem roten Prachtexemplar gemacht, das reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Gisela wusste nicht mehr, wie sie damals aus dem Wasser gekommen war, nur, dass das höllische Brennen an Armen und Brust einfach nicht hatte aufhören wollen. Auf eine Wiederholung dieser Erfahrung konnte sie gerne verzichten. Bestimmt war morgen der ganze Spuk schon wieder vorbei.

Renate hatte binnen kurzem ihren Rhythmus gefunden und schwamm mit gleichmäßigen Zügen Richtung Kieler Leuchtturm. Wie alle Tage benutzte sie das rot-weiße Lichtzeichen mitten in der Bucht als Zielpunkt. Sie fand es schade, dass sie nicht zu zweit im Wasser waren, das machte einfach mehr Spaß. Wie konnte man nur so eine panische Furcht vor Feuerquallen haben? Wenn die Strömung die Tiere an den Strand spülte, sammelte sich halt schnell eine Menge an. Schon ein bisschen weiter draußen war das Meer quallenfrei, wie sie befriedigt feststellte.

Renate schwamm kraftvoll, tauchte ab und zu unter kleinen Wellen hindurch und genoss die erfrischende Kühle. Als sie sich kurz verschluckte und wie eine auftauchende Robbe prusten musste, blickte sie zurück Richtung Strand. Sie war schon viel weiter draußen, als sie gedacht hatte. Bei den Findlingen erkannte sie einen hellen Fleck. Aha, ihre Freundin entspannte gemütlich in der Sonne. Na, was die konnte, konnte sie selbst schon lange. Sie drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen und ließ sich mit ausgebreiteten Armen treiben. Kleine Verschnaufpause vor dem Rückweg.

Die Dünung schaukelte sie sanft auf und ab. Möwen riefen sich Neuigkeiten zu. Es roch nach Salz und Tang, und das Wasser gluckerte leise. Zutiefst entspannt fühlte sie sich eins mit der Welt und seufzte vor Wohlbehagen.

Der Ruck kam vollkommen unerwartet. Der Schmerz ebenfalls.

Renate schluckte Wasser, strampelte und ruderte mit den Armen. Ihr Kopf dröhnte, und ihre Gliedmaßen brannten mit einem Mal wie Feuer. Voller Panik starrte sie um sich. Die Wasseroberfläche schien plötzlich lebendig geworden zu sein.

Augenblicklich raste ihr Herzschlag. Heilige Scheiße, sie war in einen Feuerquallenschwarm geraten!

Mit Entsetzen sah sie unzählige feine Nesselfäden wie ein giftiges Spinnennetz auf ihren Armen kleben. In der gleichen Sekunde versuchte sie schon, die Tentakel durch hektisches Schütteln loszuwerden. Natürlich vergeblich. Stattdessen wurde der Schmerz bei jeder Bewegung intensiver.

Jetzt brannte auch noch ihr Gesicht wie von Peitschenhieben getroffen. Ihr Körper wand sich, krampfte, wollte der Qual entkommen und schaffte es nicht. Die Feuertiere waren überall. Salzwasser stieg in ihre Nase, sie bekam keine Luft mehr. Sie fühlte, wie Panik in ihr hochstieg. Ruhig bleiben, um Himmels willen, ruhig bleiben!

Ihr Gehirn spendierte eine großzügige Dosis zusätzliches Adrenalin, schaltete in den Überlebensmodus und riet dringend zur Flucht.

Plötzlich funkte eine Irritation zwischen ihre Kopfschmerzen. Da war etwas gewesen, das nicht stimmte. Aber was?

Renate zwang sich mit größter Willenskraft, ihre Atmung zu kontrollieren und nicht mehr wie wild mit den Armen zu fuchteln. Auf einmal war die innere Störmeldung ganz klar: Wieso hatte sie sich an den Feuerquallen den Kopf gestoßen? Das war nicht möglich. Diese Höllenwesen bestanden zu neunundneunzig Prozent aus Wasser. Eine abgerissene Planke? Sie biss die Zähne zusammen, versuchte, den Schmerz zu ignorieren, und spähte hinter sich. In der Tat, keine fünf Meter entfernt trieb etwas im Wasser. Wie ein Holzbrett wirkte es nicht. Es schien zwar groß und lang zu sein, hatte aber eine unregelmäßige Oberfläche mit Wölbungen.

Renate kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. Das seltsame Objekt dümpelte in ihre Richtung. An einem Ende schien ein Büschel Algen angewachsen zu sein, in dem sich eine Qualle verfangen hatte. Eine Möwe segelte heran, stieß ein scharfes Krächzen aus und ließ sich auf dem Ding nieder. Dann begann sie, mit harten Schnabelhieben zu picken.

Renates Augen tränten, das Brennen im Gesicht und an den Gliedern machte sie fast wahnsinnig. Aber jammern war zwecklos, hier draußen konnte ihr niemand helfen. Unter Mobilisierung aller Kräfte versuchte sie, wieder in einen Schwimmrhythmus zu kommen. Sie riss sich zusammen, blinzelte und fixierte den Strand. Weiterschwimmen, immer weiter, nur nicht aufhören.

Das unförmige Treibgut kam schräg von der Seite auf sie zu. Vermutlich eine alte Palette, die irgendwo von Bord gerutscht war. Renate konnte kaum etwas erkennen. Tränen und Salzwasser verschleierten ihren Blick. Alles voller Rotalgen an dem dicken Holz. Und natürlich wieder Feuerquallen, verdammter Mist. Da musste sie jetzt schnell dran vorbei. Nun war das Ding ganz nah, aber fast hatte sie es geschafft. Als sie auf gleicher Höhe war, drehte Renate den Kopf, um einen kurzen Blick auf das Objekt zu werfen. Und erstarrte in ihrer Bewegung.

Das waren keine Rotalgen. Das waren Haare. Lange rote Haare, die sich träge im Rhythmus der Dünung bewegten.

Renate schrie nicht. Ein einziger Gedanke füllte ihr Hirn aus: Das ist jetzt nicht wahr. Das kann nicht wahr sein. Das muss eine Sinnestäuschung sein.

Mit nahezu übermenschlicher Willenskraft zwang sie sich zu einem zweiten Blick. Es war kein Zweifel möglich. Sie badete...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2024
Reihe/Serie Himmel und Holle ermitteln
Himmel und Holle ermitteln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Agatha Christie • Amateurdetektiv • Charmant • Cosy Crime • Eifersucht • Erholung • Familiendrama • feelgood • Gemütlich • Humor • im besten Alter • Kiel • Klaus-Peter Wolf • Krimi • Meer • Ostsee • Quallenplage • Reise • Schilksee • Seegras • Seepferdchen • Sommer • Spannung • Sturm • Tatort • Telse • Unterhaltung • Urlaubskrimi • Wanda • witzig
ISBN-10 3-7558-1020-4 / 3755810204
ISBN-13 978-3-7558-1020-9 / 9783755810209
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